Lady Hamilton

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»Was denn?« fragte Amy. – »Ob die Dame, welche mir ihre Adresse gegeben, wieder nach London zurückgekehrt ist.« – »Eine Dame hat dir ihre Adresse gegeben?« – »Ja.« – »Und sie wohnte in London?« – »Ja.« – »Und zu welchem Zweck hat sie dir ihre Adresse gegeben?« – »Ich soll Gesellschafterin bei ihr werden. Sie bietet mir zehn Pfund monatlich. – »Zehn Pfund monatlich und du zögerst noch!« – »Ich habe dir ja schon gesagt, daß ich sie vor kaum vierzehn Tagen am Meeresstrande, nicht weit von Mr. Hawardens Hause sah.« – »Wo wohnte sie denn hier?« – »Ich hörte, daß sie von Park Gate sprachen.« – »Sie sprachen? Dann war sie also nicht allein?« – »Nein, sie war von einem Maler begleitet, welcher seinerseits sich erbot, mir allemal, wenn ich ihm eine Stunde Modell stünde, fünf Pfund zu geben.« – »Wie! Du hast eine Dame gefunden, welche dir zehn Pfund monatlich bietet, wenn du ihre Gesellschafterin sein willst, und einen Maler, welcher dir fünf Pfund für die Sitzung bietet, und du hast dies alles zurückgewiesen! Wenn du katholisch wärest, so würde ich vermuten, daß du einmal nach dem Tode heiliggesprochen sein wolltest. Laß' uns unverweilt aufbrechen, Emma. Du wirst erst dein Glück und dann das meinige machen.« – »Wenn es nur möglich wäre zu erfahren, ob sie noch in Park Gate, oder ob sie wieder abgereist sind.« – »Nichts leichter als dies.« – »Wieso?« – »Nun, haben wir nicht Dick, der auch gern nach London gehen möchte, und den wir, da wir reich sind, mit in den Kauf nehmen werden? Welchen Tag gehst du mit deiner Herrschaft auf's Land?« – »Alle Sonntage.« – »Nenne mir die Namen deines Malers und deiner Dame.« – »Der Maler heißt Mr. Romney, die Dame Miß Arabella.« – »Mr. Romney – Miß Arabella – und im Park Gate nachfragen, ob sie noch da sind? Sei unbesorgt, ich werde nichts vergessen; Sonnabend abends reise ich mit Dick nach Chester. Sonntag zehn Uhr morgens werde ich am Meerestrande spazieren gehen, dort werden wir uns treffen und ich gebe dir Antwort.« – »Aber du wirft Dick um seinen Dienst als Schafhirt bringen.« – »O, Dick hütet die Schafe schon längst nicht mehr.« – »Was macht er denn?« – »Das weiß ich selbst nicht recht. Wahrscheinlich treibt er ein wenig Schmuggelhandel.«

»Ach, mein Gott, die Schmuggler kommen ja auf die Galeeren! « – »Ja, wenn man sie ertappt. Dick aber ist schlau und läßt sich nicht erwischen. Da er jedoch anfängt an unserer Küste sehr bekannt zu werden, so wäre es ihm nicht unlieb, ein wenig anderswohin zu können. Also Sonntag?« – »Ja, Sonntag! aber versprechen kann ich dir nichts.« – »Wer verlangt denn, daß du etwas versprechen sollst? Wenn wir dort sind, werden wir sehen. Auf alle Fälle vergiß weder dein Geld noch deinen Koffer.«

Und Amy entfernte sich mit sorglosem, leichtem Tritte, welcher bewies, daß sie, was sie selbst betraf, mit sich vollkommen einig war. Ich blieb einen Augenblick unbeweglich und gedankenvoll noch auf derselben Stelle stehen; dann entfernte ich mich ebenfalls nachdem ich noch einen letzten Blick in den großen Spiegel geworfen. Unglücklicherweise gab mir der Spiegel denselben Rat wie Amy Strong.

5. Kapitel.

Am nächstfolgenden Sonntage gingen wir wie gewöhnlich und zu derselben Stunde wie am Sonnabende vorher auf's Land. Das Pferd erhielt die drei gewohnten Peitschenhiebe und nach Verlauf von zwei Stunden zehn Minuten stiegen wir aus. Ich hatte Amy's Ratschläge nicht vergessen. Ich hatte meine sieben Pfund mitgenommen, zu welchen mittlerweile noch die zwölf Schillinge gekommen waren, welche Mr. Thomas Hawarden mir am Tage vorher ausgezahlt. Nur bedurfte ich nicht eines Koffers, um meine Garderobe zu verwahren, sondern eine mit den vier Zipfeln zusammengebundene Serviette genügte vollkommen. – Es wäre schwierig, die Gefühle auszudrücken, welche in mir erwachten, als ich das Haus betrat, welches ich jetzt vielleicht zum letzten Male wiedersah, wo ich wahrscheinlich meine letzte Nacht verbrachte, um mich dann in der folgenden als Flüchtling davon zu entfernen, ohne zu wissen, wohin ich ginge und in welche neue und unbekannte Welt ich mich unter der Obhut jener launenhaften Gottheit hineinwagte, welche man den Zufall nennt. Ich überlegte für den Fall, daß meine Flucht fest beschlossen wäre, worin die Hindernisse bestünden, die ich zu überwinden haben würde. Unglücklicherweise waren dieselben nicht von der Art, daß ein so überspannter Kopf wie der meinige dadurch hätte aufgehalten werden können. Die Kinderstube, welche auch zugleich mein Zimmer war, befand sich im Erdgeschosse und ging in den Garten. Die Tür des Gartens führte auf den Strand und auf diesem Strande konnten Amy und Dick, welche ihrerseits keiner Überwachung unterworfen waren, mich erwarten. Am nächstfolgenden Tage zu der verabredeten Stunde war ich mit am Strande. Dick und Amy erwarteten mich gerade an der Stelle, wo ich einen Monat vorher Mr. Romney und Miß Arabella begegnet war. Sie hatten, wie ich nun hörte, Park Gate schon vor drei Wochen verlassen. Wohin sie gereist waren, konnte man nicht sagen; da sie sich aber nach Chester hatten fahren lassen, so stand mit Wahrscheinlichkeit zu vermuten, daß sie nach London gegangen waren.

Amy war der Meinung, daß wir auf alle Fälle abreisen müßten. Es war dies auch die Meinung Dicks, dem noch mehr als seiner Schwester daran zu liegen schien, sich von der irischen Küste so bald als möglich zu entfernen. Da sonach von drei Stimmen zwei sich für die Abreise erklärten, so trug die Majorität den Sieg davon. Die Personenpost ging am nächstfolgenden Tage früh sechs Uhr ab und Amy war so vorsichtig gewesen, unsere zwei Plätze im Inneren und den ihres Bruders auf dem Dache zu bestellen. Um Mitternacht – eher fortzukommen war mir unmöglich – sollten Amy und ihr Bruder an der Tür des Gartens sein. Ein Boot sollte uns erwarten und uns nach Chester bringen, wo wir wenigstens eine Stunde vor Abgang der Personenpost anlangen mußten. Nachdem diese Verabredung getroffen war, entfernten sich Amy und Dick. Der Tag verging mit seiner gewöhnlichen Regelmäßigkeit. Ich habe oft bemerkt, daß nichts schneller vergeht als die regelmäßigen Tage oder vielmehr, wenn sie einmal vorbei sind, nichts schneller zu sein scheint, weil, da sie durch kein hervorragendes Ereignis bezeichnet werden und nur unbestimmte Erinnerungen zurücklassen, diese Erinnerungen in der grauen, monotonen Färbung eines Lebens ohne Freude und ohne Schmerzen sich vermischen.

Der Abend kam. Man brachte die Kinder zur gewohnten Stunde zu Bett. Ich aß mit Mr. und Mistreß Hawarden zu Abend und kehrte dann Schlag zehn Uhr in mein Zimmer zurück. Ich hatte die Vorsicht gebraucht, mir vorher Feder, Tinte und Papier hineinzutragen, denn ich hatte zwei Briefe zu schreiben, den einen an Mr. Hawarden, den andern an meine Mutter. Ich schrieb an Mr. Hawarden, um ihm für die Güte zu danken, die er mir bewiesen, und um ihm zu sagen, daß ich niemals das Jahr vergessen würde, welches ich so glücklich gewesen, in seinem Hause zu verleben. Infolge eines Wunsches, der mächtiger wäre, als mein Wille, würde ich jedoch nach jenem Lande der Chimären gelockt, welches man London nennt. Ich ginge, mich seinem Gebet und dem seiner Gattin empfehlend, fort wie ein Seefahrer, der in ein gebrechliches Fahrzeug steigt und in ein ihm unbekanntes Meer hineinsteuert. An meine Mutter schrieb ich, daß ich, weil ich in London bei einer reichen Dame – anderweite Auseinandersetzungen fügte ich nicht hinzu – einen ganz ausgezeichneten Platz gefunden hätte, der mir zehn Pfund Sterling monatlich eintragen würde, nach dieser Stadt abreiste. Wenn der Platz, fügte ich hinzu, wirklich so wäre, wie man mir gesagt, so würde ich nicht säumen, ihr meine Dankbarkeit für die Mühe und Sorgfalt zu beweisen, welche sie auf meine Erziehung verwendete. Ich sagte noch – und dies war auch beinahe wahr – wenn ich ihr noch nichts von diesem Platze gesagt, und wenn ich nicht persönlich von ihr Abschied nähme, so läge der Grund darin, daß ich, wenn sie mich einmal wieder in ihren Armen hielte, nicht mehr den Mut haben würde, mich von ihr zu trennen. Nachdem ich diese Briefe geschrieben, versiegelte ich sie, schrieb die Adressen darauf und fühlte mich nun ein wenig ruhiger. In einem anderen Hause hätte ich fürchten können, daß die Herrschaft sich vielleicht später zu Bett legte als gewöhnlich, oder daß ein verspäteter Arbeiter mir im Garten begegne. In Mr. Hawardens Haus herrschte aber zu große Pünktlichkeit, als daß mir ein Unfall dieser Art hätte begegnen können.

Ich hörte es elf und dann halb zwölf in der Uhr im Speisezimmer schlagen, die ebenso genau gestellt wurde wie die Mr. Hawardens in der Stadt, ausgenommen daß sie anstatt Sonnabends mittags erst Sonntags zu derselben Stunde aufgezogen wurde. Ich ließ noch ziemlich zehn Minuten vergehen. Ich küßte die beiden Kinder, welche durch die Regelmäßigkeit, womit sie schliefen, ihre unbestreitbare Abkunft verrieten. Dann öffnete ich das Fenster und stieg in den Garten hinaus, worauf ich die beiden Flügel, wenn auch nicht wieder zu schließen, doch möglichst fest anzudrücken suchte. Am Fuße des Fensters mußte ich einen Augenblick stehen bleiben. Obschon ich nicht viel zu fürchten hatte, so pochte mir das Herz doch gewaltig. Übrigens war die Nacht dunkel und seitdem ich Hawarden bewohnte, hatte ich mir wieder die kindische Furcht angewöhnt, welche die Finsternis einflößt; eine Furcht, die ich, als ich auf dem Pachthofe war und ganze Tage im Gebirge zubrachte, niemals empfunden hatte. Nach einigen Sekunden schwand diese Furcht, welche ihren Grund mehr in dem Schritt, den ich tat, als in den Verhältnissen hatte, unter welchen er geschah, aus meinem Gemüt hinweg. Meine Augen gewöhnten sich an das Dunkel. Dank dem Kies, womit der Weg bestreut war, sah ich denselben sich vor mir hinschlängeln wie ein langes graues Band.

Dieses Band führte gerade nach der Gartentür, durch welche hinaus man auf den Meeresstrand gelangte. Ich begann auf diese Tür zuzueilen. Als ich an derselben angelangt war, blieb ich stehen. Es war mir, als hätte ich auf der andern Seite der Wand sprechen hören. Es war dies jedoch durchaus nicht zu verwundern, da ja Dick und Amy mich hier erwarten sollten. Ich atmete wieder auf und fragte leise: »Bist du es, Amy?« Amys Stimme antwortete mir bejahend. Überdies hörte ich dieselbe Stimme, welche zu Dick sagte: »Sie ist es; sie ist da.« Es war augenscheinlich, daß trotzdem, was diesen Morgen verabredet worden, die beiden Geschwister gefürchtet hatten, ich würde nicht Wort halten. Ich öffnete die Tür und brauchte zu diesem Zwecke bloß den Schlüssel umzudrehen. In der Tat war wohl nie eine Flucht, welche so seltsame Resultate zur Folge haben sollte, von so wenigen romantischen Abenteuern begleitet. Hinter der Tür standen Dick und Amy. Ich bemerkte, daß Dick mit einer Kugelbüchse und mit einem Paar Pistolen bewaffnet war. Er war jetzt ein großer, starker Bursche von achtzehn Jahren, und schien viel Mut und Entschlossenheit zu besitzen. Wir machten die Tür wieder zu. Dick, der sich des Schlüssels bemächtigte, verschloß sie von außen, damit, wenn wir fort wären, niemand in den Garten gelangen könnte, und warf den Schlüssel über die Mauer. Ein kleines Boot erwartete uns, auf dem Strand liegend, in einer Entfernung von wenigen Schritten. Wir, Amy und ich, stiegen hinein. Dick schob es in das Wasser und sprang in dem Augenblick, wo es sich auf dem Meeresspiegel zu schaukeln begann, ebenfalls mit hinein. Dann bemächtigte er sich der Ruder und begann dieselben kräftig zu handhaben.

 

Es war, wie ich mich entsinne, in einer schönen Nacht des Jahres 1777, in der Nacht vom 15. zum 16. Juli, wo ich dieses friedliche Haus, welches ich nicht wieder sehen sollte, verließ und von allen meinen Erinnerungen der Jugend und Unschuld schied, die sich mir hinfort nur noch im Traume vergegenwärtigen sollten, so daß ich wie Francesca von Rimini sagen konnte: »Die bitterste Erinnerung im Schmerz ist die Erinnerung an die Tage des Glücks.«

Siebenunddreißig Jahre sind seit jener Nacht vergangen, aber wenn ich die Augen schließe und mich in meine Gedanken versenke, so ist es mir, als wäre es erst gestern gewesen, und ich sehe alle jene Gegenstände wieder, welche in jenem Augenblick mir ins Auge fielen und mein Gemüt beschäftigten. Der Himmel war schwarz, aber nur infolge der Abwesenheit des Mondes. Tausende von Sternen funkelten in dem dunklen Azur und spiegelten sich in dem noch dunklern der Fluten des Meerbusens.

Mr. Hawardens Haus, an welchem wir still vorbeiglitten, indem wir eine sich schnell wieder verlierende Furche hinter uns ließen, hob sich zu unserer Rechten ab wie eine graue Masse. Auf dem Gipfel des kleinen Hügels an der Küste, welche wir soeben verlassen, schimmerte ein Leuchtfeuer und auf der entgegengesetzten Küste bellte ein Hund in einem unsichtbaren Gehöft.

Gegen drei Uhr landeten wir am anderen Ufer des Meerbusens. Dick ruderte sein Boot in die Nähe einer kleinen am Strande liegenden Schaluppe. Auf sein Anrufen richteten zwei Männer sich empor. Er wechselte einige Worte mit ihnen, übergab ihnen seine Waffen, drückte dem einen die Hand, umarmte den andern und reichte uns die Hand, um uns beim Aussteigen behilflich zu sein.

Wir schlugen den Weg nach Chester ein, welches ungefähr eine Stunde Weges von dem Strande entfernt lag. Für Landbewohner wie wir war eine Stunde Weges eine Kleinigkeit. Ich trug mein kleines Paket. Das Amys, welches ein wenig umfangreicher war als das meinige, ward von Dick getragen, welcher höchstwahrscheinlich für seine Person nichts weiter besaß, als was er auf dem Leibe trug.

Mit Tagesanbruch kamen wir in Chester an. Dick führte uns in eine Art Wirtshaus, welches nicht weit von dem Personenpostbureau stand. Amy und ich genossen hier jede eine Tasse Milch. Dick, der weniger der Lebensweise der Hirten huldigte als wir, trank ein Glas Branntwein. Die Stunde verging wohl oder übel und um sechs Uhr stiegen wir in den Postwagen. Auf der Reise ereignete sich nichts, was hier besonders erwähnt zu werden verdiente. Wir passierten mehrere größere Städte Englands, Lichfield, Coventry, Oxford, und am dritten Tage, gegen vier Uhr nachmittags, langten wir in London an. Dick hatte die Adresse eines kleinen Gasthauses, wo einige Erkennungsworte ihm sofortigen Willkommen bereiten mußten, denn der Wirt des Gasthauses stand, wie es schien, mit sämtlichen Schleichhändlern der Küste in Verbindung. Dieses Gasthaus stand in Billiers-Street, einer kleinen Straße, die einerseits an die Themse, andererseits an den Strand stößt. Ich gestehe, daß ich bei meinem Einzug in London mehr Schrecken als Bewunderung fühlte. Die sich nach allen Richtungen kreuzenden Wagen, dieses Getöse, unter welchem das des Donners vergebens versuchen würde, sich hörbar zu machen, diese mehr rennenden als gehenden Fußgänger, die Atmosphäre, welche, anstatt rein und durchsichtig wie auf dem Lande zu sein, jetzt grau und dick geworden war, das erbärmliche Gasthaus endlich, in welchem wir nach einer Reise von sechzig Stunden abstiegen, alles dies war nicht geeignet, meine Träume auf poetische oder goldene Weise zu verwirklichen. Dick verlangte für Amy und mich ein Zimmer. Da die Ungewißheit, in welcher ich mich in bezug auf die Anwesenheit der Miß Arabella in London befand, mir keinen Augenblick Ruhe ließ, so nahm ich, sobald ich Toilette gemacht und während Amy ausruhte, Dicks Arm und ließ mich von ihm nach Oxfordstreet führen. Dick kannte den Weg, der nach diesem Ziele aller meiner Hoffnungen führte, ebensowenig als ich. Er erkundigte sich jedoch und dank seiner auf dem Wege, den wir zu verfolgen hatten, jeden Augenblick erneuten Fragen gelangten wir binnen weniger als einer Viertelstunde nach Oxfordstreet. Die Nummer 23 stand auf der Tür eines allerliebsten kleinen Hotels eingraviert, und man sah durch das Gittertor hindurch und über den Hof hinweg das üppige Grün eines Gartens.

Ein Schweizer in kostbarer Livree stand unter dem Haupteingang. Nur mit einer gewissen Furcht richtete ich das Wort an eine Persönlichkeit, die mir so bedeutend erschien, und fragte sie mit vor doppelter Gemütsbewegung zitternder Stimme, ob Miß Arabella in London sei. »Was wollen Sie von Mylady?« fragte der Schweizer. – »Ich hatte vor ungefähr einem Monate die Ehre sie in Chester zu treffen,« antwortete ich. »Sie sagte mir, ich sollte sie in London aufsuchen und hier ist die Adresse, welche sie mir gegeben.« Der Schweizer zog die Schnur einer Glocke, die Glocke läutete und eine Art Zofe, eine Frau von etwa vierzig Jahren, kam die Treppe herunter. »Antworten Sie diesem jungen Mädchen, Mistreß Norton,« sagte der Schweizer, indem er seine würdevolle Haltung und seine majestätische Unbeweglichkeit wieder annahm. Ich wiederholte der Dienerin, was ich zu dem Schweizer gesagt, und überreichte ihr die Adresse, welche Miß Arabella mir gegeben. »Ja, das ist in der Tat Mylady's Handschrift,« sagte die Dienerin, nachdem sie gelesen, »unglücklicherweise ist sie jetzt nicht in London.« – »O mein Gott! Wo ist sie denn? Ich bin ja einzig und allein in der Absicht nach London gekommen, um sie aufzusuchen.« – »Der letzte Brief, den wir von ihr erhalten haben, war von Dover. Sie meldete uns darin, daß sie sich nach Frankreich einschiffte.« – »Und,« fragte ich, während diese erste Täuschung mir das Herz zusammenschnürte, »wissen Sie nicht, wann sie vielleicht wiederkommt?« – »Nein, es ist bloß wahrscheinlich, daß sie zur Zeit der Wettrennen wieder hier sein wird.« – »Und wann werden diese Wettrennen stattfinden?« – »Vom 15. bis 25. August.« – »Was sollen wir tun?« fragte ich Dick, indem ich mich nach ihm herumdrehte. – »Wir können weiter nichts tun, als warten,« antwortete er. – »Wenn Sie Ihren Namen aufschreiben wollen, Miß,« sagte die Dienerin, »so wird man, sobald Mylady zurückkommt, ihr denselben geben.« – »Das werde ich sehr gern tun.« – Mit diesen Worten trat ich in die Loge des Schweizers und schrieb auf ein Blatt Papier: »Emma Lyonna.« – »Sie werden die Güte haben,« setzte ich hinzu, »Mylady zu sagen, daß das junge Mädchen dagewesen ist, welchem sie in Wales am Meeresstrande begegnet ist und welchem sie ihre Adresse mit der Aufforderung gegeben, sie in London zu besuchen.« – »Und wo wird man Sie finden, wenn Mylady befiehlt, daß man Sie suche?« – »Das weiß ich selbst noch nicht und ich weiß auch nicht, was mittlerweile aus mir werden wird.« – »Vor der Hand,« setzte Dick hinzu, »wohnen wir –« Ich unterbrach ihn, denn ich begriff sofort, daß die Nennung unserer Herberge uns eben nicht sonderlich zur Empfehlung gereichen würde. »Vor der Hand,« sagte ich, »wird man bei Mr. James Hawarden, Chirurg in Leicester Square, stets erfahren können, wo ich bin. Wünschen Sie, daß ich die Adresse dieses Herrn unter meinem Namen schreibe?« – »Das ist nicht nötig. Er hat Tom kuriert, als dieser das Bein gebrochen hatte.« – »Ich danke. Und nun,« sagte ich zu Dick, »sei so gut, mich zu Mr. Hawarden zu führen.« – Dick erkundigte sich nach dem Wege, den wir nun einzuschlagen hätten. Glücklicherweise war Leicester Square nicht sehr weit von Oxfordstreet entfernt und wir lenkten unsere Schritte sofort nach dem neuen Ziele.

6. Kapitel.

Mr. James Hawarden war nicht zu Hause, doch sollte er noch vor sieben Uhr zurückkommen und es war jetzt halb sechs. Man forderte mich auf, so lange zu warten. Ich bat Dick, in unser Gasthaus, welches nicht weit von Leicester Square entfernt sein konnte, zurückzukehren und mich in einer Stunde abzuholen. In der Tat lag Leicester Square am Wege und ungefähr auf der Hälfte von Oxfordstreet bis zur Themse, auf welche die Fenster unseres Zimmers gingen. Nach Verlauf einer halben Stunde hörte ich drei- oder viermal an die Tür pochen. Es war der Hausherr, welcher zurückkam und sich auf diese Weise ankündigte. Er trat in die Art Sprechzimmer, wo ich ihn erwartete, und obschon es mittlerweile beinahe Abend geworden war, so erkannte er mich doch sofort. »Ah, Sie sind es, mein schönes Kind!« sagte er zu mir mit einem Lächeln, welches einen gewissen Anflug von Wehmut hatte. »Ich dachte mir, als ich Hawarden verließ, wohl, daß ich Sie bald in London sehen würde.« – »Ist das ein Vorwurf, den Sie mir da machen, Sir?« fragte ich ihn. – »Nein, die Jugend ist abenteuersüchtig und die Schönheit hat ihre glücklichen oder verderblichen Geschicke, denen sie nicht entrinnen kann. Wollen Sie mit in mein Kabinett kommen? Dort können wir besser plaudern und ich vermute, daß Sie mir mancherlei mitzuteilen haben werden.« – »Wenn Sie die Güte haben wollen, mich anzuhören, ja, Sir.« – »Nun so kommen Sie, mein Kind.« – Mit diesen Worten ergriff er einen Armleuchter mit drei Kerzen und ging mir voran.

Wir traten in ein einfaches, aber zugleich elegantes Kabinett und nahmen darin Platz. – »Nun, Sie sind also da,« hob er dann an, »was gedenken Sie hier zu tun?« – »Sir,« sagte ich zu ihm, »als ich Sie fragte, ob Sie Mr. Romney kennten, und ich Ihnen sagte, er wäre mit einer der Pensionärinnen bei Mistreß Colman verwandt, belog ich Sie.« – Mr. Hawarden lächelte in eigentümlicher Weise. »Sie irren sich, Sir,« sagte ich errötend. »Ich habe Mr. Romney nur ein einzigesmal gesehen. Er war am Meeresstrande in Gesellschaft einer Dame, welche Miß Arabella hieß.« – »Ja,« sagte Mr. Hawarden, »man hat mir allerdings erzählt, daß er mit ihr herumstreicht.« – »Jetzt,« hob ich wieder an, »lassen Sie mich Ihnen die Wahrheit sagen.« – Ich erzählte ihm nun unsere Begegnung in allen ihren Einzelheiten, wie Miß Arabella mir ihre Adresse gegeben und welche Anerbietungen wir beide gemacht. Ich sagte ihm, ohne ihm etwas zu verschweigen, wie ich das Haus seines Vaters verlassen, wie ich nach London gekommen sei und welchen vergeblichen Besuch ich soeben in Oxfordstreet gemacht. Er ließ mich reden, dann sah er mich fest an, und faßte meine beiden Hände in die seinigen. »Mein Kind,« sagte er in sehr sanftem, aber zugleich gewissermaßen feierlichem Tone, »wenn man so alt ist, wie Sie und Ihre Schönheit besitzt, so gibt es zwei Wege, welche man im Leben verfolgen kann. Der eine führt einfach und gerade durch eine ruhige, eintönige Ebene und durch Ehe und Mutterschaft zu einem ehrenwerten und geehrten Alter. Der andere steigt bald, um die Aussicht auf einen glänzenden Horizont zu gewähren. Bald senkt er sich und führt durch schmutzige Moräste. Schlägt man diesen Weg ein, so erlangt man das Ziel des Lebens in drei Stationen. Die erste heißt Stolz, die zweite Reichtum, die dritte Schande. Sie stehen jetzt an dem Scheidepunkte dieser zwei Wege. Wissen Sie, welchen Sie wählen werden?« – »Ach, Sir, können Sie mich das fragen?« – »Ja, mein Kind, ich kann und muß Sie fragen, denn, bemerken Sie wohl, ich bin nicht bloß Sittenprediger, sondern auch, und zwar vorzugsweise, Philosoph. Nun glaube ich nicht, wie gewisse absolute Geister behaupten, daß der Mensch vollkommen seinen freien Willen habe. Ich glaube an die unwiderstehliche Macht der Materie über die Seele noch mehr als an die absolute Herrschaft der Seele über die Materie. Wenn Sie auch den geraden und einfachen Weg einschlagen, so werden doch bald die Dunkelheit der Nacht, bald der Rausch der Sinne Sie davon hinwegleiten. Gute Ratschläge und ein guter Führer werden Sie wieder auf den geraden Weg bringen. Ich werde, wenn Sie wollen, dieser Ratgeber und dieser Führer sein; es liegen aber in gewissen Organisationen gewisse Urbedingungen, über welche weder Ratschläge noch Beispiele zu triumphieren vermögen. Diese eigentümlich geschaffenen Organisationen stößt die Gesellschaft von sich, das Gesetz straft sie, die Wissenschaft aber beklagt sie und spricht sie zuweilen von aller Schuld frei. Dennoch aber ist es immer besser, wenn man den guten Weg einschlägt, als wenn man den schlimmen wählt. Es ist schon eine Gnade der Vorsehung, daß Sie jene Dame nicht zu Hause angetroffen haben. Wollen Sie mir versprechen, freiwillig nicht wieder zu ihr oder zu Mr. Romney zu gehen, so will ich mich dann in allem Ernste mit Ihnen beschäftigen.« Ich schwieg. »Sie zögern?« sagte er. – »Nein, Sir,– aber ich hatte mich goldenen, melodischen Träumen hingegeben. Man hat mir so oft gesagt, daß ich, wenn ich nach London käme, mein Glück machen würde, und ich bin hierhergekommen, ohne mich weiter zu fragen, auf welche Weise dieses Glück sich mir bieten würde. Verlange ich zu viel, wenn ich Sie bitte, mir fünf Minuten Zeit zu lassen, damit ich erst diese Träume aus meinen Gedanken verbannen kann?« – »Armes Kind!« murmelte der Arzt. Ich saß eine Weile stumm und gedankenvoll da. Ich fühlte seinen Blick auf mich geheftet. Es war mir, als dränge dieser Blick mir bis in die innerste Seele und verliehe derselben eine Willenskraft, die ihr bis dahin unbekannt gewesen.

 

»Sir,« hob ich nach Verlauf von einigen Augenblicken wieder an, »ich verspreche Ihnen, weder Miß Arabella noch Mr. Romney wiederzusehen zu suchen. Ich verspreche Ihnen, nicht zu diesen Personen zu gehen, aber – aber wenn dieselben zu mir kommen, wenn ich ihnen begegne, ohne sie zu suchen, dann verspreche ich Ihnen nicht, daß ich die Kraft haben werde, der Versuchung zu widerstehen.« – »Sie werden getan haben, was Sie gekonnt,« antwortete Mr. Hawarden, »und mehr kann man von einer Tochter Eva's nicht verlangen.« In diesem Augenblick ward zweimal an der Tür gepocht. Diese beiden Schläge verrieten die untergeordnete Stellung des Pochenden. Ich erschrak. »Was ist Ihnen?« fragte mich der Arzt. – »Sir,« sagte ich zu ihm, »wahrscheinlich ist es Dick, der Bruder meiner Freundin Amy Strong, welcher mich abholen will. Wenn Sie aber wollen, daß ich Ihre guten Ratschläge befolge, so lassen Sie mich nicht zu meiner Freundin zurückkehren. Sie ist es, die mich mit nach London gelockt hat, und wenn ich zu Grunde gehe, so ahne ich, daß es durch sie geschehen wird.« – »Gut. Sagen Sie, Sie blieben diese Nacht bei mir, und ich behielte Sie da, weil ich Ihnen versprochen hätte, Ihnen morgen ein Unterkommen zu verschaffen.« Der Diener, der mich in das Sprechzimmer geführt, öffnete die Tür des Kabinetts und sagte, zu seinem Herrn gewendet: »Sir, der junge Mensch, welcher die junge Dame gebracht hat, ist da und will sie wieder abholen.« – »Laßt ihn hereinkommen,« sagte Mr. Hawarden. Dann öffnete er eine Tür, welche in einen Salon führte, in welchem eine junge Frau von drei- oder vierundzwanzig Jahren mit einer Stickerei beschäftigt saß, während ein zu ihren Füßen sitzendes Kind in einem Bilderbuch blätterte. »Liebe Freundin,« sagte er, »hier ist das junge Mädchen, von welchem ich dir bei meiner Rückkunft von Hawarden erzählt. Sie kommt aus dem Hause meines Vaters. Sei so gut, ihr bis morgen Gastfreundschaft zu gewähren. Morgen hoffe ich für sie ein passendes Unterkommen zu finden.« Die junge Frau erhob sich und kam mir entgegen. In diesem Augenblick erschien Dick unter der Tür. »Dick,« sagte ich zu ihm, »entschuldige mich bei Amy; Mr. und Mistreß Hawarden wollen mich bei sich behalten. Wenn die Hoffnung, welche mein Gönner mir macht, sich verwirklicht, so schreibe ich dir augenblicklich.« – »Na, sagte ich dir nicht, Emma, daß man nie verzweifeln müsse. Gott ist gut und in London ist Platz für alle. Auf jeden Fall, Mr. Hawarden, werden Sie sich rühmen können, diesem Mädchen, welches gestern noch das schönste der Provinz war und heute wahrscheinlich das schönste in London ist, einen Dienst geleistet zu haben. Auf Wiedersehen, Emma! Mr. und Mistreß Hawarden, Gott vergelte es Ihnen.«

Mit diesen Worten entfernte sich Dick, nicht wenig erfreut über das Glück, welches ich gemacht. Dieses Glück war freilich nicht gerade das, welches ich zu suchen gekommen war. Das eigentliche Glück bestand nach meiner Ansicht in einem geräuschvollen, bewegten Leben mit plötzlichen unerwarteten Katastrophen und Glücksumständen. Die junge Frau, welche ihren Gatten soeben umarmt wie einen Vater, welche sich ruhig und lächelnd wieder zu dem Kinde gesetzt, das seinerseits nicht einmal die Augen von dem Bilderbuch emporgerichtet, um zu sehen, wer in das Zimmer träte – diese junge Frau, welche ihre Stickerei wieder mit einer Hand ergriff, die niemals durch die Leidenschaften bewegt worden zu sein schien, welche ihre Blumen mit ruhiger, geduldiger Kunstfertigkeit nuancierte – diese Frau war freilich glücklich; es gab aber, wie der gelehrte Arzt so richtig auseinandergesetzt, Temperamente, welchen dieses kalte ruhige Glück nicht genügen konnte.

Und übrigens welche Aussicht hatte ich wohl, dasselbe Ziel zu erreichen, zu welchem sie gelangt war? War ich vielleicht auch reich geboren und von geehrter Familie wie sie, um mit achtzehn Jahren einen in der Wissenschaft berühmten Gemahl zu finden, der mich in einen eleganten, warmen, behaglichen Salon einführte? Nein, ich war ein armes Landmädchen, ohne Vermögen, beinahe ohne Erziehung. Ich wagte nicht zu antworten, wenn man mich fragte, was meine Mutter machte, und kaum konnte ich antworten, wenn man mich nach dem Namen meines Vaters fragte. Ich war schön, dies war alles. Ich mußte daher von meiner Schönheit verlangen, was andere von ihrer Erziehung, ihrer Geburt, ihrem Vermögen verlangen. Da Gott mir weiter nichts gegeben als Schönheit, so hatte er ohne Zweifel beabsichtigt, mir dadurch alles andere, was mir fehlte, zu ersetzen. Meiner Schönheit stand mehr die Entscheidung über mich, als mir die Entscheidung über meine Schönheit zu.

Dies waren die Betrachtungen, die ich bei mir anstellte, als ich diesen friedlichen Haushalt sah, wo der Mann las, die Frau stickte und das Kind in einem Bilderbuch blätterte. Wie verschieden hiervon war die stolze und entschiedene Haltung einer Miß Arabella! Wie himmelweit verschieden hiervon war der glühende Enthusiasmus, das freie Leben und der künstlerische Ruhm eines Romney!

Ohne Zweifel waren die Frau und die Kinder, welche er verlassen, auch eine Frau, welche stickte, und Kinder, welche Bilderbücher ansahen, und wenn dies der Fall war, so hatte ich nicht den Mut, ihm seine Treulosigkeit zum Verbrechen anzurechnen. O törichte Jugend! O wahnsinnige Phantasie! Ach, wenn ich, am Ende des Lebens angelangt, heute mit den Augen der Reue das betrachte, was ich damals mit den Augen der Illusion ansah, wie gern möchte ich, anstatt die glänzende und strafbare Emma Lyonna, die reiche und mächtige Lady Hamilton, lieber jene sanfte junge Frau gewesen sein und mein Leben mit Blumensticken mit meinem neben mir sitzenden Gatten und meinem zu meinen Füßen liegenden Kinde zugebracht haben!