Kostenlos

Die Inseln der Weisheit

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Doch sehr einfach! sie nimmt es als Symptom einer seelischen Krankheit und will gesunden.«

– O diese selbstlose Seele! ihr ist das Leiden verhaßt, sie will ihre Schwären und Ekzeme abschütteln, sie sehnt sich nach den Freuden der Heilung. Und die Kur bewirkt sie durch eine neue Gewohnheit, ohne von der alten Gewohnheit loszukommen, nach welcher sie ihren Vorteil erstrebt.

»Was redest du immer von Gewohnheit, Firnaz. Wir veredeln doch das Ethische mit Verleugnung der Gewohnheiten.«

– Ja, das ist eures Amtes in eurem ethischen Ministerium. Schade, daß ihr nicht einen Sprachkritiker unter euch habt. Der würde euch sagen, daß beides ein und dasselbe ist. Ethos, mit langem E ausgesprochen, ist die Moral, Ethos mit kurzem E die Gewohnheit. Und es steht sprachlich fest, daß jenes von diesem herstammt. Dadurch wird bekundet, daß einzig die Gewohnheit den Kommentar zur Moral liefert. Gewohnheitsmäßig schwärmen wir für die kleinen Kinder als für Unschuldsengel. Weil das Kind wiederum in unerschütterlicher Gewohnheit von Sekunde zu Sekunde seinen unbedingten Egoismus klar zu erkennen gibt. Die Gewohnheit des egoistischen Versteckspiels und des altruistischen Getues ist ihm völlig fremd. Was ist also unsere Verzückung vor den vermeintlichen Unschuldslämmern? Nichts anderes als die bewundernde Anerkennung der ehrlichen Selbstverständlichkeit. Wir, die wir unseren Egoismus fälschen, überschminken und vermummen, empfinden eine himmlische Freude vor einem Wesen, das von dieser Heuchelei gar nichts weiß. Wir erblicken also eine Engelstugend im offen zur Schau getragenen Egoismus. Ferner: wir sind gewohnt zwischen normalen und verrückten Menschen zu unterscheiden. Welchen Gewohnheitsmaßstab legen wir an? Den des Interesses. Wenn einer gegen sich wütet, seinen Besitz zertrümmert, oder Stecknadeln schluckt, oder sich die Augen aussticht, oder sich ein Schlaflager von Brennesseln bereitet, so sagen wir: dieser Mann ist nicht imstande, seine Interessen wahrzunehmen, wir stecken ihn ins Gefängnis, das wir Irrenhaus nennen, und hoffen, daß er dort zu normalem Egoismus kuriert wird. Überall vollziehen wir die identische Gleichung: Selbstsucht gleich Gesundheit, und da mögt ihr noch hundert ethische Ämter einrichten und darin analysieren so viel ihr wollt, niemals werdet ihr auf einen anderen Grundbestand stoßen.

»Das ist nicht wahr, Firnaz; wir stoßen auch auf kategorische Imperative!«

– Deren Grundbestand lautet: handle immer nach derjenige Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. Das ist die Hauptformel Kants, die ihr unausgesetzt und in allen Tonarten nachbetet.

»Weil wir in ihr das Mittel erkannt haben, unsere Genossen zu idealen Menschen zu erziehen.«

– Aber auf die nämliche Formel kann sich ja jeder Schlemmer und Wüstling berufen! Wünscht denn der Wüstling nicht, daß sein wüstes Genießen allgemeines Gesetz würde? Hat der Säufer etwas dagegen einzuwenden, wenn die andern sich auch besaufen? Und solches professorales Moralgefasel behauptet Weltkurs! Ich stelle mir vor, Kant lebte und nähme teil an unserer Unterhaltung. Dann frage ich ihn: Verehrter Moralfex, ist es wahr, daß Ihr kategorischer Imperativ das unbedingte Verbot der Lüge enthält? – Jawohl, sagt Kant, das steht bei mir in klaren, unverrückbaren Worten: denn die Lüge, sagt Kant, schadet jederzeit einem andern, wenngleich nicht einem anderen Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.

»Und so verordnen wir die Lehre für alle Schulen und Kanzeln; denn die Reinheit der Rechtsquelle geht über alles.«

– Gut, dann frage ich weiter: Ihr Freund, Herr Kant, wird von einem Mörder verfolgt und flüchtet sich in Ihr Haus. Der Mörder mit gezückter Waffe will wissen, ob der Verfolgte sich bei Ihnen befindet. Was antwortet Ihr kategorischer Imperativ? Jawohl! sagt der, denn er darf nach Ihrer eigenen Erklärung die Wahrheit nicht verleugnen, »es mag ihm oder einem anderen daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen.« Also wird der Freund ans Messer geliefert, ein Verbrechen wird ermöglicht, und Sie selbst werden dadurch zum Verbrecher, weil Sie im Interesse der Menschheit dieses abscheuliche Wahrheitsbekenntnis nicht unterdrücken können!

»Ich glaube aber nicht, daß Kant dem Mörder so geantwortet hätte.«

– Ich eigentlich auch nicht. Er hätte vielmehr die Magna Charta seiner Imperative durchlöchert. Und bei Lichte besehen zeigt sie auch wirklich in aller Praxis Loch um Loch. Da habe ich gerade ein interessantes Beispiel in meiner eigenen Tätigkeit. Sie müssen nämlich wissen, ich bin Stadtphysikus außer Dienst, behandle aber noch einige Menschen in privatem Medizinalberuf. Im Nebenhaus liegt eine Patientin meiner Kundschaft, – kommen Sie, meine Herrschaften, sehen Sie sich die Frau an und geben Sie mir dort einen weisen Rat nach Kantischer Moral!

Wir folgten ihm und gerieten an folgende Sachlage.Der Fall wurde theoretisch konstruiert in »Grenzen der Philosophie« von W. Tobias, 1875.

Die Frau war gleichzeitig mit ihrem einzigen Kinde an den Pocken erkrankt. Firnaz hatte veranlaßt, daß die beiden Personen nicht in demselben Zimmer verblieben, und der Mutter versprochen, ihr stets wahrheitsgetreuen Bericht über das Kind zu geben. Es war ihm bekannt, daß das Leben dieses Kindes einen höheren Wert für die Mutter besaß, als irgend etwas auf der Welt und daß sie der trostlosesten Verzweiflung anheimfiele, wenn sie sich jemals des für sie höchsten Gutes beraubt wüßte. Die Krankheit nahm nun bei der Mutter einen so fatalen Verlauf, daß der Arzt jede Hoffnung aufgeben mußte; das Bewußtsein der Kranken aber, die jetzt ihrer Auflösung entgegenging, war noch erhalten.

Wir schritten zuerst in das kleine Nebenzimmer, wo Firnaz gerade noch die letzte Todeszuckung des Kindes konstatierte. Und nun begehrte er von uns zu erfahren, welchen Bericht er der Mutter in nächster Minute zu erstatten habe.

»Wahrheitsgetreu!« meinte Branisso, noch unerschütterlich auf Kant fußend.

»Unmöglich,« erklärte ich; »lieber schweigen Sie und geben gar keine Antwort. Aber das geht doch auch nicht! Jede Verschweigung oder jeder Vorbehalt wäre für den Scharfsinn der Zärtlichkeit gleichbedeutend mit der schonungslosen, krassen Wahrheit.«

»Also müssen Sie lügen, bewußt lügen!« flüsterte Eva.

– Branisso, besinne dich! Mit der Wahrheit töte ich die Mutter in der Sekunde; mit der Lüge verlängere ich ihr Leben noch um eine kurze Spanne, und in dieser Spanne beseligt sie eine matte Hoffnung!

Der Bruder wurde schwankend. Es rüttelte in ihm wie mit Zangen, um ihm den Glauben an die Kantische Unfehlbarkeit herauszureißen. Endlich gab er sich einen Ruck und sagte: »Geh hinein, Firnaz, und lüge!«

Zwei Stunden darauf verschied die Mutter. Firnaz› Unwahrheit hatte ihr den letzten Trostbalsam eingeträufelt. Als wir am Abend wieder beim Ethiker zusammensaßen, meinte der mißgestaltete Stiefbruder: Hoffentlich hat eure Pazifistenwirtschaft noch bessere Stützen als Kant mit seinem ewigen Frieden. Denn bei dem ruht alles auf derselben Imperativtafel, und die ist heute vor deinen Augen entzweigebrochen.

»Das war nur ein Ausnahmefall,« entgegnete der Watongoleh. »Hier mag sich die Rechtsquelle allerdings getrübt haben. Aber sie wird wieder rein sprudeln, wenn uns das ethische Hochgefühl drängt, uns mit vollen Zügen an ihr zu tränken. Wir bedürfen ihrer zu der großen Aufgabe, die wir gerade jetzt im Verfolg unserer Prinzipien in Angriff nehmen.«

* * *

Diese große Aufgabe bestand, wie schon erwähnt, auf den beiden Inseln in der Begründung eines Regulativs für den Frieden der Menschheit, welcher nur auf der Grundlage des Rechtes und der geläuterten Ethik denkbar ist. Nicht als ob die Bewohner das Drohen irgendwelcher Zwistigkeiten unter sich befürchtet hätten. Aber gerade weil sie in diesem Betracht gesichert waren, fühlten sie sich berufen, die Normen eines allgemein gültigen Pazifismus auszuarbeiten; mit aller Unparteilichkeit und Gerechtigkeit, deren nur ein von Natur friedliches und stets über sittliche Probleme grübelndes Volk fähig ist.

Während über das Prinzip im ganzen allseitige Übereinstimmung herrschte, gab es über den Verfolg im einzelnen verschieden abgetönte Meinungen. Zwei Richtungen wurden erkennbar: die idealistische und die utilitarische, und demzufolge zwei Formen der Strebung: die linkspazifistische und die rechtspazifistische. Auf Allalina überwogen die idealen Linkser, auf O-Blaha die etwas praktischer gerichteten Rechtser. Im Grunde wollte man natürlich auf beiden Seiten dasselbe: die in Grundsätzen, Richtschnüren und Paragraphen festgelegte oberste Sittenregel für die Menschheit.

Gerade in der Zeit unseres Besuches sollte zu diesem Zweck eine große Konferenz tagen, beschickt von den Hauptsprechern beider Inseln. Eigentlich war dieser Kongreß schon seit Jahren in der Schwebe, allein es hatten sich insofern Schwierigkeiten ergeben, als man sich über den Ort der Zusammenkunft nicht so schnell zu einigen vermochte. Die O-Blaha-Leute bestanden auf ihrer Insel, und die anderen betonten es als conditio sine qua non, daß die Tagung auf Allalina stattfinden müßte. Denn die ideale Ethik hätte früher existiert als die empirisch-utilitarische. Sie beriefen sich dabei auf Sokrates, Aristides, Confucius und gaben zu verstehen, daß sie nicht im Traume daran dächten, von ihren Grundsätzen abzuweichen. Aber die Rechtser führten ebenso gewichtige Gründe ins Treffen, und so war die Konferenz nahe daran, zwischen beiden Inseln ins Wasser zu fallen.

Schließlich verfiel man auf das bereits mehrfach bewährte Mittel, den Zufall anzurufen. Das Los entschied für Allalina.

Auch das Aufstellen einer Geschäftsordnung war nicht so einfach. Es erhoben sich Stimmen für unbedingte, andere für beschränkte Öffentlichkeit. Wer sollte Zutritt haben? Alle, oder nur bevorzugte Karteninhaber? Aber kein vorhandener Saal wäre dem Andrang aller gewachsen gewesen, und welcher Behörde hätte man die Kompetenz zur Auslese zuzuweisen? Die Schwierigkeit komplizierte sich durch die Frage, ob nur die delegierten Sprecher reden dürften, oder ob jedem Zuhörer das Recht zustände, in die Debatte einzugreifen und seine Meinung zu äußern. Sollte ferner der einzelne unbegrenzte Rededauer beanspruchen, oder an eine maximale Redefrist gebunden sein? Schließlich aber nahm der Plan in einem Spiel sehr verwickelter Kompromisse Gestaltung an. Man entschied sich für möglichst weite Zulassung der Hörer, der Redefreiheit und der Sprechfrist; und man baute eine Konferenz-Arena, deren Umfang zwischen Aula von Toledo und dem römischen Circus Maximus etwa die Mitte hielt. Es war ein rasch konstruierter, ungedeckter Holzbau, dessen Kosten auf beide Inseln gleichmäßig repartiert wurden.

 

Durch unsere Beziehungen zum Watongoleh, der als ethische Amtsperson zum provisorischen Büro des Hauses gehörte, erlangten wir Fremdlinge leicht Zutritt zu den Verhandlungen. Schon in der vorbereitenden Sitzung waren wir zugegen. Und da einer von uns, Donath Flohr, dreist und unlegitimiert einen Stimmzettel mitabgab, so wurde Branisso mit einer Stimme Mehrheit zum leitenden Präses gewählt. Er erteilte das Wort, und nunmehr begann die Debatte, in der vor allen die zwei deputierten Hauptsprecher hervortraten: für Allalina der Linkspazifist Purpu, für O-Blaha der Rechtspazifist Kostrubaal.

Purpu begann mit einer rhetorisch prachtvollen Ansprache, in der er die Bedeutung der Konferenz ins hellste Licht setzte. Sie würde eine Fülle von Entschlüssen und Motionen gebären, die man auf Pergament festhalten wolle: Wir werden sie, so denke und heische ich, in einer silbernen Kapsel aufbewahren für eine ferne Folgezeit, um sie dereinst zu öffnen, wenn die leidende Menschheit in der weiten Welt reif geworden sein wird zum Empfang unserer Heilswahrheiten.

Dem widersprach aber Kostrubaal ganz energisch: Unsere Tagung hat nicht den leisesten Sinn, wenn wir auf die Zukunftsbank schieben, was der lebendigen Gegenwart angehört. Wir auf O-Blaha empfinden schon lange, daß wir viel zu viel in der Theorie machen, uns mit ethischem Wortdunst besäuseln, anstatt uns auf die Pragmatik zu besinnen. Heraus aus der pontifikalen Salbaderei, hinein in die Wirklichkeit! Wenn wir jetzt das ethische Weltrezept ermitteln, – und wir werden es finden! – so wäre es geradezu ein Verbrechen, es zu verkapseln und einzupökeln. Wir wissen ja, wie es draußen in den großen Kontinenten zugeht, in Krieg, Kriegsmöglichkeit, Kriegsdrohung und in Zuständen eines Friedens, dem die Kriegspestilenz aus allen Poren dampft. Können die Völker der alten Kulturwelt nicht kraft eigenen Vermögens aus ihrer Hölle heraus, so sind wir berufen, wir ethisch Geschulten, ihnen die Erlösung zu bringen; und zwar dadurch, daß wir ihnen ohne jeden Aufschub das Programm mitteilen, das wir jetzt aufstellen werden. Jetzt ist die Stunde gekommen, da wir unsere polynesische Abgeschiedenheit im pazifischen Weltwinkel aufzugeben haben. Bei uns ankert ein Schiff, die »Atalanta«, die unsere Heilsbotschaft hinaustragen kann. Ich frage den hier anwesenden Kapitän, ob er bereit ist, sich dieser Mission zu unterziehen.

Unser Herr Ralph Kreyher erhob sich und machte eine nicht ganz diplomatische Verbeugung, die soviel bedeuten sollte: Selbstverständlich; wird uns eine Ehre sein.

Aber Purpu stand eisenfest auf der Geschäftsordnung: Der Herr Vorredner besitzt nicht den Schimmer eines Rechtes, hier Missionen auszuteilen. Ich betrachte es als einen unerhörten Übergriff, wenn er sich kaltlächelnd über die Tatsache hinwegsetzt, daß von mir ein formulierter Antrag vorliegt. Herr Präses, was steht im Protokoll?

Branisso war in Verlegenheit. Ich muß allerdings konstatieren, daß Purpu die Verschließung unserer pazifistischen Ergebnisse in eine silberne Kapsel beantragt hat, während der Gegenredner deren sofortige Bekanntgabe für die ganze Menschheit befürwortet …

Abstimmen! Abstimmen! wurde dazwischengerufen.

– Meine Damen und Herren, erklärte der Vorsitzende, es wäre verfehlt … er kam nicht weiter, denn ein Deputierter von O-Blaha protestierte mit durchdringendem Organ gegen die Anrede: Mit welchem Rechte setzt der Vorsitzende die Damen voran?! Sind wir ethische Inseln oder galante Inseln?!

– Also: meine Herren und Damen, – oder vielmehr, um die volle Parität zu wahren: Verehrte Genossen beider Geschlechter …

Bravo!

– Ich wollte sagen: es wäre verfehlt, durch Abstimmung festzustellen, was mit Ergebnissen geschehen soll, von denen noch nicht eine einzige Silbe vorhanden ist. Ich möchte deshalb, wenn kein Widerspruch erfolgt, diesen Aktus bis zum Schluß aller Debatten vertagen. Ich bitte demnach, zunächst vorzutragen, wie Sie sich überhaupt die Begründung unseres schönen Programms im einzelnen vorstellen. Herr Kostrubaal hat das Wort.

Der Aufgerufene begann: Wenn ich es recht überlege, so wollen wir hier alle die einfachste Sache von der Welt. Und eine einfache Sache muß sich auch in klaren, nicht mißzuverstehenden Worten ausdrücken lassen. Seit Kreaturen existieren, bekämpfen sie einander, und seit der homo sapiens auf Erden wandelt, ist der Kampf von Mensch gegen Mensch über alle Begriffe der Scheußlichkeit hinausgewachsen. Noch nie ward es in der Weltgeschichte erlebt, daß der Janustempel auch nur auf eine Stunde geschlossen werden konnte. Was sich in den Wassertropfen begibt, deren Kleinwesen einander verschlingen, was im großen Tierreich mit seinem Gewimmel von Raubbestien, Schlangen, Skorpionen und Würgern, ist alles zusammengenommen nur ein Kinderspiel, nur ein Idyll gegen das Vertilgungsbild, das uns der Mensch bietet. Denn ganz vereinzelt lebt unter diesen ein Numa, ein Solon, ein Epaminondas, ein Epiktet, und zu vielen Millionen wüten sie umher, die Teufel in Menschengestalt, die ihre Intelligenz nur darum immer höher schrauben, um ihre Grausamkeit zu verschärfen. Beinahe sind sie soweit, mit einem Druck auf den Knopf ganze Städte zu pulverisieren und mit einem Sprengguß ihrer Luftflotten blühende Provinzen in stinkende Leichenfelder zu verwandeln. Und aus diesem Grunde sind wir verpflichtet, hier als erstes Prinzip eine Forderung niederzulegen: Der auf Allalina tagende Kongreß verlangt kategorisch: das gesamte Menschengeschlecht muß eine einzige Familie guter, glücklicher und friedfertiger Geschöpfe werden.

Der Redner machte eine Kunstpause, die von beifälligen Zurufen ausgefüllt wurde. Es war ersichtlich, daß dieses Prinzip alle Aussicht hatte, mit überwältigender Mehrheit angenommen zu werden. Und damit war das Hauptproblem eigentlich schon überm Berg. Ermutigt fuhr der Sprecher fort:

– Gewiß, liebe Genossen, wenn diese soeben aufgestellte Formel schon vor dem trojanischen und peloponnesischen Kriege gefunden worden wäre, so hätte sich die Menschheit viel Trübsal erspart. Immerhin wollen wir es mit Freude begrüßen, daß sie nun endlich gesichert dasteht, prädestiniert, eine niemals endende Glückseligkeitsära einzuleiten. Sie ist kein Ausfluß eleusinischer Mystagogie, kein Destillat aus verzwickten philosophischen Systemen, sie bietet keine juristische Verschnörkelung, sondern – und darin liegt ihr oberster Vorzug – sie gibt sich mit offensichtlicher Einfachheit und wird eben darum, kraft ihrer einleuchtenden Simplizität eine ungeheure Gewalt ausüben. Ja ich gebe mich bestimmt keiner Illusion hin, wenn ich behaupte, daß sie allein imstande sein wird, neun Zehntel aller jemals möglichen Kriege zu verhüten …

»Das ist zu wenig!« unterbrach Purpu mit Leidenschaft, »wenn wir nicht mit zehn Zehntel fertig werden, dann können wir überhaupt einpacken!«

Kostrubaal lächelte ironisch: – der Herr von Allalina verbeißt sich schon wieder in die Theorie einer weiten Zukunft, und wahrscheinlich hat er dafür ein phantastisches Rezept in Bereitschaft, während ich das Prinzip so forme, daß es schon heute von aller Welt mit Begeisterung akzeptiert werden kann. Ich habe daher das Prinzip als Generalformel ausgesprochen und gehe nunmehr dazu über, sie im Speziellen zu festigen. Sonach lautet meine zweite Resolution: Der hier versammelte Kongreß fordert von der Menschheit kategorisch die rücksichtslose Unterdrückung aller Angriffskriege!

»Na, da haben wir›s ja!« schäumte Purpu auf, indem er zur Tribüne stürzte und sich unbekümmert um die Rednerliste zu einem Rededuell anschickte. »Er verklausuliert sich schon im ersten Anlauf, der Praktiker! Begreift er denn nicht, daß er mit seiner zweiten Resolution ein Hinterpförtchen aufsperrt, durch das der vorn herausgeschmissene Krieg wieder lustig hereinspazieren wird? Klipp und klar will ich Antwort: Hält er den Verteidigungskrieg für zulässig?«

– Sie fragen wie ein Unzurechnungsfähiger. Selbstverständlich wird man in Abwehr ungerechten Angriffs an seine eigene Stärke appellieren müssen. Soll man etwa mit verschränkten Armen dasitzen und sich ruhig abschlachten lassen, wenn es dem bösen Nachbar so gefällt?

»Einen hübschen Pazifismus vertritt der Mensch da! Noch nicht einmal die Grundidee hat er begriffen. Zuerst wettert er gegen den Krieg, und bei der ersten Querfrage klappt er um. Begreift er denn nicht, daß der Raub ganzer Länder weniger schwer wiegt, als der Tod eines einzigen Menschen, der leben will und leben könnte? Daß der Angreifer niemals den Tod des Angegriffenen will, sondern nur seine Güter, Territorien, Bodenschätze, Bergwerke, Fabriken, Eisenbahnen? Erst durch die Verteidigung kommt der Mord herauf, den wir überzeugten Linkspazifisten unter allen Umständen ächten und verwerfen. Es gibt keinen Fall gerechten Defensivkrieges, vielmehr ist er stets ungerecht wie jede blutige Handlung.

– Also lieber Versklavung als blutige Abwehr? Gipfel des Blödsinns!

»Gipfel der ethischen Weisheit! Der Sklave bleibt am Leben, und nichts Kostbareres können wir ihm erhalten als eben dieses. Wir bekämpfen also jeden Krieg, restlos, radikal, und ich verlange eine Resolution, die diese Forderung ohne Winkelzüge zum Ausdruck bringt.«

Im Publikum wogte Stimmung. Die Konsequenz Purpu›s imponierte dem ethischen Bewußtsein der Allalina-Leute, die sich als Partei zu fühlen anfingen. Um so vehementer regte sich der Widerstand der Gegenpartei. Durch die Konferenz ging es wie ein Wechselstrom, der zur Entladung drängte. Funken sprangen über, als Vorboten einer Explosion, die gewiß bei einer Abstimmung eingetreten wäre. Denn dann gab es Sieger und Geschlagene, ein Ideal wäre durch Mehrheit erdrosselt worden, und das hätten die Träger dieser Idee bestimmt sich nicht gefallen lassen.

In dieser Situation entschloß sich der Präsident, die Spannung lieber noch hinzuhalten, anstatt die Entscheidung zu provozieren. Er ersuchte die beiden Kämpen um eine Pause in ihrem rethorischen Waffengange: Lassen wir doch auch andere Stimmen zu Gehör kommen, damit sich die Angelegenheit genügend kläre. Im Grunde wollen und meinen wir ja alle dasselbe.

– Mit kleinen Unterschieden, bemerkte Firnaz vom Platze aus. Ich zum Beispiel meine, daß hier nicht ein ideales Motiv den Endsieg erstreiten wird, sondern der Biceps. Und wir kämen wahrscheinlich eher zum Resultat, wenn die beiden Sprecher von vorherein die Sache glatt und ehrlich durch Boxen erledigten.

Ein Echo von Pfui›s erhob sich.

– Warum Pfui, lieben Brüder? Noch nie hat der Verfolg einer Völker bestimmenden Idee zu etwas anderem geführt, als zu einer Boxerei: Gottglaube, Götterglaube, ewige Seligkeit, Sakrament, Rassengefühl, irdische Wohlfahrt, sublime Menschenziele, – ganz egal, immer ging›s aufs knock out los, und aus jedem Match wuchsen schon wieder zehn frische Idealmotive zu neuem Geboxe. Das Register dieser Püffe nennen wir die Weltgeschichte. Denn die Waffe in jeder Form ist doch nichts anderes als die verlängerte Faust. Wohl den Gegnern, wenn sich einmal das Feld der Hiebe verengte, wie einst zwischen Rom und Alba Longa: ein paar Horatier gegen ein paar Curiatier, das vereinfacht die Sache und erspart viel Gemetzel. Also los aufeinander, Horatius Purpu und Curiatius Kostrubaal! Wie, ihr zögert noch, obschon es euch bereits in allen Gelenken kribbelt? Weil›s nicht recht pazifistisch ist?

Der Präsident rief Firnaz zur Ordnung: Du darfst hier weder zur rohen Gewalt auffordern, noch den beiden Delegierten ein brutales Gewaltgelüste unterschieben. Vergiß nicht, daß wir alle uns hier im Zeichen der großen Ethiker befinden!

– Und diese, – so meinst du, Bruder – haben sich nie auf die Faust verlassen? Geh› in die Klippschule, Branisso, und lerne was! Da habt Ihr den Friedensidealisten Sokrates, der persönlich ein vorzüglicher Krieger war, der im Peloponnesischen Krieg kämpfte, und nach dem Treffen bei Potidäa den Tapferkeitspreis bekommen sollte. Der paßt also nicht zu unseren Resolutionen. Da habt ihr den großen Aristides, den Gerechten. Sein Idealismus hat ihn nicht verhindert, bei Marathon, Salamis und Platäa kriegerische Lorbeern zu ernten. Und nun gar der Apostel Solon! der war ein prachtvoller Haudegen, Held im Heiligen Kriege, und geradezu Kriegsherold; er hat den Krieg gegen Megara direkt entfesselt, obschon die Regierung bei Todesstrafe die Aufforderung zum Krieg gegen Megara verboten hatte! Der paßt also auch nicht ins Schema. Wer sonst? Holt euch ein Modell aus den Urwäldern!

 

– Zur Sache! schallte es ihm entgegen; schweifen Sie nicht ab, bleiben Sie beim Thema Angriff und Abwehr.

– Bin schon dabei, geliebte Friedensbolde. Also ich gehe im Walde, bemerke einen Jaguar, der sich grade zum Sprunge duckt und schieße. Da bin ich in der Notwehr. Hätte ich aber geschossen, bevor er sich zum Sprunge duckte, dann war ich der Angreifer. Denn das gute Tierchen hatte mir ja gar nicht gedroht. Daß ich seine bloße Existenz in meiner Nähe als eine Drohung auffaßte, daß ich dem Angriff zuvorkommen mußte, um mich zu retten, das zählt nicht mit. Die einzige Frage bleibt: wer hat in dieser Sekunde angefangen, wer hat den Naturfrieden gebrochen. Ich! Die Bestie will ja überhaupt nicht meinen Tod, ihr ist es ganz gleichgültig, ob ich lebe oder sterbe, bloß satt werden will sie an meinem Blute; während ich, wenn ich schieße, ganz ausdrücklich ihren Tod herbeiwünsche. Immer kommt es nur auf die Anfangssekunde an, und besonders die Politik leistet ihre schönste Trottelei darin, daß sie den einen Moment aus den Begebenheiten heraussticht, um danach die Schuldfrage zu formen: Angreifer oder Abwehrer. Wie die Sache vorher aussah, wie sie nachher ausgesehen hätte, was kümmert das den Trottel, der nicht begreift, daß beide Elemente zusammengehören wie das Konkav und Konvex einer Kurve. Du hast zuerst geschossen, du hast angegriffen, in diesem kurzdärmigen Schluß erschöpft sich die Weisheit dieser Gerechtigkeitspinsel. Modell: der Trojanische Krieg. Wer hat ihn angefangen? Die Achäer natürlich, die Ilion überfielen und umzingelten. Aber zuvor war der Trojaner Paris in den griechischen Ehefrieden eingebrochen, der war also der Angreifer. Wieder falsch. Der Trojaner hatte nur ein göttliches Recht verteidigt, das ihm auf dem Berge Ida zugesprochen war. Und schließlich waren sie alle zusammen nur Werkzeuge eines olympischen Ratschlusses, welcher der Welt einen wohltätigen Aderlaß verordnete. Nun kommt der moderne Pazifist, runzelt die Denkerfalten über der Nase, tüftelt und findet die Erlösung vom Übel: Schiedsgericht, Völkerbund …

Zuruf: »Sehr richtig!«

– Zweifellos. Wenn die erst einige Jahrzehnte gewaltet haben, wird man keine Arsenale mehr bauen, bloß noch Museen. Schön. Also stellen wir uns vor, zu jener Zeit wäre ein völkerbündliches Schiedsgericht angerufen worden. Resultat: der Friede muß unter allen Umständen erhalten werden, der Trojanische Krieg darf nicht stattfinden. Welch ein Segen für die Menschheit! Keine Ilias, keine Odysee, keine Homerischen Klänge, kein Achill, Diomedes, Hektor, Odysseus; und genau so wären auch alle andern Kriege verboten worden. Nur möchte ich wissen, was für Museen die Menschheit danach gebaut hätte. Keine Tempel des Heldentums, sondern Leichenkammern der Langeweile. Und gesteinigt wäre der worden, der sich zu dem Glauben bekannt hätte, der eigentliche Führer der Museen sei Mars, nicht Apollo!

Vielfaches Murren. Auch wir Fremdlinge waren mit diesen Ausführungen nicht einverstanden, und besonders Fräulein Eva gab lebhaften Unwillen zu erkennen. Firnaz sprach weiter.

– Sollte ich soeben den Apollo beleidigt haben, so bitte ich ihn um Entschuldigung. Übrigens war er ja auch ein Kriegsgott, der Fernhintreffer, der mit seinen silbernen Pfeilen die Kinder der Niobe erschoß, und dessen Name, Apollo, wörtlich übersetzt, Verderber bedeutet. Und was die Apollinischen Gesänge betrifft, so behandeln sie kaum etwas anderes als Kampf, Sieg und Heroentum. Jetzt rühren sich die pazifistischen Bilderstürmer nicht etwa zum ersten Male. Unsere Thesen von heute sind Wiederholungen uralter Beschlüsse. Als Theodosius der Große zu Rom regierete, wurde durch eine imperatorische Motion im Senat das ganze göttliche Heldengesindel abgesetzt; Ziel der brausenden Stürmer war es, die Tempel und Bildsäulen der Heroenzeit zu vernichten, die ganze Apotheose der antiken Tapferkeit, der virtus, der andreia, auszuräuchern. Tausend Jahre später grub die Renaissance all das Verschüttete aus Staub und Moder wieder heraus, und die alten Wahrzeichen feierten frohe Auferstehung. Der Turnus geht weiter, und wir erleben es aufs Neue, daß der Olymp verfehmt wird. Man stürmt Bilder, revidiert die Geschichtsbücher und reißt die Seiten heraus, die den Kriegshelden feiern.

»Nieder mit den Eroberern!«

– Ach, lieben Brüder, ihr wißt gar nicht, wie sehr sie euch im Grunde verwandt sind. Hätte nur ein einziger großer Eroberer seinen Kriegswillen vollständig durchgesetzt, so hätte er praktisch geleistet, was ihr theoretisch niemals ausführen könnt. Seid ihr imstande, den Plan eines Alexanders des Großen in eure Engbrust aufzunehmen? Er sah den Erdboden als eine Einheit an; ihm schwebte vor, die Welt zu erobern, ihr einerlei Sprache und die Gemeinsamkeit aller Gesetzlichkeit, aller Wissenschaften und Künste zu geben. Ausgehend von Mazedonien und Epirus, hinweg über Armenien, Syrien, Medien, Indien, über den Erdkreis hinweg, wollte er die große Völkerfamilie schaffen mit einem Zentralpunkte, der die Residenz der Amphiktyonen und die friedliche Akademie des Weltalls werden sollte. Ja, durch Blutozeane mußte er hindurch, aber diese Meere wären abgelaufen, und ihr Grund hätte sich mit Blüten bedeckt. Ein bißchen großzügiger als ihr war er schon, der Pazifist Alexander!

»Keine Lobgesänge hier auf das Schwert! Das verbitten wir uns! Die Tugend soll in der Welt regieren!«

– Es gibt zwei Tugenden, die etwas taugen: die der Einsicht und die des Willens. Beide besitzt ihr nicht. Eure Tugend ist das Geplärr. Euch hat Demokritos gemeint, als er verkündete: Wehe dem Volke, wenn seine Tugend ein gravitätisches und aufgedunsenes Ansehen gewinnt; ein feindseliger Dämon schwebt mit unglückbeladenen Flügeln über ihm; ich weissage solchem Tugendvolke mit der zuversichtlichsten Überzeugung: dumm und barbarisch wirst du werden, armes Volk! Trebern und Distelköpfe wirst du fressen und Dinge leiden müssen, vor denen Natur und Vernunft sich entsetzen – — sagt Demokrit. So, und jetzt könnt ihr ja über eure eminenten Thesen abstimmen lassen.

Zur Geschäftsordnung! rief Purpu; ich verlange, daß zuerst über meinen Antrag mit der silbernen Kapsel abgestimmt wird!

Zur persönlichen Bemerkung! schrie Kostrubaal; ich wollte dem Delegierten Purpu nur sagen, daß mir jeder parlamentarische Ausdruck fehlt, um seine krasse Ignoranz zu kennzeichnen. In unseren Statuten steht ausdrücklich, daß der sachlich wichtigere Antrag zuerst erledigt werden muß, woraus hervorgeht, daß er entweder ein kompletter Hornochse ist, wenn er das nicht weiß, oder ein Lümmel, wenn er wider besseres Wissen …

Jetzt schien tatsächlich der kritische Moment für den Biceps anzubrechen. Purpu streifte bereits den Ärmel hoch, als auf einen Wink des Vorsitzenden Saaldiener eingriffen und zwischen den Erbitterten einen Zwischenraum legten.

– Silentium! kommandierte Branisso. Welch einen beklagenswerten Zwischenfall haben wir erlebt, mitten in unseren Arbeiten für die höchsten Güter des Universums! Wehe, wenn sich dergleichen wiederholt! – Was nun die Geschäftsordnung anlangt, so lege ich sie dahin aus …