Krimi Doppelband 2232

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Poehlke hatte die Hände über dem Lenkrad gefaltet und den Kopf auf die Hände gelegt. So nahe an der Scheibe war das Spiel der hüpfenden und herunterlaufenden Tropfen noch verwirrender. Die Lichtung lag in einem graugrünen, unbestimmten Schleier. Einer der Hunde erhob sich, schlug an. Poehlke zischte ein Kommando, und das Tier schwieg, beobachtete aber aufmerksam eine Bewegung, die seine wachen Augen wahrnahmen. Ein alter Mann ging vorüber. Er warf einen Blick auf das abgestellte Fahrzeug. Poehlke lehnte sich zurück, und erst als er sicher war, dass der Fußgänger verschwunden war, nahm er seine Haltung wieder ein.

Er hatte Zeit, erst gegen Abend konnte er wieder zurück nach Hause. Seine Gedanken kreisten umher; Erinnerungen lauerten, tauchten plötzlich auf, konnten verscheucht, unterdrückt werden; doch sie kamen zurück, hartnäckig und böse. Da waren zum Beispiel die Bilder von der Beerdigung. Der kleine Sarg, die Gaffer, diese monotonen Worte des Pfarrers, die Blumen und die Lehmbrocken, die auf den Sarg hinunterpolterten. Dann das Essen, bedrückte Gespräche, obwohl sie in einem gemütlichen guten Lokal speisten, die schwarz gekleideten Menschen.

Sie haben seine Tochter beerdigen müssen. Cordula. Gerade drei Jahre alt. Jeder hat gewusst, dass sie hat sterben müssen; ein Gehirntumor, der sich fast schon seit der Geburt ausgebildet hatte, gewachsen war und das kleine Mädchen nie zu Kräften hatte kommen lassen. Wie es immer wieder zusammengestürzt ist beim Gehen, das es ohnehin nur mühselig lernte! Nicht umgepurzelt, nein, regelrecht zusammengestürzt. Er hat das Kind tragen müssen, treppauf, treppab, jeden Tag, bei Spaziergängen und Ausflügen. Ein zerbrechliches kleines Wesen, das selten lächelte, still war, trotz des Leidens nie Schwierigkeiten machte.

»Wäre das Kind nur so gestorben! Hätte man es sterben lassen ohne Behandlung... Was man so Behandlung nennt!«, dachte Poehlke. Statt dessen hat es Bestrahlungen bekommen. Sie haben ihm mit der Kobaltbombe im Gehirn herumgebrannt. Das Leiden ist nicht besser geworden, dafür haben sich Strahlenschäden gezeigt, Übelkeit, Erbrechen. Das Kind hat alles ertragen müssen, gekotzt hat es, tagein, tagaus, trotzdem hat es die Tabletten runtergewürgt. Am Schluss hat es noch nicht einmal mehr stehen können, dieses dreijährige Bündel Haut und Knochen.

Sie haben es gequält, bis es still verhungert ist.

Nächtelang ist er im Krankenhaus gesessen, hat alles beobachtet, minutiös registriert, wie der Tod sich des Kindes bemächtigte, sanft, schleichend, fast einschmeichelnd. Es war fast eine Wohltat, zu sehen, wie die Kleine ruhiger wurde, nachdem die Bestrahlungen abgesetzt worden waren, nur noch selten aus ihrer Traumwelt herüberkam, bald den Vater nicht mehr erkannte, nicht mehr die Geschwister und die Mutter. Anfangs war er der Meinung gewesen, dass man das Recht hat zu entscheiden, wann Schluss sein muss mit einer solchen Kreatur. Auch dem Vieh erleichtert man den Todeskampf und kürzt ihn ab mit einer mildtätigen Spritze oder mit einem Schuss. Doch als er beobachtete, dass das Kind langsam und weich in die Arme des Todes sank, nicht mehr leiden musste, da war er es, der dafür sorgte, dass eine aufkommende Lungenentzündung mit Antibiotika bekämpft wurde, damit das Kind noch länger etwas von diesem Leben in der Abendsonne eines Traumes habe.

Und dann wurde die Kleine schließlich mit einer weißen, kalten Plastikdecke zugedeckt und abgeholt, in einem weißen Sarg zurechtgemacht, wie eine Puppe. Sogar geschminkt wurde der Leichnam, den sie kurz darauf eingegraben haben. Er stellte sich die schwarze Kälte des Grabes als etwas höchst Bedrückendes vor. Dann lieber das Inferno des Feuers! Doch Inge hatte das Kind nicht einäschern lassen wollen. Es sollte körperlich intakt bleiben - als ob dies angesichts des Todes von Bedeutung wäre.

Poehlke räusperte sich und richtete sich auf. Es war kurz vor 12 Uhr. Er schaltete das Radio ein. Werbung. Nachrichten. Weltgeschehen. Regionales. Die Soko, die den Parkplatzmord aufzuklären hat, tritt auf der Stelle, hieß es. Hinweise aus der Bevölkerung werden erbeten und auf Wunsch vertraulich behandelt. Wetter: Regen, um 15 Grad. Verkehrsbericht. Als die Musik begann, schaltete Poehlke wieder ab. Er zündete das Fahrzeug und fuhr los, sich die folgenden fünf Stunden zu vertreiben.

*

Um die Spurenlage zu verbessern, trieb die Sonderkommission in den auf die Taten folgenden Tagen und Wochen einen beachtlichen Aufwand. Am 4. Mai durchkämmte eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei aus Göppingen systematisch das Gebiet Marbach / Erdmannhausen / Kirchberg / Erbstetten. Die jungen Beamten schritten Schulter an Schulter über die Wiesen und Felder. Gesucht wurde vor allem nach der Maskierung des Täters und nach einer dunklen Aktentasche, die aus dem Besitz des Mordopfers Pfitzer fehlte.

Dieser kleine Koffer mit zwei zusammenklappbaren Henkeln und metallenen Schlössern wurde in den Zeitungen am 11. Mai 1984 abgebildet. Darüber hinaus erschienen Phantombilder eines ausdruckslos starrenden Gesichtes en face und im Profil mit kurzen, nach hinten gekämmten Haaren, auffällig niedriger Stirn und großen Ohren. Dieses Phantombild wurde aus Folienelementen nach der Beschreibung des Zeugen zusammengestellt, der den Räuber vor der Bank fliehen sah.

Zudem hatten sich weitere Augenzeugen gemeldet, die den Mann wenige Tage vorher in Erbstetten gesehen haben wollten. Erbstetten ist ein kleiner Ort, in den aufgrund seiner abgelegenen Lage nur selten Fremde kommen. Es war also durchaus wahrscheinlich, dass der Täter aufgefallen sein könnte, wenn er wenige Tage zuvor die Gelegenheit für den Überfall auskundschaftet haben sollte. Die Zeugen beschrieben einen Fremden, einen bartlosen Mann mit einer auffälligen Brille. Deshalb veröffentlichte die Polizei das Phantombild noch einmal mit darübergeblendeter geschwungener Hornbrille.

Es gab auch Hinweise darauf, dass der BMW zwischen der mutmaßlichen Tatzeit des Mordes und dem Banküberfall, also zwischen 11.00 und 12.00 Uhr am Morgen des 3. Mai. gesehen worden war. Dabei wollen Beobachter zwei Personen in dem weißen Fahrzeug wahrgenommen haben. Die Kripo fahndete in den folgenden Tagen nach einem Täterduo, was die Presse veranlasste zu behaupten, die Polizei gehe inzwischen davon aus, dass Siegfried Pfitzer von zwei Männern überfallen und ermordet worden sei. Daraufhin meldete sich ein weiterer Zeuge, der behauptete, er habe den weißen BMW gegen 10.40 Uhr in der Nähe des Kraftwerks Marbach der Energieversorgung Schwaben auf einem Feldweg im Neckartal gesehen.

Unterstellt, die Aussage ist richtig und trifft auf das Tatfahrzeug und nicht einen anderen BMW zu, so hätte der Täter (und sein Komplize) kaum Zeit gehabt, vom Tatort Häldenmühle an Marbach vorbei, dem Neckartal folgend, etwa drei Kilometer zu dem gigantischen Klotz des Kraftwerks zu fahren.

Die Aussage passt besser zu der Theorie, wonach der Täter seinem Opfer als Anhalter aufgelauert habe; freilich wäre in diesem Fall die Tatzeit 10.30 Uhr nicht mehr richtig, denn Siegfried Pfitzer hätte in diesem Fall noch nach 10.30 Uhr gelebt.

Ungeklärt bliebe dann, warum der Täter sein Opfer am späteren Tatort vorbei zunächst zum Kraftwerk dirigierte und dann wieder zurück zur Häldenmühle. Jedenfalls wäre bei diesem Umweg die Fahrzeit von Siegfried Pfitzer auf dem Weg von Freiberg zum Tatort nicht mehr einzuhalten gewesen. Dazu kommt, dass Pfitzer sein Diktat schon vorher hätte angefertigt haben müssen, denn es ist kaum denkbar, dass er, bedroht mit einer Pistole, mit ruhiger Stimme ein Verhandlungsergebnis auf Band festgehalten hätte.

Wären die »Anhaltertheorie« und die Version des zweiten Zeugen richtig, so hätte der Mann falsch ausgesagt, der um 10.30 Uhr am Tatort einen Schuss gehört haben will und jede andere Ursache für das Geräusch ausschloss. Oder hat sich der zweite Zeuge, der den BMW angeblich mit zwei Männern am Kraftwerk sah, in der Zeit geirrt?

Die Kriminalistik unterscheidet mit gutem Grund zwischen objektiven und subjektiven Beweismitteln. Ein subjektives Beweismittel ist der Zeuge, der seine Wahrnehmungen wiedergibt. Es existiert kaum ein Kapitalverbrechen, zu dem nicht miteinander völlig unvereinbare Aussagen aufgenommen werden und jeder der Zeugen, trotz Vorhalt der Protokolle über die Berichte des anderen, felsenfest auf der Richtigkeit seiner Erinnerung beharrt.

Der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Stuttgart, Prof. Bender, hat viel zum Thema »Zeugenpsychologie« veröffentlicht. Er hat einen bemerkenswerten Versuch unternommen, der die Glaubwürdigkeit menschlicher Wahrnehmung in einem besonders scharfen Schlaglicht zeigt:

Bender hielt vor der Richterakademie in Trier einen Vortrag über Zeugenaussagen und Zeugenpsychologie. Sein Auditorium bestand aus Richtern und Staatsanwälten, alle aufgrund ihrer forensischen Praxis an den Umgang mit Zeugen schon lange gewöhnt. Bender arrangierte es, dass der Hausmeister ihn beim Vortrag unterbrach und ihm einen Zettel vorlegte; es gab am Pult eine kurze Diskussion, der Hausmeister entschuldigte sich und ging hinaus. Ein belangloser Vorgang, genauso belanglos wie vieles, was in Zusammenhang mit Verbrechen passiert und später erst in seiner Bedeutung erkannt wird. Nach dem Ende seines Vortrages ließ Bender Fragebogen verteilen und bat die Anwesenden, ihre Wahrnehmungen zu dem Vorfall einzutragen.

Das Ergebnis war überraschend: Die Zahl der wirklich exakten Beobachtungen war sehr gering, Fehler überwogen bei weitem. Kaum einer der »Zeugen« erinnerte sich richtig an den Ablauf der inszenierten Handlung, an die Größe, Haarfarbe und Bekleidung des Hausmeisters. Erhebliche Abweichungen gab es auch bei der Zeitbestimmung für den Vorfall. Die Einschätzungen schließlich, ob der Professor wütend oder gelassen reagiert habe, waren ebenfalls bemerkenswert geteilt.

 

An vielen großen Kriminalfällen wird heute noch, Jahre danach, mit unendlicher Akribie herumgerätselt. Dabei spielen zur Stützung der verschiedensten Theorien fast immer Zeugenaussagen eine entscheidende, wenn nicht die wichtigste Rolle. Ein Paradebeispiel dafür ist die relativ umfangreiche Literatur zu dem Kennedy-Attentat in Dallas / Texas.

Mit Zeugen, das sollte man stets bedenken, lässt sich fast alles beweisen.

*

Wenn die Kinder erwachten, war Inge Poehlke schon aufgestanden. Das war jeden Tag so, auch sonntags. Sie liebte diese Stunde. Während die beiden Knaben im Kinderzimmer auf dem Boden spielten, sich unterhielten, gelegentlich stritten und herumschrien, schlief ihr Mann mit unerschütterlicher Ruhe, meist auf dem Rücken, jedoch ohne zu schnarchen. Wenn keiner ihn weckte, konnte er bis zum Nachmittag schlafen. Doch Poehlke bestand selbst darauf, um 9 Uhr geweckt zu werden, wenn das Wetter einigermaßen war. Bis zum Wecken und dem Beginn der umständlich durchgeführten Morgentoilette war es noch mehr als ein und eine halbe Stunde. Inge versorgte die Jungen im Kinderzimmer mit Schokolade und Haferflocken, damit das Spiel nicht unterbrochen werden musste; dann kochte sie sich Kaffee, räumte das Geschirr vom vorangegangenen Abendessen ein wenig auf die Seite, buk zwei Semmeln auf und bestrich sie mit Butter, stippte sie in die Tasse mit Milchkaffee. Unterdessen las sie in einem der vielen Heftromane, die sie im Nachttisch, in der Küchentischschublade und im Ablagefach der Fernsehtruhe aufbewahrte. So saß sie vor dem Tisch, den Kopf aufgestützt, der Strümpfelbacher Welt entflohen, atemlos dem Schicksal verarmter polnischer Barone und verliebter Oberärzte folgend. Der eine kam zu Besitz, der andere zu seiner geliebten Frau. Sie zog sich diese Geschichten hinein wie ein Raucher den Zigarettenqualm.

An diesem Sonntagmorgen im August endete eine kleine Regenperiode, die für den strahlend schönen Sommer des Jahres 1984 uncharakteristisch war. Die Sonne stieg in den glänzenden, blauen Himmel hinauf. Auf dem Asphalt der Straßen trockneten die Pfützen, die Blumen in den säuberlich gepflegten Nachbargärten reckten die Köpfe, Hummeln und Bienen schwärmten aus. Vögel jubelten, und überall waren Fenster und Türen geöffnet, damit der warme Südwind hereinwehe.

Poehlke war aus seinem totenstarreähnlichen Schlaf gerissen worden, weil sein Sohn Gabriel infernalisch schrie. Er rannte ins elterliche Schlafzimmer, hielt sich die Hand vors Auge. Poehlke war mit einem Satz auf den Beinen, riss dem Kind die Hand vom Gesicht, weil er glaubte, dass der Kleine eine ernste Verletzung erlitten habe. Doch es war nur eine kleine Platzwunde an der Augenbraue, die schnell versorgt war. Andere Väter wären in einer solchen Lage sofort in das Kinderzimmer gestürzt, hätten mit dem anderen, offenbar an der Verletzung schuldigen Kind ein Strafgericht veranstaltet. Anders Norbert Poehlke, der zunächst den kleinen Jungen tröstete und besänftigte, ihn in den Arm nahm und wie ein Baby hin und her trug, dabei eine Melodie brummte. Dann ging er nach oben, setzte sich auf einen der Kinderstühle und beobachtete Adrian, der sich den Anschein gab, arglos zu spielen.

Es folgte ein behutsam geführtes Verhör, in dessen Verlauf zu erkennen war, dass das Kind zu seinem Vater ein starkes Zutrauen hatte, ihm in die Augen sehen konnte, ohne auszuweichen. Den Tadel nahm der Junge gelassen entgegen, genauso wie der Vater ohne Wut das Kind zurechtwies. Gabriel erschien in der Tür, hielt einen nassen Waschlappen an die Augenbraue, und der Friede ließ sich ohne weiteres zwischen den Knaben wiederherstellen.

Poehlke verließ das Kinderzimmer, ohne noch einmal ins Bett zurückzukehren. Wenn er morgens aufstand, waren seine Augen meist rot verquollen, als hätte er die Nacht über gelesen. Seine schwarzen Haare standen ihm, obwohl sie kurz geschnitten waren, in Strähnen vom Kopf. Der ausrasierte Bart zeigte auf den Wangen blaue Schatten. Auch die buschigen Augenbrauen waren verstrubbelt, so dass ihnen der Schwung zur Nasenwurzel fehlte, der, wenn sie gebürstet waren, seinen Augen zu einem katzenähnlichen Ausdruck verhalf.

Poehlke gähnte und schritt die Holztreppe hinunter. Er musste Kleidungsstücken und leeren Flaschen ausweichen, die seine Frau auf den Treppenabsätzen zu deponieren pflegte, damit man die Wäsche in den Keller und das Leergut bei Gelegenheit in den Schuppen mitnehmen könne. Meistens häuften sich Kleider und Flaschen, weil seine Frau sie vergaß und Poehlke sich grundsätzlich weigerte, aufzuräumen. Im Flur vor der Küche stand der Staubsauger schon seit Freitag. Das Fach für den Staubsack war geöffnet, der volle Behälter entnommen, aber kein neuer eingesetzt. Auf dem Boden lag Konfetti, das die Kinder verstreut hatten. Poehlke trat in die Küche, verharrte an der Tür mit herunterhängenden Armen. Oben hörte man die Jungen singen. Es roch nach Speiseresten und nach der Feuchtigkeit von den noch nicht vollends ausgetrockneten Wänden des Neubaus. Inge sah nicht von der Lektüre auf.

»Morgen«, sagte Poehlke. Er ging das Fenster öffnen. Ein Schwall milder Sommerluft wehte herein. Draußen gingen zwei alte Männer vorbei. Sie waren festtäglich gekleidet und trugen ihr Gesangbuch unter dem Arm. Der schwäbische Pietismus hat hierzulande noch eifrige Anhänger. Poehlke grüßte mit einem Kopfnicken und sah den beiden nach, die in der Sonne gemächlich zur Kirche schritten.

Inge Poehlke ignorierte auch den Gruß ihres Mannes. Sie war an einer Stelle angekommen, wo sie die Lektüre so fesselte, dass sie nicht aufzublicken vermochte, obwohl sie die Anwesenheit ihres Mannes körperlich wahrnahm. Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und schob mit dem Unterarm das Geschirr vom Vortag zur Seite. Dann zog er ihre Tasse zu sich herüber, goss sich Kaffee ein und trank die gezuckerte, lauwarme Flüssigkeit. Er betrachtete seine Frau, die ihr Gesicht hinter einem Vorhang lockiger Haare verborgen hatte.

»Die Kinder haben sich schon wieder geschlagen«, sagte Poehlke, ohne eine Antwort zu erwarten. Nach einer Pause, in der er den Kaffee schlürfte, als sei es ein brennend heißer Espresso, fuhr er fort, dass man aufpassen müsse, damit nicht eines Tages was Ernstes passiere. Bei so zwei Raufbolden könne keiner wissen ... Er schwieg und grübelte. »Du weißt, dass ich dir nicht bös bin, wenn’s mit dem Aufräumen und Putzen, mit der Kehrwoche und der Wäsche nicht so klappt, Inge, aber acht' auf die Jungen, damit die sich nicht einmal totschlagen.«

Seine Frau rührte sich nicht. Sie blätterte die Seite um, und ihre linke Hand tastete nach seiner Kaffeetasse. Er schob sie herüber, sie trank, blickte angewidert auf. »Wä, mit Zucker und Milch«, sagte sie in ihrem westfälischen Tonfall. Poehlke grinste. Inge sah ihren Mann einen Moment an, dann schüttelte sie den Kopf und beugte sich wieder über das Heft. Poehlke ging nach oben, um die Kinder zu waschen, anzuziehen und zu kämmen.

Nachdem Inge mit der Lektüre geendet hatte und die Story des armen farbigen Besatzungskindes Alexander mit der feierlichen Verleihung der Doktorwürde der Universität Heidelberg und der gleichzeitigen Hochzeit mit einer brünetten Telefonistin namens Gaby zu einem befriedigenden Schluss gekommen war, warf sie sich ein Kleid mit plissiertem Rock über und fuhr sich mit einer Metallbürste flüchtig durch die Haare. Unten im Flur saßen die Söhne nebeneinander auf der Sitzbank, die ursprünglich fürs Freie bestimmt gewesen war, und warteten brav. Poehlke hatte sie sorgfältig gekleidet, beide mit dem gleichen hellblauen Leinenhemd, dunkelblauem Baumwollpullover und grauen Hosen. Die kleinen Poehlkesöhne waren auffällig hübsche Kinder. Beide blond wie die Mutter, beide eine hohe Stirn und große wache Augen. Mund und Nase waren regelmäßig, das Kinn besaß einen schönen Schwung.

Inge musterte die beiden kurz, steckte einen Daumen in den Mund, befeuchtete ihn mit Speichel und radierte dem Kleineren eine Schokoladenspur von der Wange. Dann nahm sie ihre Söhne an der Hand, ging hinaus, warf die Tür zu, ohne abzuschließen, und schritt den kurzen Gartenweg hinunter zum Auto, das weiß und blank geputzt in der Sonne stand. Ihr Mann lehnte mit dem Rücken an der Fahrertür und unterhielt sich mit einer Frau aus der Nachbarschaft. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und lachte sogar einmal beim Reden. Als er seine Frau kommen sah, rief er munter: »Aufsitzen!« Die Hunde bellten, doch er ignorierte sie. Sorgfältig schnallte er die Söhne auf dem Rücksitz an. Die Frau sprach noch ein paar Sätze mit Inge, die im milden Frühlingslicht gesund und rosig aussah, eine junge Frau, glücklich mit ihrer Familie. Poehlke stieg ein, sie verabschiedeten sich und fuhren davon.

*

Der Stuttgarter Zoo ist ein Unikum. Nicht nur, weil er den altertümlichen Namen »Wilhelma« trägt. Er ist zugleich auch botanischer Garten und Baudenkmal mit seinen im maurischen Stil errichteten roten Pavillons und Arkaden, die in einem weitläufigen Gelände zwischen dem Neckarufer und der Höhe des Rosensteinparks hingeworfen liegen. Für die Kinder ist er mit seinen zahlreichen Freiluftgehegen, Spielplätzen und Gartenwirtschaften ein kleines Paradies. Die Wilhelma ist an Sommersonntagen, wenn die Busse sich vor dem Eingang stauen, ganz erheblich überlaufen.

Die Familie Poehlke war unter den Tausenden von Besuchern, die an diesem Sonntag die Attraktionen bewunderten, darunter eine meisterhafte Seehunddressur. Inge, längst schon müde, war auf einer schattigen Bank in der Nähe des Giraffengeheges sitzen geblieben, während ihr Mann, den Kleinen auf den Schultern, den größeren der beiden Söhne an der Hand, die erläuternden Schilder vorlesend, durch die Anlagen wanderte und den Kindern Papageien und exotische Singvögel erklärte. Eine ältere Dame, die den Herrn mit dem dunklen Bart und den finster wirkenden Augenbrauen im Umgang mit den blonden Knaben beobachtete, bemerkte zu ihrem Mann, der neben ihr stand und aus einer Tüte Taubenfutter auf den Weg streute, dass dieser Herr eine bewundernswert hübsche blonde Frau haben müsse, die ihm solche Kinder geschenkt habe. Der Mann knurrte zustimmend und fuhr fort, Tauben zu füttern.

Poehlke, der die Worte der Frau gehört hatte, sah sich verstohlen nach ihr um. Sie war sehr elegant und offensichtlich teuer angezogen. Sie wirkte kultiviert und gut erzogen. Poehlke imponierten diese Eigenschaften. Als die Dame ihn ansah, floh sein Blick; er tat gleichgültig, erklärte dann aber um so eindringlicher den beiden Kindern das Vorkommen der Grünschnabelpfeifer.

Inge kam, mahnte zum Aufbruch. »Mein Magen knurrt«, sagte sie. »Wir essen was, irgendwo draußen, hier ist es so teuer.«

Poehlke zuckte mit den Achseln, als spiele Geld in dieser Größenordnung für ihn keine Rolle. Dann entschied er, dass man in die Stadt fahren solle. Also fuhren sie in die Stadt, parkten im Zentrum und gingen zu Fuß weiter, wobei Poehlke geduldig den kleinen Sohn auf den Schultern schleppte und den Größeren an der Hand hinter sich herzog.

Ein heiterer Nachmittag. Warme Luft und gelbes Sonnenlicht fluteten durch die Königstraße, bewegten das Laub der Ahorn- und Kastanienbäume. Ein Mann predigte auf englisch. Keiner der Passanten hielt an, niemand sah sich um, doch der Mann sprach unerschütterlich weiter. Pflastermaler führten die Mona Lisa und eine Kreuzigungsszene von el Greco in Kreide aus, Kinder auf Rollschuhen fegten vorbei. Zwei Radfahrer rollten freihändig durch die Spaziergängergruppen. Ein Greis spielte die »Kleine Nachtmusik« auf der Violine zu einem Playback, das er über einen tragbaren Kassettenrecorder übertrug. Die Flugblätter einer türkischen Organisation, die gegen die Militärdiktatur protestierte, nahm der Wind mit ins Vergessen. Kinder lutschten Eis, Eltern flanierten und betrachteten die Geschäfte. Eine blonde Frau mit hochtoupiertem Haar schob einen Rollstuhl mit einem grimassierenden Mann. Penner tanzten im Musikpavillon, der gegenüber dem Neuen Schloss, dem Sitz der badenwürttembergischen Regierung, in den Anlagen steht. Sie sangen dazu »Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin«, Rotweinflaschen standen herum.

Die Familie Poehlke betrachtete mit Interesse, zugleich mit ein wenig Unmut die schmutzigen, haarigen, verlausten Berber, die ihre zahnlosen Münder aufrissen und nun schmetterten, dass sie den Vater Rhein in seinem Bett gesehen hätten. Die Familie Poehlke zog sich zurück.

Unter den Arkaden des Königsbaus, im Schatten seiner klassizistischen Säulen, fanden sie in einem Cafe einen Tisch, der gerade frei wurde, konnten ihn vor anderen besetzen. Sie bestellten reichlich Kaffee, Tee und Schokolade für die Kinder. Dazu Erdbeertorte und Sahnestückchen, Hefezopf und Vierfruchtkuchen mit Sahne. Man brachte sofort, was bestellt worden war, und die Familie Poehlke trank und aß, beobachtete die Menschen, wie sie vorbeiströmten, sich zur Schau stellten, andere taxierten - eine Kleinstadt, die sich als Metropole verkleidet hat.

 

Poehlke genoss diese Atmosphäre in dem traditionellen Cafe, in dem kein Penner saß, nur seriöse Leute. Er wäre noch bis zur Abenddämmerung geblieben, wären die beiden Jungen nicht unerträglich geworden. Sie tobten zwischen den Gästen herum, balgten sich miteinander und mit anderen Kindern, verpetzten sich gegenseitig, heulten wegen jeder Kleinigkeit. Als der kleine Adrian am Nachbartisch ein Weinglas umwarf, war das Maß voll. Inge fing die Kinder ein, Poehlke rief: »Zahlen!«

Die Bedienung kam nach zweimaliger Mahnung und rechnete nervös die Getränke und Torten zusammen. »Achtundzwanzigvierzig«, sagte sie.

»Machen Sie dreißig«, sagte Poehlke.

»Danke«, antwortete die Frau und hielt die Hand auf.

Nichts geschah. Die Eheleute sahen sich an.

»Inge, du hast das Geld«, sagte Poehlke.

»Nein, ich hab’ den Eintritt bezahlt«, sie kramte in der Handtasche, hielt den Geldbeutel hoch. Es waren nur noch einige kleine Münzen zu sehen. Die Bedienung wurde aufmerksam und sah Poehlke an, ihre Hand wanderte zu ihm hinüber. »Dreißig haben Sie gesagt«, wiederholte sie in der Hoffnung, der Mann würde in die Tasche greifen und ihr Geldscheine geben.

Poehlke schwieg. Er starrte seine Frau an. »Du weißt, ich hab’ meinen Geldbeutel zu Hause liegen, in der Küche, Inge«, sagte er.

»Du hast ihn eingesteckt.«

»Nein.«

»Sieh nach!«

Er kramte in der Tasche. Natürlich hatte er seine Geldbörse bei sich. Verlegen zog er sie heraus. Ein veritables gutes Stück, graues Krokodilleder. Ein Weihnachtsgeschenk. Doch leider leer. Auch hier klimperten nur Kupfermünzen.

»Und jetzt?«, fragte die Bedienung und stellte einen Fuß vor.

Inge reagierte routiniert. Es sei nur ein Versehen, sagte sie, nicht der Rede wert.

»Für mich sind dreißig Mark immer der Rede wert. Das ist ein Drittel von dem, was ich sonntags hier verdiene«, antwortete die Bedienung, ohne dass sie laut wurde. Dennoch drehte man sich an den Nachbartischen um und sah herüber.

»Hören Sie, ich bin Polizist«, sagte Poehlke und fingerte seinen Dienstausweis heraus. »Was meinen Sie, dass ich Sie um Ihr Geld betrügen will? Das wollen Sie doch nicht sagen, oder? Mein Gott, das ist doch jedem schon mal passiert, dass er sein Geld liegenlässt. Da, hier, ein Pfand. Nehmen Sie meinen Dienstausweis. Das wird wohl reichen?« Poehlke stand auf. Er hatte lauter als nötig gesprochen. Passanten blieben stehen. Er sah der Bedienung, die fast zehn Jahre älter als er selbst war und glatt, rund und durchaus wohlgenährt wirkte, frech ins Gesicht. »Das Trinkgeld nehmen Sie gern, so, so, ja, ja, aber wenn ein Versehen passiert, dann tun, als wollte man Sie um so ein paar Kröten betrügen.«

»Ich denk’ mir nichts aus, mein Herr«, antwortete die Bedienung ungerührt. »Ich muss den Betrag nur heute Abend von meinem Geld in die Kasse legen.«

»Nehmen Sie den Ausweis als Pfand?«, fragte Poehlke.

»Wann bringen Sie das Geld?«

»Heute noch.«

»Okay«, sagte die Bedienung und steckte den Ausweis und den Rechnungszettel in ihre Kassiertasche unter das Schürzchen und ging ohne Gruß weiterbedienen.

Die Poehlkes entfernten sich. Als sie außer Hörweite waren und Norbert den Kleinen auf die Schulter nahm, sagte Inge: »Und wo willst du das Geld herbekommen, um heute noch zu zahlen?«

»Ich geh’ zur Frau Kussmaul kassieren.«

»Die hat schon lange gezahlt!« Inge nagte an den Lippen. »Ich mach’ das nicht mehr mit. Du hast genau gewusst, dass wir keinen Pfennig dabei haben. Und zu Hause ist schon lange nichts mehr. Den Eintritt für die Wilhelma hab’ ich mir zurückgelegt. Von meinem Geld. Für ein Eis aus der Hand für die Kleinen hätt’s noch gelangt. Aber du musst ins teuerste Cafe!«

Poehlke ging schweigend neben seiner Frau her. Sie machte ihm weiter mit heiserer Stimme Vorwürfe. Dabei blieb sein Gesicht ruhig und emotionslos. Er beachtete sie nicht, führte seine Familie zum Parkplatz. Endlich sagte er: »Kann mir morgen was bei einem Kollegen leihen, nur so lange, bis Wagner zahlt...«

»Bis Wagner zahlt, da lach' ich ja!«, fauchte Inge.

»Ja, bis Wagner zahlt«, sagte er wütend, »bis jetzt hat er immer gezahlt.«

»Und ohne Ausweis, was machst du solang?«

»Wer will schon einen Ausweis sehen...«, sagte Poehlke verächtlich.

»Wagner sicher nicht«, antwortete die Frau.

*

Während des restlichen Sommers beschäftigte sich die Familie Poehlke mit kleinen Arbeiten am Haus. Auch samstags und sonntags und an den wenigen Feiertagen wurde gearbeitet. Ausflüge unterblieben. Spaziergänge im Dorf oder im nahen Backnang waren eine Seltenheit. Die finanzielle Situation wurde immer bedrückender.

Im Oktober erhielt Norbert Poehlke von seiner Bank ein Schreiben, das ihm zusammen mit zwei Werbesendungen von seiner Frau auf den Arbeitstisch gelegt wurde. Poehlke sortierte die Werbung aus, las die Angebote intensiv und schob den Brief der Bank auf die Seite. Vor dem Abendessen kam Inge noch einmal in sein Zimmer herauf und kümmerte sich um den Brief, weil sie der Inhalt interessierte. Formal war ihr Mann alleiniger Kontoinhaber, doch sie besaß die üblichen Vollmachten und hatte auch für alle Kredite und Darlehen persönlich bürgen müssen. In Gelddingen sah sie ihren Mann ohnehin nicht als sonderlich zuverlässig an und kontrollierte daher ohne Skrupel Kontoauszüge und Bankpost, wenngleich sie - pro forma - ihrem Mann das Vorrecht ließ, die Briefe zu öffnen. Als sie feststellte, dass das Kuvert noch ungeöffnet auf der Kante des Arbeitstisches lag, während die Werbesendungen regelrecht bearbeitet worden waren, hier und dort sogar mit Randbemerkungen von der Hand ihres Mannes versehen, rief sie ihn. Keine Antwort.

Noch einmal: »Norbert, Post aufmachen!«

Nichts geschah, bis sie hörte, wie ihr Mann mit unregelmäßigem Schritt durch den Flur ging und das Haus verließ. Sie trat ans Fenster, beobachtete, dass er zum Hundezwinger schlurfte. Inge schüttelte den Kopf und nahm den Briefumschlag, riss ihn mit dem Daumen auf.

Das Schreiben hatte einen individuellen Zuschnitt, war nicht, wie sonst üblich, hektografiert oder mit einem Computersystem erstellt und trug zwei Unterschriften mit dem Zusatz »ppa«. Sie überflog den Text. Die Bank beobachte, so hieß es dort, mit gewisser Sorge, dass die Herrn Poehlke eingeräumten Kreditlinien inzwischen weit überschritten seien. Angesichts der Höhe der laufenden Eingänge auf den Konten sei offenbar nicht mit einer Rückführung in naher Zukunft zu rechnen, die Verschuldung betrage, Hypothekendarlehen für das Haus eingerechnet, über 310.000 DM. Zwar stünde dem ein gewisser Gegenwert in Form des Gebäudes und Grundstücks gegenüber. Der Gegenwert decke bei der derzeitig schlechten Situation auf dem Immobilienmarkt aber keinesfalls die gewährten Darlehen. Angesichts dieser Lage bitte man Herrn Poehlke zu einem persönlichen Gespräch in die Bank, um die notwendigen Maßnahmen zu erörtern. Man schloss mit »freundlichen Grüßen« und den beiden schon erwähnten Unterschriften.

Inge faltete das Schreiben wieder zusammen und steckte es in die Tasche ihrer Jeans. Sie ging die Treppe hinunter und richtete das Abendbrot. Erst als sie die Kinder zum Essen rief, fiel ihr auf, dass ihr Mann noch nicht ins Haus zurückgekehrt war. Sie sah aus dem Fenster und vermisste das Fahrzeug. Poehlke war verschwunden.

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