Mord im Kurs und 9 andere Krimis

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Eine Villa in Berlin Charlottenburg, ein Ferienhaus mit Aussicht auf einen idyllischen See, nur einen Katzensprung vom Zentrum der Hauptstadt entfernt… Zumindest, wenn nicht gerade ein akuter Verkehrsinfarkt die Stadt lahmlegte oder man klug genug war, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen.

Aber wer ist schon klug?

Dr. Anton F. Kwatlowski fand, dass er es in den letzten Jahren zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Und das, obwohl er keinesfalls Schönheitschirurg oder Zahnarzt war - sondern Tiermediziner. Und die standen normalerweise vom Einkommen her an unterster Stelle der medizinischen Zunft, es sei denn, sie hatten sich auf das Kurieren kleinerer Wehwehchen von millionenschweren Rennpferden spezialisiert. Aber zu diesen Kreisen hatten Kwatlowski die Beziehungen gefehlt.

Er atmete tief durch, blickte über den mustergültig gepflegten Garten seiner Villa.

Hier war kein Grashalm an der falschen Stelle. Ein Gärtner kam regelmäßig dreimal die Woche, um alles in Ordnung zu halten und darüber hinaus die zahlreichen und häufig wechselnden gärtnerischen Sonderwünsche von Frau Kwatlowski zu erfüllen.

Alles, was du hier siehst, wird dir vielleicht schon bald buchstäblich unter den Fingern zerrinnen!, ging es Kwatlowski grimmig durch den Kopf. Der Puls schlug ihm bis zum Hals. Nein, du hast einfach zu lange dafür gekämpft, um jetzt aufzugeben! Jetzt musst du dir etwas überlegen, dich vielleicht sogar mit sehr harten Bandagen durchzukämpfen.

Kwatlowski zuckte zusammen, als ihn von hinten eine Hand an der Schulter berührte.

"Was ist?", drang die Stimme seiner zweiten Ehefrau Veronika in sein Bewusstsein.

Kwatlowski drehte sich ruckartig zu ihr herum. Sie war Anfang dreißig, er Anfang fünfzig. Ihr Gesicht war feingeschnitten mit hohen Wangenknochen. Das dunkle Haar fiel ihr bis weit über die Schultern. Zwei feste Brüste pressten sich gegen den enganliegenden Stoff ihres Pullovers. Manchmal musste er aufpassen, um sie nicht mit 'Franziska' anzureden - dem Namen seiner ersten Frau. Im Grunde war Veronika eine Art verjüngte Ausgabe seiner ersten Frau.

"Es ist nichts", behauptete Kwatlowski.

"Du schwitzt ja!"

"Ja, mein Gott..."

"Du siehst ja ganz blass aus!"

"Warum sagst denn nichts? Hängt das vielleicht mit dem Reporter zusammen, der vorhin hier war?"

Kwatlowski lächelte breit. "Das war nur ein Wichtigtuer", meinte er. "Der ist nur auf Skandale aus."

"Skandale? Was will er denn dann von dir?"

"Ach, du kennst das doch. Da ist irgendwo mal wieder hormonverseuchtes Fleisch aufgetaucht und jetzt wollte dieser Kerl meine Meinung dazu wissen."

"Das war alles?"

"Ja, verdammt nochmal."

"Anton! Nun hab dich doch nicht so! Man wird ja wohl mal nachfragen dürfen."

Kwatlowski atmete tief durch. "Mir geht es heute nicht besonders gut. Muss wohl am Wetter liegen. Ich glaube, ich lege mich ein bisschen hin. Nachher habe ich nämlich noch einen wichtigen Termin..."

"Wollten wir heute Abend nicht in die Oper?"

"Ja schon, aber..."

"Das wird also nichts!"

"Nicht traurig sein. Geh ruhig allein hin oder nimm deine Freundin Karin mit, damit die Karte nicht verfällt!"

Kwatlowski ging an ihr vorbei, trat dann durch die Terrassentür ins Haus.

In seinem Hirn arbeitete es fieberhaft.

Ich lasse mir meine Existenz nicht zerstören!, hämmerte es in ihm. Um keinen Preis...

4

Zwei Stunden später wählte Kwatlowski vom Anschluss im Schlafzimmer aus eine Handynummer, die er von einer Visitenkarte ablas.

Es war die Karte des Journalisten.

"Hier Tom Balthoff", meldete sich eine sonore Stimme.

Tom Balthoff, freier Mitarbeiter verschiedener Boulevardblätter und neuerdings Erpresser, so ging es Kwatlowski zynisch durch den Kopf. Aber in dem Job bist du ein Anfänger, Balthoff! Also sieh dich vor!

"Ich bin's, Dr. Kwatlowski", meldete sich der Veterinär.

"Sie haben sich die Sache also überlegt", stellte Balthoff fest. Er lachte heiser. Seine Stimme war rau vom übermäßigen Alkoholgenuss. Auf den Parties, die er besuchte, nahm er beinahe jedes volle Glas mit, das ihm hingehalten wurde. Seine Leberwerte mussten entsprechend sein. Und die Zahl der abgestorbenen Hirnzellen hatte mit Sicherheit jenen Wert überschritten, der ihn noch hätte hoffen lassen können, dass aus ihm eines Tages doch noch ein seriöser Feuilletonist wurde.

"Hören Sie, Balthoff..."

"Ich will eine Million! Darüber lasse ich auch nicht mit mir handeln. Andernfalls können Sie auf den Titelseiten Ihren Namen und Ihr Bild sehen. Vielleicht mit folgender Überschrift: DER HORMON-DOKTOR ENTLARVT! NEUER SKANDAL IN DER SCHWEINEMAST!"

"Woher soll ich eine Million nehmen?"

"Beleihen Sie Ihre Villa oder verkaufen Sie Ihr Ferienhaus am See..."

"Sie sind gut informiert."

"Vergessen Sie das nie, Dr. Kwatlowski. Vergessen Sie das nie...."

"Angenommen ich zahle Ihnen eine Million. Wer garantiert mir, dass Sie nicht weitere Forderungen stellen."

"Was haben Sie nur für eine schlechte Meinung von mir."

"Ja wohl nicht ganz unbegründet, oder?"

"Kwatlowski, Sie können von Glück sagen, wenn Sie aus dieser Sache mit einigermaßen heiler Haut herauskommen. Jahrelang sind Sie von Bauernhof zu Bauernhof gereist und haben Ihre illegalen Medikamentencocktails verkauft. Eine Art Dealer für Junkie-Schweine..." Er kicherte. "Ich kann alles belegen. Ich habe Unterlagen, Fotos, Proben..."

"Ich muss dieses Beweismaterial haben, wenn ich Ihnen eine derart große Summe zahle."

"Dann legen Sie noch eine halbe Million drauf und wir sind handelseinig."

"Sie sind unverschämt."

"Ich kann rechnen, Dr. Kwatlowski. Sie haben mit Ihren Wundermitteln in den letzten Jahren ein Mehrfaches davon eingenommen. Alles, was ich verlange ist ein gerechter Anteil."

Innerlich kochte Kwatlowski.

Alles in ihm krampfte sich zusammen. Er bemerkte, dass seine Hand zu zittern begann. Wenn er jetzt vor mir stünde!, durchzuckte es ihn. Er hätte dann für nichts garantieren können... Durch regelmäßiges Atmen versuchte er, sich wieder zu beruhigen.

Er musste einen kühlen Kopf bewahren.

Eiskalt reagieren.

Nur dann hatte er eine Chance, den Hals aus der Schlinge zu ziehen.

"Ich bin mit Ihren Bedingungen einverstanden", brachte er schließlich über die Lippen.

"Freut mich, das zu hören."

"Aber Sie dürfen mich nie wieder in meiner Villa besuchen! Haben Sie gehört?"

"Sorry, Doc." Tom Balthoff lachte heiser, hustete dann. Vermutlich Raucherhusten, diagnostizierte Kwatlowski. Leider nicht tödlich genug. Der Exitus würde noch zu lange auf sich warten lassen, als dass man einfach so darauf hätte warten können.

Manchmal war die Natur aber auch schrecklich langsam!

Kwatlowski sagte: "Wir müssen uns treffen. Sie bringen die Beweismittel mit und ich..."

"Die anderthalb Millionen", schnitt Balthoff ihm das Wort ab.

Kwatlowski nickte.

"In bar, nehme ich an."

Tom Balthoff nickte ebenfalls.

"Wäre mir lieb."

"Okay."

"Tja, dann…"

"Samstag in einer Woche. Vorher kriege ich das mit meiner Bank nicht zurecht."

"Gut. Aber keinen Tag länger."

"Nun zum Treffpunkt. Mein Ferienhaus kennen Sie ja bereits."

"Ja."

"Kommen Sie nächsten Samstag gegen 17.00 Uhr dort hin. Dort sind wir ungestört."

"Einverstanden."

5

Kommissar Harry Kubinke und sein Kollege Rudi Meier betraten das Büro ihres direkten vorgesetzten Kriminaldirektor Bock.

Bock stand mit beiden Händen in den Taschen seiner weiten Flanellhose da. Seine Hemdsärmel waren hochgekrempelt. Die Krawatte hing ihm wie ein Strick um den Hals.

"Guten Morgen", sagte Bock.

"Guten Morgen", murmelten Kubinke und Meier.

Nur wer Kriminaldirektor Bock sehr gut kannte, sah, dass er wahrscheinlich die ganze Nacht durchgearbeitet und noch nicht geschlafen hatte.

Harry Kubinke arbeitete lange genug mit ihm zusammen, um das erkennen zu können. Es waren Kleinigkeiten, die Bock verrieten. Aber man muss schon zugeben, dass er das sehr gut zu verbergen versteht, dachte Kubinke. Er bewahrt Haltung, selbst dann, wenn er vor Müdigkeit auf der Stelle einschlafen würde, falls ein Bett, eine Liege oder auch nur ein einigermaßen bequemer Sessel zur Verfügung stehen würde!

Aber die bequemen Sessel hatten Rudi Meier und Harry Kubinke jetzt besetzt.

Und Kubinke hätte es irgendwie als unpassend empfunden, seinen Platz Kriminaldirektor Bock anzubieten, vielleicht noch garniert mit dem Vorschlag, doch ein kleines Nickerchen zu halten.

"Wir vom BKA ermitteln ja schon seit geraumer Zeit gegen eine Organisation, die die landwirtschaftlichen Betriebe rund um Berlin mit illegalen Tiermedikamenten versorgt", sagte Bock.

"Drogen für Kühe", sagte Kubinke.

"So könnte man es auf den Punkt bringen", gab Kriminaldirektor Bock zu. "Wir wurde gebeten, die Kollegen der Kriminalpolizei zu unterstützen, zumal sich bei den bisherigen Ermittlungen herausgestellt hat, dass es da wohl gewisse, weitverzweigte mafiöse Strukturen gibt. Organisierte Verbrechen im großen Stil. Und im Zentrum dieser Machenschaften steht mutmaßlich ein sehr umtriebiger Tierarzt."

 

Kriminaldirektor Bock betätigte den Beamer seines Laptops.

Wir sahen auf der Projektion an der Wand ein Gesicht.

Lachend.

Zufrieden.

Im Hintergrund war ein Ferienhaus.

"Er heißt Anton Kwatlowski", sagte Kriminaldirektor Bock. "Eine Villa in Charlottenburg, ein Ferienhaus am See… Er dürfte der mit Abstand geschäftstüchtigste Veterinär sein, der mir je untergekommen ist", meinte Bock.

6

Dr. Anton Kwatlowski fuhr die Straße mit geradezu halsbrecherischem Tempo entlang. Es war Samstag Mittag. Veronika hatte etwas herumgemeckert, als er ihr offenbart hatte, dass er das Wochenende im Ferienhaus verbringen wollte. Schließlich war er sogar das Risiko eingegangen, ihr anzubieten, ihn doch zu begleiten. Das hatte sie während ihrer bislang vierjährigen Ehe nur ein einziges Mal getan und sich dabei schrecklich gelangweilt. Wandern und die stundenlange Angelei im nahegelegenen See - das war alles nicht ihr Fall. Sie doch ganz eindeutig eine Stadtpflanze und kein Landei. Für Natur hatte sie nichts übrig.

Aber Anton Kwatlowski brauchte ab und zu diese Einsamkeit und Ruhe.

Er erinnerte sich noch ganz genau, wie er das Haus zum ersten Mal gesehen hatte. Er war auf dem Weg zu einem Kunden gewesen, dessen Viehbestand er mit einem Koffer voller wachstumsfördernder Mittel versorgt hatte. Für viele der Bauern und Genossenschaften war die Situation prekär. Mit den großen Agrarfabriken andernorts konnten sie nicht mithalten, weder im Preis noch in der Menge. So mussten die Tiere eben schneller wachsen und dabei immer noch nach Möglichkeit den Eindruck machen, als ob sie unter glücklichen Umständen ihr kurzes leben gefristet hatten. Verluste waren tabu. Es wurde gespritzt, was das Zeug hielt, beziehungsweise der Koffer des Hormon-Dealers hergab.

Von einem seiner Kunden, dem Klaus Wendlinger, dem einer der größten Höfe in der Umgebung gehörte, hatte Kwatlowski seinerzeit den Tipp bekommen, sich das Haus mal anzusehen. Es hatte kurz vor der Zwangsversteigerung gestanden. Den Preis, den Kwatlowski dafür hatte ausgeben müssen, war geradezu lächerlich, wenn man bedachte, dass die Gegend touristisch gut erschlossen war.

Kwatlowski hing seinen Gedanken nach, blickte zwischendurch immer wieder nervös auf die Uhr.

Er hatte einen Plan.

Einen Plan, der mit Tom Balthoffs Tod enden würde. Aber bevor er das Ferienhaus erreichte, gab es noch einiges, was Kwatlowski vorzubereiten hatte.

Plötzlich musste Kwatlowski mit aller Gewalt in die Bremse seines champagnerfarbenen Mercedes SLK treten. Die Reifen quietschten. Von der Seite ergoss sich ein Strom von hunderten von Schafleibern auf die Fahrbahn. Sie blökten durcheinander. Einige wichen vor dem SLK erschrocken zurück und stießen dabei ihre Artgenossen um. Ein Chaos entstand. Mittendrin, wie ein Fels in der Brandung, stand der Schäfer mit hochrotem Kopf und wütendem Gesicht.

Er nahm seinen Filzhut ab, knitterte ihn in der Faust zusammen und brüllte Kwatlowski wütend an. Da der Tierarzt das Verdeck seines SLK auf Grund des sonnigen Frühlingswetters zurückgeklappt hatte, konnte er jedes Wort verstehen. Und das, obwohl ein Hirtenhund andauernd dazwischen bellte.

"Was fällt Ihnen ein! Verflucht noch einmal! Wie kann einer nur so bekloppt sein und nicht aufpassen, was über die Straße herüberkommt!"

"Hätten Sie nicht aufpassen können!", rief Kwatlowski zurück.

Er kannte den Hirten.

Claus Störtemeier hieß er und war in der gesamten Gegend als eine Art Faktotum bekannt. Allerdings auch als Verbreiter von Neuigkeiten und Gerüchten.

Das hat mir gerade noch gefehlt, dass mir der über den Weg läuft!, ging es Kwatlowski ärgerlich durch den Kopf. Dieser Quasselkopf würde überall herumerzählen, dass der allseits bekannte Tierarzt mal wieder in der Gegend war und das Wochenende in seinem Ferienhaus verbrachte.

Einige Sekunden lang dachte Kwatlowski darüber nach, ob er das ganze Unternehmen nicht abblasen sollte.

Er dachte an die Polizei, an die Fragen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn...

Nein, du stehst das jetzt durch!, forderte er sich dann selbst auf. So etwas wie absolute Sicherheit gibt es nicht, Anton Kwatlowski! Auch für dich nicht! Du musst das Risiko eingehen, wenn du nicht sehenden Auges in den Abgrund springen willst!

"Geht das nicht ein bisschen schneller?", schrie Kwatlowski dem Hirten dann entgegen.

Dann hupte er, worauf die Schafe aufgeregt blökten und der Hirtenhund sich in seiner bis dahin unumstrittenen Autorität bedroht fühlte.

"Ja, ist dieser Herr Veterinär jetzt vielleicht vollkommen verrückt geworden?", brüllte Claus Störtemeier jetzt zurück. "Macht mir die Tiere auch noch verrückt!"

"Ich hab's eilig!"

"Mann, das dauert halt ein bisschen!"

Fast eine Viertelstunde dauerte es, bis alle Tiere endlich über die Straße gelangt waren.

Kwatlowski ließ den Motor des SLK aufheulen und brauste davon. Wenig später erreichte er das schmucke Holzblockhaus. Er parkte den SLK und stieg aus.

Tief sog er die klare Luft in sich auf. Man hatte eine fantastische Aussicht von hier aus. Reste des Morgennebels hingen noch über dem leuchtend blauen See, auf den man von hier aus eine vollkommen freie Sicht hatte.

Ein Ort wie aus dem Paradies, dachte Kwatlowski. Aus meinem Paradies. Und davon wird mir niemand etwas wegnehmen.

Er sah kurz auf die Uhr (er wusste selbst nicht mehr, zum wievielten Mal an diesem Tag schon) und griff dann zum Handy.

7

Kubinke und Meier trafen sich mit Heiner Dresen, dem Leiter einer Polizeidienststelle, irgendwo im Berliner Umland. Bisher hatten Dresen und seine Leute die Ermittlungen in Sachen Veterinär-Mafia geleitete. Aber das Ganze ging wohl langsam über deren Möglichkeiten hinaus.

Und so kamen Kubinke und Meier vom Bundeskriminalamt ins Spiel.

"Also wir haben inzwischen eine ganze Reihe von Personen im Visier, die rund um diesen Kwatlowski eine Rolle spielen."

Dresen hatte ganz altmodisch Dutzende von Porträtfotos an eine Pinnwand geheftet.

Aber es erfüllte seinen Zweck und man hatte einen Überblick.

Es gab außerdem noch Zettel mit Anmerkungen.

Auf manchen standen auch nur rätselhafte Abkürzungen, bei denen sich Kubinke fragte, was sie wohl zu bedeuten hatten.

Soll Dresen uns das erklären, dachte Kubinke. Er hatte jedenfalls keine Lust, das jetzt auch noch selbst herauszufinden.

Dresen fing an einige der Verbindungen zwischen den Personen zu beschreiben.

Manches war bereits eindeutig ermittelt. Manches war reine Mutmaßung.

"Das ist wie bei einem Eisberg", sagte Dresen.

Kubinke hob die Augenbrauen.

"Ein Eisberg?", fragte er.

"Ja, neun Zehntel unter Wasser und nur ein Zehntel ist sichtbar."

"Ach so."

"Ist hier auch so."

"Das heißt, neun Zehntel kann man nicht beweisen.", stellte Rudi Meier nüchtern fest.

"Kann man noch nicht beweisen", korrigierte Dresen.

"Dann sind Sie anscheinend ein geborener Optimist", sagte Kubinke.

"Sie nicht?"

Kubinke zuckte mit den Schultern.

"Mal so und mal so."

"Wie meinen Sie das?"

"Es wechselt."

"Je nach Lage der Dinge, nehme ich an."

"So ist es."

"Wer ist das da?", mischte sich jetzt Rudi Meier ein und deutete auf eine Person, zu der der Dienstellenleiter Dresen bisher noch keinen Ton gesagt hatte.

"Das? Zuerst war uns das auch ein Rätsel."

"Jetzt nicht mehr?"

"Er heißt Tom Balthoff. Zuerst dachten wir, er würde irgendwie in der ganzen Sache drinhängen, aber…"

"Aber was?"

"Er ist Journalist."

Kubinke hob die Augenbrauen. "Und das war so schwierig herauszubekommen?"

"Er ist unter falschen Namen tätig geworden. Seine Recherchen waren regelrecht ---- konspirativ, wenn Sie verstehen, was ich meine."

"Ich denke schon", sagte Kubinke.

"Also könnte er uns auch was erzählen", meinte Rudi Meier.

"Wird er aber nicht", sagte der Dienstellenleiter.

"Haben Sie ihn schon gefragt?", fragte Kubinke.

"Nein."

"Warum nicht?"

"Dann hätten wir ihm ja eröffnet, dass wir wissen, wer er ist und was für eine Rolle er spielt."

"Ah, ja…", murmelte Kubinke.

"Und da wir uns da erst seit kurzem einigermaßen sicher sind, dachten wir, dass wir das erstmal vermeiden."

"Hm", murmelte Kubinke.

Er wechselte einen Blick mit Rudi Meier.

Die beiden verstanden sich offenbar ohne Worte.

Einfach durch einen Blick. Kollegiale Telepathie nannte man das wohl. Ein Phänomen, dass sich nach Jahren der Zusammenarbeit mitunter einstellte. Zumindest im günstigen Fall. Es gab natürlich auch den ungünstigen, bei dem sich die betreffenden Kollegen dann nach Jahr und Tag weder riechen noch sehen mochten, sofern es sich irgendwie vermeiden ließ, was im Rahmen des Dienstes naturgemäß nicht ganz so einfach war.

8

Später fuhr fuhr Balthoff noch kurz zu seiner Wohnung.

Eine Altbauwohnung in Kreuzberg, ganz oben, unter dem Dach.

Ohne Aufzug natürlich.

So einen Komfort gibt es hier nicht.

Auf dem letzten Absatz standen zwei Männer.

Einer von ihnen zog eine Polizeimarke.

"Herr Balthoff?"

"Ja, was ist?"

"Harry Kubinke, Kriminalpolizei."

"Wurde bei mir eingebrochen? Oder warum warten Sie vor meiner Wohnung?"

"Nein, es geht um etwas anderes", sagte Kubinke. Er deutete auf seinen Kollegen. "Dies ist Kommissar Rudi Meier, mein Kollege."

"Ja.. Und worum geht es nun?"

Tom Balthoff blickte von einem zum anderen. Man sah ihm an, dass er sich aus irgendeinem Grund unwohl fühlte.

"Wollen wir das wirklich hier auf dem Flur besprechen?"

"Nun, ich…"

Eine Frau rief von unten herauf: "Wat is da oben für'n Krach?"

"Da ist nichts", rief Balthoff hinunter.

"Haben Sie Besuch, Herr Balthoff?"

Er seufzte. "Vielleicht gehen wir tatsächlich besser zu mir rein", schlug er dann vor.

"Meiner Rede", meinte Kubinke.

9

Balthoff führte Kubinke und Meier in seine Wohnung.

Die Wohnung war klein und etwas übermöbliert. Deshalb wirkte sie sehr eng und vollgestellt. Dem Stil nach wirkten die Möbelstücke so, als würde es sich um Erbstücke handeln, die er irgendwie versucht hatte, in seine Wohnung zu integrieren. Klobige, viel zu ausladende Kommoden, dicke Polstersessel, eine Schrankwand, der man den Charme der Sechziger Jahre ansah.

"Ich habe nicht viel Zeit", sagte Balthoff,

"Was haben Sie denn noch so dringendes vor?", fragte Kubinke "Ohne, dass ich jetzt indiskret sein will.."

"Sie SIND indiskret", sagte Balthoff.

"War nur eine Frage."

"Nur eine Frage, soso…"

"Ich wusste ja nicht, dass ich gleich irgendeinen Nerv berühre."

"Ganz so schlimm ist es auch nicht, Herr… wie war nochmal Ihr Name?"

"Kubinke. Kommissar Harry Kubinke"

Er scheint irgendwie etwas abwesend zu sein, dachte Kubinke. Mit den Gedanken woanders. Das traf es wohl auf den Kopf. Kubinke hätte zu gerne gewusst, was genau Tom Balthoff im Moment gedanklich so sehr beschäftigte.

Aber, um das herauszubekommen, musste er wohl etwas sensibler vorgehen, als bisher.

Auf die direkte Art schien man bei Tom Balthoff nicht ans Ziel zu kommen. Jedenfalls nicht so ohne Weiteres.

Kommissar Rudi Meier ergriff nun das Wort. Und zwar noch ehe Kubinke, der jetzt eigentlich lieber nicht mit der Tür uns Haus gefallen wäre, es hätte verhindern können.

"Um mit der Tür ins Haus zu fallen: Wir ermitteln gegen eine kriminelle Gruppe, die in den illegalen Handel mit Tiermedikamenten verwickelt ist. Von zentraler Bedeutung ist ein Veterinär. Ich wette, ich brauche seinen Namen gar nicht zu nennen…"

"Ich habe ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen oder was Sie von mir wollen", sagte Balthoff.

 

"Wirklich? Wir denken schon."

"Dann klären Sie mich mal bitte auf."

"Sie recherchieren offenbar in demselben kriminellen Umfeld, das wir auch gerade aufzuklären versuchen", stellte Rudi Meier fest.

Balthoff zeigte sich vollkommen unbeeindruckt.

Zumindest äußerlich.

Er zeigte nicht die geringste Regung.

Sein Gesicht wirkte wie erstarrt.

Kubinke musste unwillkürlich an die Folgen von unsachgemäßem Botox-Gebrauch denken, als er Tom Balthoffs starre Züge sah.

Er versteckt sich, dachte Kubinke. Und Rudis ungestüme Eröffnung hat gleich erst einmal dafür gesorgt, dass unser Mann regelrecht in Deckung gegangen ist - was ihm niemand verübeln kann. Zumindest dann nicht, wenn man die Angelegenheit mal aus seiner Perspektive betrachtet.

Kubinke fragte sich, wie er und sein Kollege in dieser Sache noch weiterkommen konnten.

Jetzt.

Nach alledem, was befragungstechnisch schiefgelaufen war.

"Sie wissen genau, dass ich Ihnen über meine Recherchen nichts sagen darf", sagte Balthoff. "So etwas nennt man Quellenschutz. Ich hoffe wirklich, dass Sie auch schon davon gehört haben."

"Haben wir", sagte Kubinke und ergriff damit wieder das Wort und die Initiative.

"Na, ich will Ihnen das persönlich mal glauben, aber ehrlich gesagt hatte ich in der Vergangenheit eher nicht den Eindruck, dass man bei der Polizei Wert auf profunde juristische Kenntnisse legt."

"Es tut mir leid, dass Sie diesen Eindruck gewonnen haben", sagte Kubinke. Er versuchte dabei so viel Verständnis und Empathie in den Klang seiner Stimme hineinzulegen, wie es ihm möglich war. Kubinke fuhr dann fort: "Sie müssen schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben."

"Wie man’s nimmt" sagte Balthoff.

"Also aus unseren Akten ist kein Grund für dieses Misstrauen erkennbar", meinte Kubinke.

"Sie meinen, ich bin noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten."

"Ja", sagte Kubinke.

Und Rudi Meier ergänzte: "Zumindest nicht auf eine Art und Weise, die in irgendeiner Form noch aktenkundig wäre."

Balthoff nickte leicht. "Sie haben recht, es hat da mal ein paar Erlebnisse gegeben… Ich war früher mal in der Hausbesetzer-Szene aktiv, verstehen Sie?"

"Ich denke schon."

"Alles, was da vorgefallen ist, ist allerdings nicht mehr relevant."

"Sie meinen, es ist aus Ihrem Führungszeugnis gestrichen", sagte Kubinke.

"Genau." Er zuckte mit den Schultern. "Ich war jung und wild und hasste die Bullen."

"Verstehe."

"Wirklich? Ich glaube kaum."

"Und jetzt?"

"Na sehen Sie ja, ich bin in der kapitalistischen Tretmühle drin."

"Und Sie verkaufe sich an den Schweinejournalismus", meinte Kubinke. "Oder sagt man das so in Ihren Kreisen?"

"Heiligen Kreisen."

"Da höre ich eine starke Distanzierung heraus."

"Hören Sie, was Sie wollen, Herr Kommissar."

"Herr Kubinke reicht völlig. Wir sind ja nicht in der DDR - und Volkskommissare gibt’s ja zum Glück auch schon lange nicht mehr."

"Kommt sicher alles mal wieder", meinte Balthoff.

"Nun denn, schön zu hören, dass Sie Ihren Frieden mit dem Schweinesystem gemacht haben. Und ich nehme an, für diese Altbauwohnung zahlen Sie auch Miete."

"Sicher."

"Wie schon gesagt, wir dachten, dass Sie uns bei unseren Ermittlungen helfen könnten."

"Sie können sich denken, dass ich das ablehnen muss."

"Unsere Kollegen hatten zuerst den Eindruck, dass Sie in der Sache irgendwie mit drin hängen."

"Und das denken Sie insgeheim immer noch?"

"Nun, nur dass Sie Journalist sind, heißt ja noch nicht, dass Sie nichts damit zu tun haben. Das war eben nur der Schluss der Kollegen - aber der könnte ja falsch sein", sagte Kubinke. "Aber Sie könnten diese Zweifel ja vielleicht ausräumen."

"Ich dachte, es gilt immer noch die Unschuldsvermutung, Herr Kubinke,."

"Tut sie auch."

"Dann wüsste ich nicht, was wir noch zu besprechen hätten."

"Mir würde da so einiges einfallen."

"Dann wäre das allerdings ein ziemlich einseitiger Dialog, Herr Kubinke."

"Schade."

"Und wenn Sie jetzt keinen Haftbefehl, einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss oder irgendetwas anderes haben, dem ich mich beugen müsste, würde ich vorschlagen, dass Sie mich jetzt nicht länger aufhalten."

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