Buch lesen: «Elbkiller: 7 Hamburg Krimis»
Hans-Jürgen Raben, Alfred Bekker, Marten Munsonius
UUID: 1fc957d6-5917-4336-9c5d-52bc57beba39
Dieses eBook wurde mit StreetLib Write (https://writeapp.io) erstellt.
Inhaltsverzeichnis
Elbkiller: 7 Hamburg Krimis
Copyright
Tod über der Elbe
Der Tod des Senators
Der Fall mit dem Catcher: Hamburg Krimi
Der Fall aus der Ferne: Hamburg Krimi
Todsicher verspielt: Hamburg-Krimi
Falsche Kunst – echter Tod
Schrecken aus der Tiefe
Elbkiller: 7 Hamburg Krimis
Alfred Bekker, Hans-Jürgen Raben, Marten Munsonius
Dieser Band enthält folgende Krimis
Tod über der Elbe (Hans-Jürgen Raben)
Der Tod des Senators (Hans-Jürgen Raben)
Der Fall mit dem Catcher (Alfred Bekker)
Der Fall aus der Ferne (Alfred Bekker)
Todsicher verspielt (Alfred Bekker/Hans-Jürgen Raben/Marten Munsonius)
Falsche Kunst - echter Tod (Hans-Jürgen Raben)
Schrecken aus der Tiefe (Alfred Bekker)
Gerd Eggert, Wirtschaftssenator von Hamburg, wird von einem unbekannten Scharfschützen aus sehr großer Entfernung bei der Ausstellungseröffnung eines russischen Künstlers getötet, der bei diesem Anschlag ebenfalls verwundet wird. Da gefundene Beweismittel eindeutig Richtung Russland als Verantwortlichen für diesen Mord zeigen, stellt sich die Frage, ob Eggert wirklich das eigentliche Ziel war oder Andrej Sokolow, der junge regimekritische Künstler.
Keine leichte Aufgabe für Hauptkommissar Cornelius Brock und sein Team, unter großem Druck der Politiker den oder die Schuldigen zu finden. Man geht schnell davon aus, dass der Schütze im Auftrag gehandelt hat. Aber wer ist dieser Auftraggeber und was sein Motiv?
Und dann bekommen die Ermittler unverhoffte Unterstützung aus Russland, doch statt einer Lösung merklich näher zu kommen, werden weitere Fragen aufgeworfen, die den Fall immer verworrener machen und als unlösbar erscheinen lassen – für Brock eine unvorstellbare Möglichkeit …
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
postmaster@alfredbekker.de
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Erfahre Neuigkeiten hier:
https://alfred-bekker-autor.business.site/
Zum Blog des Verlags
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!Verlags geht es hier:
Alles rund um Belletristik!
Tod über der Elbe
- Ein Fall für Brock -
von Hans-Jürgen Raben
ein Hamburg-Krimi
IMPRESSUM
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© Roman by Author
© Cover: Pixabay mit Kathrin Peschel, 2019
Lektorat/Korrektorat: Kerstin Peschel
© dieser Ausgabe 2019 by Alfred Bekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
Klappentext:
Die Wasserschutzpolizei wird durch einen unbekannten Beobachter auf eine Gestalt aufmerksam gemacht, die im großen Fenster der Elbphilharmonie zu schweben scheint. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich um den ermordeten Markus Holler, den Erben einer kleinen Reederei, handelt, der von seinen Peinigern gefoltert und an dieser Stelle so drapiert wurde, als blicke er auf eine ganz bestimmte Stelle auf der Elbe, wo sich vor einem Jahr ein tödliches Unglück ereignet hatte.
Hauptkommissar Cornelius Brock geht schnell von Rache aus, da Holler damals jenes Boot gesteuert hat, welches den Unfall verursacht hatte. Einige Zeit später taucht eine zweite Leiche auf, die in Verbindung zum Mord an Holler steht. Wie passt dieses zweite Opfer in die Gleichung der Rache? Keine leichte Aufgabe für Brock, Licht ins Dunkel der Ermittlungen zu bringen, denn je mehr er und sein Team herausfinden, desto verworrener scheint der ganze Fall zu werden und bringt die Ermittler am Ende selbst in Lebensgefahr …
Alle Namen, Personen und Taten, Firmen und Unternehmen, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären also rein zufällig.
***
1. Kapitel
Es klingelte.
Hauptkommissar Cornelius Brock tastete schlaftrunken nach dem Wecker, ohne die Augen zu öffnen. Missmutig drückte er auf die Oberseite des Störenfrieds, um ihn auszustellen.
Es klingelte weiter.
Er verdrängte die letzten Traumfetzen aus seinen Gedanken und bemühte sich, die Augen aufzukriegen. Er hasste es, früh aufstehen zu müssen, besonders am Sonntag.
Sonntag?
Da sollte der Wecker überhaupt nicht klingeln!
Brock stemmte sich hoch und blickte zum Nachttisch. Das Telefon klingelte. Das konnte um diese Zeit nur eines bedeuten: Er wurde gebraucht. Und das wiederum hieß, dass es sich um etwas sehr Unerfreuliches handelte.
Er nahm den Hörer auf und meldete sich.
Eine hektische Stimme erklang am anderen Ende. „Hauptkommissar! Sie werden dringend in der Elbphilharmonie erwartet.“
„In der Elbphilharmonie?“, blaffte Brock. „Da wollte ich zwar immer schon mal hin, aber nicht am Sonntagmorgen. Was gibt es denn?“
„Das müssen Sie selber gesehen haben“, antwortete Horst Spengler, Brocks Assistent im Dienstrang eines Kommissaranwärters. „Ich habe Ihnen einen Streifenwagen geschickt. Der müsste in Kürze bei Ihnen sein.“
Brock wohnte in einem Mehrfamilienhaus in der Alsterdorfer Straße. Eine helle und freundliche Dreizimmerwohnung in der ersten Etage mit einem Balkon. Das ältere Ehepaar, dem das Haus gehörte, wohnte im Erdgeschoss. Ihr Mieter durfte den Garten mitbenutzen, eine Möglichkeit, die Brock noch nie wahrgenommen hatte. Eine Garage gab es nicht, nur einen Stellplatz auf dem Grundstück. Von Brocks Wohnung war es nicht weit bis zu seinem Arbeitsplatz bei der Mordkommission im Polizeipräsidium.
Er warf einen Blick auf die andere Seite des Bettes. Doch dort war niemand. Sie hatten am Vorabend den Geburtstag eines Kollegen gefeiert, und Brock war sich nicht sicher, wie das Ganze geendet hatte. Glücklicherweise nicht mit einem unerwarteten Besucher in seinem Bett. Er dachte kurz darüber nach, wann ein solches Ereignis zum letzten Mal stattgefunden hatte.
Ist lange her, schoss es ihm durch den Kopf.
„Ich komme“, krächzte er in den Hörer und schwang die Füße auf den Boden. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, und er überlegte, ob das bei seinem Alter von vierzig Jahren normal war.
Er brauchte zehn Minuten im Bad und warf sich anschließend in seine Freizeitklamotten. Zuletzt steckte er die Brieftasche mit seinem Ausweis ein. Erst kurz vor der Tür bemerkte er, dass er die Schuhe vergessen hatte.
Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, nach dem Frühstück zu joggen und anschließend eine Jazz-Aufnahme aus seiner umfangreichen Sammlung von Vinyl-Platten auf den Plattenteller zu legen und entspannt die Musik zu genießen.
Als er aus der Haustür trat, wartete der Streifenwagen schon. Er durchquerte die paar Meter durch den Vorgarten und warf sich wortlos auf den Rücksitz. Die uniformierten Kollegen waren so rücksichtsvoll, ihn während der Fahrt nicht zu behelligen, und Brock verlor sich wieder in seinem so abrupt unterbrochenen Traum, in dem es wie so oft um seine geschiedene Frau ging.
Sie hatten die hübsche Wohnung in der Alsterdorfer Straße vor vier Jahren zusammen angemietet. Es dauerte nur zwei Jahre, bis sie feststellten, dass sie nicht zueinander passten. Das heißt, seine Frau hatte das festgestellt. Sie hatten sich freundschaftlich voneinander getrennt und sahen sich immer noch gelegentlich. Nach dem Auszug seiner Frau hatte Brock die Wohnung behalten. Er empfand sie eine Zeit lang kalt und leer, doch inzwischen fühlte er sich dort wieder wohl. Die Wohnung war zu seinem Rückzugsort geworden, und auch die Vermieter im Erdgeschoss waren so rücksichtsvoll, ihn nicht zu belästigen.
Dennoch empfand er einen gewissen Schmerz, wenn er an die gemeinsame Zeit dachte, und er fragte sich, ob es jemals wieder so werden könnte.
„Wir sind da, Herr Hauptkommissar“, riss ihn die Stimme des Fahrers aus seinen Gedanken.
Der Streifenwagen stoppte auf dem kleinen Platz direkt vor dem riesigen Bau der Elbphilharmonie. Brock erkannte einige Polizeifahrzeuge. Auch der Gerichtsmediziner war bereits eingetroffen.
Jetzt, Mitte Juni, war es trotz der frühen Stunde bereits taghell. Der Himmel strahlte in einem sanften Blau, und nur wenige faserige Cirruswölkchen waren zu sehen. Es würde ein schöner Tag werden, und in wenigen Stunden würde es hier vor Touristen wimmeln.
Die während der Bauphase so geschmähte Philharmonie war zu einem absoluten Anziehungspunkt für Touristen geworden und hatte schon Millionen von Besuchern angezogen.
Der Blick von der Besuchergalerie über die Stadt und den Hafen war allerdings auch spektakulär.
Brock starrte an der Fassade hoch. Er hatte sich ursprünglich auch nicht für den Bau begeistern können, doch jetzt empfand er einen gewissen Stolz darauf, dass seine Heimatstadt ein neues Wahrzeichen besaß.
„Guten Morgen, Herr Hauptkommissar!“
Sein Assistent stand vor ihm, zwei Becher Kaffee in der Hand. Brock nahm einen davon dankend entgegen. Schließlich hatte er noch nicht gefrühstückt. Dunkel erinnerte er sich, dass Spengler in der letzten Nacht Bereitschaftsdienst gehabt hatte. Das erklärte sein frühes Erscheinen.
Er trug über seinen dunkelblauen Jeans ein offenes Hemd und eine beige Popeline Jacke. Rentnerjacken nannte Brock sie insgeheim.
„Was haben wir?“, fragte er mit rauer Stimme.
„Kommen Sie hoch, ich zeige es Ihnen. Sie werden es nicht glauben.“
Der Hauptkommissar nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher. Das Getränk war lauwarm und besaß einen leichten Geschmack von Spülwasser. Angewidert verzog er das Gesicht. Er legte Wert auf einen guten Kaffee zum Frühstück. In seiner Abteilung hatte er auf eigene Kosten einen teuren Kaffeeautomaten angeschafft. Doch erst als er auch den Kaffee dazu besorgte, schmeckte er, wie er ihn mochte.
Sie identifizierten sich bei dem uniformierten Polizisten, der den Eingang bewachte. Er trug ihre Namen sorgfältig auf einer Liste ein.
Brock warf einen Blick auf die Liste. „Erstaunlich, dass unser Doktor schon anwesend ist. Normalerweise kommt er doch als Letzter.“
Spengler beugte sich zu ihm herüber und raunte: „Er kommt direkt vom Fischmarkt. Hat wohl mit seinen Freunden durchgemacht. Stellen Sie ihm keine Fragen. Er ist ziemlich angesäuert.“
Brock sah seinen Assistenten misstrauisch an, doch der meinte es offenbar ernst.
Auf dem Vorplatz hatten einige Uniformierte inzwischen Flatterband gespannt. Brock deutete auf die Garageneinfahrt. „Da darf auch keiner rein oder raus, bis wir hier fertig sind!“
Spengler zupfte an seinem Ärmel, und sie gingen zu der endlos langen Rolltreppe, die nach oben führte.
Brock war schon einmal hier gewesen. Mit einer kurzfristigen Freundin, wie er sich erinnerte. Einer sehr kurzfristigen, eigentlich nur für eine Nacht und den folgenden Tag, einen Sonntag. Er hatte sie bei einem Abendessen mit Kollegen aus verschiedenen Städten kennengelernt. Sie stammte aus Köln und wollte unbedingt die Elbphilharmonie sehen.
Damals waren viele Menschen hier gewesen, die den gleichen Wunsch verspürten. Sie waren auf der Außengalerie herumspaziert und hatten Hamburg von oben betrachtet.
Ihr Abschied war unspektakulär gewesen. Sie hatten beide gewusst, dass sich die gemeinsamen Stunden nicht wiederholen würden.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, ganz allein auf dieser Rolltreppe zu fahren.
„Es ist das große Fenster unterhalb der Plaza“, meldete sich Spengler zu Wort. „Es befindet sich im ursprünglichen Speicherbau, auf dem das moderne Konstrukt errichtet ist. Wir sind gleich da.“
„Ich weiß, wo das ist“, knurrte Brock. Die Müdigkeit hing ihm immer noch in den Knochen, und für einen Augenblick verspürte er das dringende Bedürfnis nach seinem Bett oder nach einem vernünftigen Frühstück.
Sie hatten das Ende der Rolltreppe erreicht. Dort stand ein weiterer Uniformierter und reichte ihnen Plastikbeutel, die sie über die Schuhe streifen konnten, um den Tatort nicht zu verunreinigen.
Spengler schritt eilig vor ihm her. Dann standen sie wenige Meter vor dem besagten Fenster, und Brock wurde schlagartig wach.
So etwas hatte er in der Tat noch nicht gesehen!
Mit dem Fenster hatten sich die Architekten einen besonderen Effekt einfallen lassen. Es war so in die große Öffnung eingepasst worden, dass es direkt mit der umgebenden Mauer abschloss. Dadurch war das Glas kaum zu erkennen, und man hatte den Eindruck, man könnte mit einem weiteren Schritt ins Freie treten und in die Tiefe stürzen. Viele Besucher hielten deshalb respektvollen Abstand von der Scheibe. Die Illusion war ziemlich überzeugend.
Insofern schien es, als würde der Mann in der Luft schweben, Arme und Beine weit ausgebreitet. Sein Kopf war schräg an die Scheibe gesunken.
Brock trat ein paar Schritte näher, um sich zu überzeugen, dass es real war, was er da sah.
Der Mann war offensichtlich tot. Seine Hände und Füße waren an merkwürdige Geräte gefesselt, die Brock erst aus der Nähe identifizieren konnte.
„Das sind industrielle Saugheber, mit denen Glasscheiben transportiert werden“, erklärte Doktor Fischer, der neben dem Toten stand und breit grinste.
Brock musterte den Pathologen. Er war Mitte fünfzig und machte diesen Job schon sehr lange. Er war außerordentlich gewissenhaft und übersah selten etwas. Vor Gericht war er für jeden Staatsanwalt ein Geschenk. Er ließ sich von keinem Verteidiger aus der Ruhe bringen.
Fischer war heute nicht wie üblich in einen weißen Overall gekleidet, sondern trug ein zerknittertes Sakko über verbeulten Jeans. Sein Hemd war mit Rotweinflecken verschmutzt, und die Krawatte hing auf Halbmast. Ein seltener Anblick!
Brock wandte sich wieder dem Mann an der Scheibe zu. „Die Dinger können einen Mann tragen?“
„Jeder einzelne von diesen Saughebern kann das“, sekundierte Spengler.
Brock betrachtete den Mann von allen Seiten.
„Er ist doch wirklich tot, oder?“, erkundigte er sich vorsichtshalber.
„Vermutlich schon seit gestern“, beruhigte ihn Doktor Fischer.
„Also wurde er an einer anderen Stelle umgebracht. Todesursache?“
„Er hat ein Hämatom an der rechten Kopfseite und eine Stichwunde im Nacken. Woran er genau gestorben ist, wird die Autopsie ergeben.“
Brock betrachtete einen der Saugheber. Die Hände und Füße des Toten waren an die breiten Tragegriffe gefesselt.
„Ist das ein Bergsteigerseil?“
Fischer schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Das wird die Spurensicherung klären können. Die sollten übrigens bald hier sein.“
Aus der Nähe sah Brock, dass der Kopf des Mannes mit durchsichtigem Paketband an der Scheibe fixiert war. Er ging seitlich dicht an ihn heran. Die Augen des Toten waren geöffnet und schimmerten milchig.
„Was sieht er sich dort unten an?“, fragte er wie zu sich selbst. „Hat jemand zufällig einen Laserpointer dabei?“
„Ich habe einen im Auto“, sagte Spengler. „Bin gleich zurück!“
Brock winkte den Streifenpolizisten heran, der ein paar Schritte näher gekommen war und die Szene neugierig betrachtete.
„Wer hat den Toten so früh am Morgen eigentlich entdeckt?“, fragte Brock.
„Das waren die Kollegen von der Wasserschutzpolizei“, erklärte der Uniformierte. „Na, ja, eigentlich war es ein Mann in einem Privatboot, der den Kollegen aufgefallen war, weil er die Elbphilharmonie durch ein Fernglas betrachtete. Dann haben sie es auch gesehen.“
Er deutete auf den Toten. „Also … das hier.“
„Sehr interessant“, murmelte Brock. „Was macht denn ein Mann in einem Boot um diese Zeit auf der Elbe?“
„Das haben sich die Kollegen von der Wasserschutzpolizei auch gefragt. Doch als sie dann den Gekreuzigten entdeckten …“
„… hatten sie Wichtigeres zu tun“, ergänzte Brock den Satz.
Außer Atem war Spengler inzwischen wieder zurück. Er reichte Brock einen Laserpointer, wie man ihn zur Feststellung von Schussbahnen benutzte.
Der Hauptkommissar schaltete das Gerät ein und hielt es neben den Kopf des Mordopfers, sodass der Laserstrahl in die Richtung zeigte, in der die Augen des Toten blickten. Der dünne Strahl verlor sich rasch im hellen Licht des Morgens.
„Da ist nur Wasser“, stellte Brock verblüfft fest.
„Die Elbe“, fügte Spengler eifrig hinzu.
Der vernichtende Blick, der ihn traf, ließ den Kommissaranwärter förmlich zusammenschrumpfen.
Brock gab seinem Assistenten den Laserpointer zurück. „Dann schauen Sie mal, ob Sie mehr erkennen.“
Spengler versuchte ebenfalls sein Glück. „Mitten auf die Elbe. Ein Stück weiter liegt die Cap San Diego.“
Der Streifenpolizist hatte sich indessen ebenfalls an die Scheibe bewegt. Sein Blick folgte dem dünnen Laserstrahl.
„Das ist auch ungefähr die Stelle, an der die Wasserschutzpolizei den Mann auf dem Boot angetroffen hat.“
„Ich würde nachher gern mit dem Mann sprechen“, sagte Brock.
Niemand antwortete. Brock starrte von einem zum anderen.
„Er ist wohl nicht mehr da“, bequemte sich der Uniformierte schließlich zu einer Antwort.
„Was heißt denn das?“
„Na, ja, die Kollegen haben sich nicht weiter um ihn gekümmert. Sie haben bei uns angerufen, und wir waren als Erste am Tatort. Wir mussten zunächst jemanden finden, der uns Zutritt verschaffte. Als wir bei diesem Fenster waren, haben wir das besagte Boot nicht mehr gesehen.“
Brock wandte sich an seinen Assistenten. „Machen Sie unseren Freunden bei der Wasserschutzpolizei die Hölle heiß. Ich will alles wissen, was es über diesen geheimnisvollen Fremden zu erfahren gibt. Und wenn wir schon dabei sind, finden Sie heraus, ob an dieser Stelle der Elbe irgendetwas vorgefallen ist. Es gibt bestimmt einen Grund, weshalb der Mann dorthin sieht.“
Er drehte sich zu Doktor Fischer um. „Wissen wir, wer der Tote ist?“
„Nein. Niemand hat ihn bisher angefasst. Ich selbst habe nur kurz den Zustand der Leiche geprüft, um sicher zu gehen, dass der Mann wirklich tot ist.“
Brock zupfte dünne weiße Handschuhe aus seiner Tasche, streifte sie über und tastete die Kleidung des Mannes ab. Er trug schwarze Hosen, ein graues Sakko über einem hellblauen Hemd mit offenem Kragen – keine Schuhe. In der Brusttasche steckte eine Ledermappe, die der Hauptkommissar vorsichtig herauszog. Alle anderen Taschen waren leer.
Brock schlug die Mappe auf. Sie war ebenfalls leer – bis auf einen Personalausweis.
„Markus Holler“, las er vor. „Zweiunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Hamburg. Da wollte jemand, dass wir erfahren, wer der Tote ist. Alles andere wurde entfernt.“
Der Streifenpolizist verzog sich wieder auf seinen Posten, als von der Rolltreppe her Stimmen zu hören waren.“
„Die Spurensicherung ist angekommen“, erklärte Spengler unnötigerweise.
Brock trat einen Schritt von der Leiche zurück. „Ich frage mich, ob ein einzelner Täter unseren Toten auf diese Weise an der Glasscheibe befestigen konnte.“
„Ich schätze, dass Holler zwischen siebzig und fünfundsiebzig Kilo wiegt“, sagte Doktor Fischer. „Ein großer und kräftiger Mann schafft das durchaus. Die Saugheber waren sicher schon vorher am Körper befestigt. Sehen Sie, er hängt etwas schräg. Der Täter hat zuerst seinen rechten Arm hochgezogen und den Heber aktiviert, dann den linken. Er brauchte dazu noch nicht mal eine Leiter.“
„Wie hat er den Toten hergeschafft?“, murmelte Brock. „Das Gebäude ist nachts doch sicher geschlossen. Es gibt Kameras, nehme ich an.“
„So ganz geschlossen ist es nicht“, entgegnete Spengler. „Über uns gibt es ein Hotel und außerdem Privatwohnungen. Der Zugang zu den Musiksälen ist natürlich gesperrt, doch für jemanden, der sich auskennt, dürfte es kein Problem sein, sich beispielsweise über die Garage Zutritt zu verschaffen.“
Brock spürte plötzlich, wie sein Magen knurrte. Er hoffte, dass es außer ihm niemand hörte. Das wäre an diesem Ort etwas peinlich gewesen.
„Setzen Sie unsere Kollegen an, die Möglichkeiten zu überprüfen, wie man ungesehen zu diesem Fenster kommen kann und zu welcher Zeit das möglich wäre. Sie sollen alles eventuelle Bildmaterial sichten und alle Leute befragen, die heute Nacht im Gebäude waren, einschließlich des Hotelpersonals.“
„Die Gäste auch?“
„Der Nachtportier wird wissen, wer zu ungewöhnlicher Stunde gekommen oder gegangen ist. Deren Namen will ich auch!“
Spengler entfernte sich in Richtung Rolltreppe. „Wird alles erledigt!“
Brock drehte sich zu Doktor Fischer um, der immer noch die Leiche anstarrte und dabei den Kopf schüttelte.
„Das ist wirklich ungewöhnlich“, murmelte er. „Da glaubt man, man hat alles gesehen, und dann das …“
Brock war neben ihn getreten. Er sah gedankenverloren auf die Elbe hinunter. Die nur leicht gekräuselte Wasserfläche glitzerte im Sonnenlicht.
„Was willst du uns dort unten zeigen?“, fragte er leise.
Die Leute von der Spurensicherung hatten sich hinter ihm versammelt und betrachteten verblüfft den Toten. So etwas war auch für sie neu.
„Können wir anfangen?“
Brock drehte sich zu der jungen Frau um, die in ihrem weißen Overall vor ihm stand. Er nickte.
„Sie bekommen die Ergebnisse der Obduktion so schnell wie möglich“, sagte der Mediziner.
„Ihr Schlusswort könnten Sie auch mal ändern“, knurrte der Hauptkommissar und verließ den Tatort.
*
Kommissaranwärter Horst Spengler sah den jungen Wasserschutzpolizisten, der sich als Detlef Schwenke vorgestellt hatte, streng an. „Erzählen Sie alles noch mal von vorn.“
Sie befanden sich in einem hässlichen Büro, das mit ziemlich alten Möbeln ausgestattet war. Der Beamte war nervös und knetete seine Finger ununterbrochen. Nachdem Spengler sich vorgestellt hatte, stand er vor ihm und sah auf ihn herunter.
„Unsere Schicht hatte gerade begonnen. Wir hatten unseren Liegeplatz verlassen und waren mit dem leichten Hafenstreifenboot auf Patrouille.“
„Das ist mir soweit klar“, unterbrach Spengler mit einem Versuch, die sarkastischen Bemerkungen seines Chefs zu imitieren, was ihm jedoch nicht vollständig gelang.
„Na, ja, wir wollten als Erstes das Kreuzfahrtterminal kontrollieren und standen querab zur Elbphilharmonie …“
„Querab? Was heißt das?“
Der junge Beamte sah Spengler entschuldigend an. „Das bedeutet rechtwinklig zur Längsrichtung des Schiffes.“
„Aha“, nickte Spengler, doch man sah ihm an, dass er die Definition nicht ganz begriffen hatte.
„Dann entdeckten wir das Boot. Das heißt, gesehen haben wir es schon vorher. Doch ich bemerkte, dass es bewegungslos im Strom lag. Ein Mann stand hinter dem offenen liegenden Steuerpult und hatte ein Fernglas auf die Elbphilharmonie gerichtet. Ich habe unserem Bootsführer ein Zeichen gegeben, doch er hatte ebenfalls alles gesehen und hielt bereits auf das fremde Boot zu. Es war noch sehr früh am Morgen, und private Boote sind da eher selten zu sehen.“
„Was geschah dann?“
„Mit bloßen Augen konnte ich nicht erkennen, worauf der Mann blickte. Also nahm ich auch ein Glas und entdeckte ziemlich schnell, dass an dem großen Fenster der Elbphilharmonie eine Person klebte. Inzwischen hatte uns der Mann auf dem Boot gesehen. Wir gingen längsseits, und unser Polizeiobermeister fragte ihn, was er da mache. Er sagte, dass er zufällig die Person am Fenster bemerkt habe, als er auf dem Rückweg zu seinem Liegeplatz war. Wir haben sofort die Zentrale informiert und Kurs auf die Philharmonie genommen.“
Auf Spenglers Stirn erschien eine tiefe Falte. „Um den Mann auf dem Boot haben Sie sich nicht weiter gekümmert?“
Der junge Beamte hob die Schultern. „Er konnte kaum etwas mit der Sache zu tun haben. Also ließen wir ihn dort zurück.“
„Großer Fehler!“, knurrte Spengler. „Wir glauben, dass der Unbekannte durchaus etwas mit dem Mord zu tun haben könnte, doch dank Ihrer mangelnden Weitsicht wissen wir nicht, wer er ist.“
„Mord?“
„Glauben Sie, da hat sich einer freiwillig an die Scheibe geklebt?“
Schwenke schwieg und senkte den Kopf.
„Wir können das Boot bestimmt finden“, sagte er schließlich. „Ich weiß, wie es aussieht. Auf dem Fluss ist es schwer, ein Schiff zu verstecken. Es war nach einer Frau benannt.“
„Nach einer Frau?“, wiederholte Spengler überrascht. „Welche Frau?“
„Ich meine einen weiblichen Vornamen, es war irgendwas mit A. Anja oder Anna. Vielleicht auch Alina oder Anke.“
„Das ist doch ein Anfang. Es wird doch ein Schiffsregister geben, in dem die Namen aller Boote verzeichnet sind.“
Schwenke nickte. „Ja, das gibt es. Wir werden das überprüfen.“
Spengler richtete sich zu seiner vollen Größe von ein Meter siebzig auf. Er war der festen Überzeugung, dass damit auch seine Autorität wuchs. Dann wurde ihm bewusst, dass seine Freizeitkleidung – Jeans, leichte Jacke, Sneakers – diesem Anspruch nicht gerecht wurde. Er schätzte korrekte Kleidung sehr, doch für den nächtlichen Bereitschaftsdient hatte er sich nicht die Zeit für eine entsprechende Auswahl genommen.
„Außerdem sollten Sie sofort damit beginnen, das Boot zu suchen. Wir müssen es unbedingt finden, es hängt mit unserem Fall zusammen.“
„Jawohl, Herr Spengler. Ich werde meinen Vorgesetzten informieren.“
„Kommissaranwärter Spengler, wenn ich bitten darf.“
„Jawohl, Herr Kommissaranwärter!“
Er drehte sich um und marschierte zur Tür. Dann fuhr er plötzlich wieder herum, als ihm einfiel, worüber sein Chef gegrübelt hatte.
„Sagen Sie, diese Stelle in der Elbe, an der Sie das Boot angetroffen haben, ist da mal irgendetwas passiert?“
Der junge Beamte zog seine Stirn in Falten und dachte offensichtlich nach. Dann hellte sich sein Gesicht auf.
„Ja, jetzt, wo Sie danach fragen … Da war wirklich mal was. Letztes Jahr beim Hafengeburtstag hat es etwa an dieser Stelle einen Unfall gegeben. Eine kleine Privatjacht hat ein Motorboot gerammt. Dabei ist jemand ums Leben gekommen. Ein Mann, glaube ich.“
„Wo sind die Unterlagen darüber?“, fragte Spengler scharf und freute sich schon auf Brocks Gesicht, wenn er ihm die Neuigkeit mitteilte.
„Die müssten auf unserem Revier sein.“
„Sorgen Sie für Kopien. Aber heute noch!“
Der junge Beamte nickte nur müde. Seinen Sonntagsdienst hatte er sich anders vorgestellt.