Posttraumatische Belastung bei Kindern und Jugendlichen

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Aus der Reihe: Carl-Auer Ratgeber
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Nicht jedes Symptom ist ein Zeichen von Trauma

Kinder, die mit Autos spielen und einen Zusammenstoß dabei verursachen, müssen nicht traumatisiert sein. Wenn das Spiel mit den Autos abwechslungsreich gestaltet wird und viele unterschiedliche Situationen vorkommen, wird vielleicht das nachgespielt, was vom Kind als Teil von Ereignissen im Straßenverkehr wahrgenommen wurde.

Wenn ein Kind als Puppenmutter sein Puppenkind ausschimpft, gehört das vielleicht zum ganz normalen Spiel mit allen Facetten des Alltags. In welcher Familie kommt es nicht vor, dass ein Kind auch einmal ausgeschimpft wird?

Natürlich gehört es zum Leben von Kindern, auch einmal länger über etwas nachzudenken, und auch nichttraumatisierte Kinder wachen bisweilen nachts nach einem schlimmen Traum auf. Und manchmal geschieht die Verarbeitung von für das Kind unverständlichen Ereignissen durch Zeichnungen.

Auch das Vermeiden von Orten oder Situationen kann zur normalen Entwicklung von Kindern gehören. Im Keller ist es dunkel, da gehen viele Kinder nicht gern alleine hin. Ein Hund bellt laut, da möchte ein Kind, das keine Hunde gewohnt ist, einen großen Bogen drum herum machen.

Jedes Kind träumt manchmal vor sich hin. Manche Jugendliche »ritzen« sich, um auszutesten, wie das ist. Auch das Ausprobieren von Alkohol gehört bei einigen dazu, um Grenzerfahrungen zu machen.

Unser Körper verhält sich nicht immer so, wie wir uns das wünschen. Manchmal kündigen sich durch erste ungewohnte Körperreaktionen Krankheiten an. Die Schwierigkeit, traurige oder wütende Emotionen situationsangemessen zu regulieren, ist ein Teil einer normalen Entwicklung eines Kindes.

Alle oben als Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung beschriebenen Symptome können als größtenteils unbedenklich eingestuft werden, wenn sie für sich allein und nur vorübergehend auftreten. Es bestehen allerdings drei Hinweise, die dazu führen, eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) anzunehmen:

1) Es ist bekannt, dass das Kind oder die/der Jugendliche ein Trauma erlitten hat.

2) Die beschriebenen Symptome treten in der Dreier-Kombination auf:

Wiedererleben

Vermeiden

körperlich wahrnehmbares Bedrohungserleben

3) Die Symptome treten nicht nur in den ersten Wochen nach einer seelischen Verletzung auf, sondern zeigen sich über einen längeren Zeitraum als chronische Beeinträchtigung.

Bei manchen Kindern treten diese Symptome nicht in Reinform auf. Es werden in der Fachliteratur als Traumafolgestörungen auch depressive Störungen, Angststörungen, Zwangsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Verhaltensstörungen, Affektregulationsstörungen, Entwicklungsstörungen, Suchtverhalten und oppositionelles Verhalten genannt. Aus meiner Sicht sollte man Diagnosen aber nicht überbewerten. Sie helfen vielleicht, ein Verhalten vorübergehend einzuordnen und therapeutische sowie pädagogische Hinweise zu geben. Das Leben ist aber meist vielschichtiger, als dass es in Diagnosekategorien hineinpasst. Manche Verhaltensweisen entstehen und verblassen auch wieder. Für mich führt eine Diagnose eher zu einem prozesshaften Fallverstehen. Es ist von Bedeutung, unter welchen Aspekten Symptome bestehen bleiben oder verschwinden.

Akute Belastungsreaktion

Ein Beispiel:

Die 10-jährige CAROLA rutscht bei nassglatter Straße mit ihrem Fahrrad aus und gerät vor ein fahrendes Auto, das gerade noch vom Fahrer gestoppt werden kann. Sie kommt unverletzt davon. Sie will aber in den nächsten Tagen nicht mehr Fahrrad fahren. Sie erschrickt, wenn sie ein bremsendes Auto hört, und träumt manchmal von dem Unfall. Sie wacht dann schweißgebadet auf. Wenn jemand auf den Unfall zu sprechen kommt, rennt sie wütend aus dem Zimmer. Nach einem Monat will sie mit ihrer Mutter zusammen eine kleine Radtour unternehmen, um sich wieder ans Radfahren zu gewöhnen.

Hier zeigt das Mädchen zwar Symptome des ungewollten Wiedererlebens, Vermeidungssymptome und Symptome der körperlich wahrnehmbaren Bedrohung, doch ihre Selbsthilfekräfte und die freundliche Unterstützung der Mutter führen nach kurzer Zeit zur symptomfreien Rückkehr in den gewohnten Alltag. Die Symptome sind in den ersten zwei bis drei Monaten völlig normale Reaktionen auf ein außergewöhnliches Ereignis. Sie bekommen die Bezeichnung »akute Belastungsreaktion«. Erst wenn sie chronisch werden, wenn sie über Monate andauern, spricht man von einer »posttraumatischen Belastungsstörung«. Soziale Unterstützung nach einem erlittenen Trauma kann einem chronischen Verlauf entscheidend entgegenwirken.

Seelische Verletzungen

Generell unterscheidet man Ereignisse, die seelische Verletzungen bedingen können, in zwei Gruppen:

1) einmalige und unbeabsichtigte Ereignisse wie z. B. Unfälle, Naturkatastrophen, Trennungs- und Verlusterfahrungen usw.

2) andauernde oder sich wiederholende Ereignisse, die von Menschen beabsichtigt sind, wie z. B. Folter, Krieg, Misshandlungen (»man-made disaster«)

Aus Untersuchungen ist bekannt, dass die Traumata der ersten Gruppe einfacher zu verarbeiten sind als die Traumata der zweiten Gruppe. Die seelische Belastung hängt aber auch davon ab, wie intensiv ein Trauma eingewirkt hat und welche Bewältigungsmöglichkeiten kurz danach zur Verfügung standen bzw. wie intensiv im Nachhinein Unterstützung durch die Familie oder Freunde genutzt werden konnte.

Bei Kindern und Jugendlichen denkt man zunächst an »die großen Drei«: körperliche Misshandlung, Vernachlässigung und sexuelle Gewalt. Körperliche Misshandlung geschieht aus unterschiedlichen Gründen. Einige Eltern schlagen ihre Kinder, weil sie meinen, dass sei die beste Möglichkeit, Kinder für unerwünschtes Verhalten zu bestrafen und sie vor Fehlentwicklungen zu beschützen. Werden Kinder als egoistische Wesen betrachtet, die ihre Umwelt von Geburt an manipulieren wollen, um ihre egozentrischen Wünsche durchzusetzen? Sind sie rücksichtslos und bösartig? Und gilt es daher, sie mit allen Mitteln – auch mit Schläge – dazu zu bringen, Führung und Autorität der Erwachsenen anzuerkennen? »Wer nicht hören will, muss fühlen«, hieß das einmal. Oder: ein Kind sollte ruhig mal die Nacht durchschreien, das stärke die Lungen und würde Verwöhnung vorbeugen. Meist haben Eltern, die diesen Erziehungsstil anwenden, selbst etwas Ähnliches in ihrer Kindheit erfahren. »Mir hat es auch nicht geschadet«, sagen einige. Fragt man sie nach ihrer Beziehung zu den Eltern, fallen ihnen als Erstes »Respekt« und »Gehorsam« ein. Doch das oben beschriebene Menschenbild gilt schon seit Langem als überholt, auch wenn hin und wieder in Ratgebern oder Diskussionsbeiträgen ähnliche Ansichten auftauchen. Sie erinnern an die »schwarze Pädagogik« der 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahre: Anpassung an die Normen der Erwachsenen, Gehorsam als oberstes Ziel.

Als moderner Erziehungsstil hat sich in den letzten Jahrzehnten eine bindungsorientierte demokratische Perspektive durchgesetzt, in der Kinder als soziale Wesen gesehen werden, die nicht erst durch Sozialisation umprogrammiert werden müssen, um ihre selbstsüchtige Haltung aufzugeben. In einem solchen Stil werden auch Grenzen gesetzt und es wird auf deren Einhaltung geachtet, gleichzeitig wird den Kindern aber viel Liebe und Zuneigung entgegengebracht. Experten gehen davon aus, dass sogar Säuglinge mit einer angeborenen sozialen Kompetenz ausgestattet sind. Ein Kind möchte nicht nur die Welt entdecken, sondern mit seinen engsten Bezugspersonen verbunden sein, dazugehören. Erziehung gestaltet sich schwieriger, wenn nicht Gehorsam das Ziel ist.

Nicht von schlechten Eltern

Die meisten Schwangerschaften und das Aufwachsen von Kindern werden begleitet von Hoffnung und den besten Wünschen für die Zukunft des Kindes. Ziel der allermeisten Eltern – egal in welcher Lebenssituation und mit welchem sozioökonomischen Hintergrund – ist es, gute Eltern zu sein. Auch Eltern in schwierigen Lebenssituationen haben grundsätzlich die Fähigkeiten und den Willen, ihre Kinder gut zu versorgen, sie vor Gefahren zu schützen und sie zu fördern. Solche schwierigen Lebenssituationen können bedeuten: Ein Elternteil leidet unter einer psychischen oder körperlichen Krankheit oder unter einer Suchterkrankung, es gab aktuelle traumatische Erfahrungen (Flucht, Tod eines Familienmitgliedes, Partnerschaftsgewalt, massive Trennungskonflikte), Armut oder andere Faktoren führten zu existenziellen Einschränkungen. Solche Umstände begünstigen elterliche Ohnmacht, Hilflosigkeit und Gewalt gegenüber Kindern oder das Unterlassen von fürsorglichem Handeln.

Eltern, die sich in hochbelasteten Lebenssituationen befinden, geraten im pädagogischen Alltag häufig an ihre Grenzen. Sie entwickeln Scham und Angst vor einem Gesichtsverlust, wenn es ihnen nicht gelingt, ihre eigenen Emotionen im Griff zu haben und freundlich auf ihre Kinder einzugehen. Es sind die überforderten Eltern, die unter Umständen selbst unter ungünstigen Bedingungen groß geworden sind, die einfach nur das weitergeben, was sie selbst erlebt haben: Misshandlung und Vernachlässigung. Keiner will seinen Kindern absichtlich schaden. Es passiert dann eben so, dass immer mal wieder »die Hand ausrutscht« oder jemand »einfach nicht mehr kann« und das Kind unversorgt bleibt. Transgenerationale Traumatisierung wird das dann genannt, die Weitergabe der eigenen Kindheitserfahrungen an die nächste Generation. Seitdem erkannt worden ist, dass auch diese Eltern gern gute Eltern sein würden, dies aber leider nicht schaffen, sind Interventionen entwickelt worden, den Kindern innerhalb ihrer Familie bessere Entwicklungschancen zu eröffnen, in extremen Fällen außerhalb der Familie. Die Chance, dass ein Kind in einer Umgebung außerhalb der Familie genesen und reifen kann, ist viel größer, wenn die Eltern darin unterstützt werden, das Kind mit guten Wünschen gehen zu lassen und es aus der Distanz wohlwollend zu begleiten.

 

Ein besonders dunkles Kapitel ist die sexuelle Gewalt an Kindern. Es ist schwer vorstellbar: Doch auch hier sind in vielen Familien mehrgenerationale Entwicklungen bekannt. Die einen haben selbst als Kind erfahren, dass keiner hingeguckt hat, dass sie keiner geschützt hat, und andere haben am Vorbild gelernt, dass Erwachsene die Grenzen der Kinder nicht achten. Aber nicht alle kindlichen Opfer werden später zu Tätern.

Weiter oben war von den drei großen Traumata die Rede. Fachleute gingen schon lange von einer vierten Form der Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen aus, die jetzt auch wissenschaftlich belegt ist: emotionale Traumatisierung, »Ohrfeigen für die Seele«. Was versteht man darunter? Als Erstes wird die miterlebte Gewalt in Familien genannt. Ein Kind erlebt immer wieder in der Familie gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Erwachsenen. Oder es erlebt, wie ein Geschwisterkind immer wieder geschlagen wird. Manchmal wird das Kind Zeuge davon, wie jemand hinterher ärztlich versorgt werden muss, und es weiß, dass die entschuldigenden Erklärungen nicht stimmen. Zur emotionalen Traumatisierung zählt auch die permanent wiederholte Beschimpfung und Erniedrigung eines Kindes. Und als Drittes zählt dazu, wenn ein Kind für die Eltern sorgen und für seine Geschwister Verantwortung tragen muss, ohne dafür in der Lage zu sein, wie es z. B. bei Kindern von psychisch kranken Eltern oder suchtmittelabhängigen Eltern der Fall sein kann.

Ein Beispiel:

Der 8-jährige GEROME sorgte dafür, dass die Schnapsflaschen verschwanden, kurz bevor die Sozialarbeiterin kam, um in der Familie nach dem Rechten zu sehen. Manchmal gab ihm die alleinerziehende Mutter Geld, damit er für sich und die Geschwister einkaufen konnte. Einmal fiel er im Supermarkt auf, weil er versuchte, Lebensmittel zu stehlen. Als er dann in eine Pflegefamilie kam, wollte er täglich mit seinen Geschwistern in anderen Pflegefamilien telefonieren, um sich davon zu überzeugen, dass sie genug zu essen bekamen.

Kinder und Jugendliche, die in unzureichenden Familienverhältnissen leben, müssen zunächst ein Ende der Not erleben, bevor sie sich von den seelischen Verletzungen erholen können. Der Ausdruck »Safety first« – Sicherheit zuerst! – wird gern verwendet.

Resilienz – Gedeihen trotz Belastung

In der Forschung war es von jeher von großem Interesse, herauszufinden, woran es liegt, dass manche Kinder trotz schwerer Belastungen sich immer wieder »aufrappeln«, in der Schule einigermaßen erfolgreich sind und einen guten Lebensweg einschlagen. Wie entwickelt sich bei Kindern und Jugendlichen Resilienz, und wie kann diese Widerstandskraft gefördert werden?

Die intensivste Forschung hat die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner betrieben. Sie untersuchte vierzig Jahre lang einen gesamten Geburtsjahrgang auf einer Hawaii-Insel. Kollegen haben bestätigt, dass ihre Untersuchungsergebnisse ohne Probleme auf moderne westliche Industriegesellschaften zu übertragen sind. Zunächst stellte Emmy Werner fest, dass sich Kinder ohne medizinische oder soziale Risikofaktoren besser entwickeln als Kinder mit Risikofaktoren. Das war zu erwarten. Doch das zweite Ergebnis überrascht: Ein Drittel der Kinder von Eltern, die besonders arm waren, bei denen psychische Erkrankungen oder Suchtmittelabhängigkeit vorlagen, schaffte es, nach dem 30. Lebensjahr einen guten Lebensweg einzuschlagen. Sie entwickelten sich zu kompetenten, fürsorglichen und selbstsicheren Erwachsenen. Wie unterschieden sie sich von denen, die sich – wie ihre Eltern – ungünstig entwickelt hatten?

1) Sie hatten mindestens durchschnittliche Intelligenz und schulische Kompetenz sowie ein Temperament, das positiv auf andere wirkte.

2) Sie hatten eine emotionale Bindung mit Personen, die geben konnten, wozu die Eltern nicht in der Lage waren. Es waren andere erwachsene Familienmitglieder, Lehrer, andere Personen im nahen Umfeld, sogenannte Mentoren: Sie ermutigten zu Selbstvertrauen, Selbstständigkeit und Initiative.

3) Sie waren irgendwann in ihrer Kindheit oder Jugend Teil einer Organisation, in der ihre Kompetenzen belohnt wurden und ihnen ein Glaube an das Leben gegeben wurde.

Die positiven Auswirkungen zeigen sich nicht mit 18 Jahren, sondern mehrheitlich mit 25, bei den meisten zwischen dem 25. und 35. Lebensjahr. Sie hatten gelernt, dass sie es sind, die ihr Schicksal bestimmen, dass sie Dinge selbst in die Hand nehmen können, und sie hatten ein realistisches Bild von ihren eigenen Fähigkeiten.

Andere Fachleute haben erkannt, dass Resilienz förderbar ist. Sie kamen zu erstaunlichen Ergebnissen. Erwachsene, die Resilienz bei Kindern fördern wollen, sollten immer wieder den Wert von Bildung hervorheben, sie sollten Kindern regelmäßig vorlesen und damit gleichzeitig die emotionale Bindung fördern. Haben die Eltern Kontakt zu anderen Menschen und übernehmen sie Verantwortung in der Kindertagesstätte oder in der Schule, kann dies als Anreiz dazu führen, dass auch das Kind in Kita, Hort oder Schule Verantwortung übernimmt. Auch der Kontakt zum erweiterten Familiensystem (z. B. Großeltern) wirkt resilienzfördernd. Resiliente Kinder sind besser in der Lage, mit schweren Schicksalsschlägen umzugehen.

Nicht jede Verletzung der Seele führt also zu chronischen Traumafolgestörungen. In der Forschung werden unterschiedliche Verläufe beobachtet. Eine Gruppe von Kindern zeigt sich resilient, entwickelt in den ersten Wochen nach einem Trauma Symptome, die nach einigen Wochen wieder abklingen. Eine zweite Gruppe entwickelt heftige Symptome, die jedoch nach einigen Monaten in eine Gesundung münden. Eine dritte Gruppe entwickelt chronische Symptome und erholt sich nicht ohne therapeutische Unterstützung davon. Insgesamt scheinen chronische Symptomverläufe nach innerfamiliärer Gewalt häufiger aufzutreten als nach außerfamiliärer Traumatisierung, wie zum Beispiel nach Naturkatastrophen, nach traumatischen medizinischen Eingriffen oder nach einem plötzlichen Todesfall in der Familie.

Trauma und Trauer

Kinder und Jugendliche begegnen dem Tod von nahen Angehörigen, Freunden oder Nachbarn manchmal angekündigt und vorbereitet, aber auch unvorhergesehen nach Unfällen, nach Suizid oder durch schwere Erkrankungen. Wenn Trauer sich mit traumatischem Erleben mischt, beginnt ein schwieriger Verarbeitungsprozess. Die niederländische Therapeutin Joannie Spierings unterscheidet traumatische Trauer von anderer Trauer, wenn der Tod plötzlich und unerwartet eintrat, mit Gewalt verbunden war, kein Abschiedsprozess möglich war und der Tod als vermeidbar eingeschätzt wird. Wenn mindestens zwei dieser Umstände eine Rolle spielen, sei ein traumatischer Trauerprozess zu erwarten. Menschen können dann in einen Zustand von Schock, Hilflosigkeit und Erstarrung geraten. Sowohl Trauma-Symptome als auch Trauer-Symptome können sich verstärken. Gedanken an den Verstorbenen können zu Flashbacks führen, traumatische Aspekte des Todes können den Trauerprozess erschweren. Ein Gefühl von Fremdheit in der Welt verbunden mit Isolation kann es verhindern, soziale Anteilnahme und Unterstützung entgegenzunehmen. In den ersten Wochen sind diese Symptome bei Erwachsenen und Minderjährigen normal. Es gibt Möglichkeiten, die Selbstheilungskräfte zu stärken. Darüber erfahren Sie etwas in einem Absatz des dritten Kapitels.

Bindungstraumata

Es ist schon angeklungen: Nicht alle Kinder, die unter unzureichenden Lebensbedingungen groß werden, besitzen ausreichend Selbsthilfekräfte, um eine gesunde Entwicklung zu erlangen. Nach einem Monotrauma, wenn einem Kind oder einem Jugendlichen einmal etwas Bedrohliches widerfährt, kann verhältnismäßig schnell und einfach eine Genesung erzielt werden. Nach sequenziellen Traumatisierungen, wie zum Beispiel Kriegs- und Fluchterfahrungen, hängt eine Genesung sehr davon ab, ob erwachsene Bezugspersonen die Minderjährigen begleiten und als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.

Und, Sie können es sich schon denken: Wenn die Gewalt im sozialen Nahraum passiert oder wenn Eltern gegenüber ihren Kindern ihre Schutzfunktion nicht erfüllen bzw. selbst die Kinder misshandeln, vernachlässigen oder ihnen sexuelle Gewalt antun, sind diese Traumata am schwersten zu verkraften. Dann spricht man von Bindungstraumatisierungen. Die Menschen, die für das Kind Bindungspersonen sind, werden zu einer Gefahr für das Kind. Das Kind kann sich nicht vorstellen, dass ihm eine Person, von der es abhängig ist, etwas Unrechtes zufügt. Es kann sich auch nicht vorstellen, ohne diese Person zu überleben. Da bleibt für das betroffene Kind eigentlich nur die Möglichkeit anzunehmen, dass mit ihm selbst etwas nicht stimmt. Vernachlässigung führt zum Gefühl der eigenen Wertlosigkeit, körperliche Gewalt führt zum Gefühl von eigener Schlechtigkeit, sexuelle Gewalt führt zur Ablehnung des eigenen Körpers. Oft haben schon die Eltern als Kinder Ignoranz gegenüber ihren eigenen Bedürfnissen erlebt und geben das selbst erfahrene Verhalten an die nächste Generation weiter.

Was können die Folgen von Bindungstraumatisierungen sein? Da sind sich die Forscher einig. Geschehen diese Traumata über einen langen Zeitraum, entwickeln die betroffenen Kinder Misstrauen in den eigenen Körper und die eigenen Gefühle, Misstrauen in die eigenen Gedanken und Fähigkeiten, Misstrauen in andere Menschen, mangelhafte Regulierung der eigenen Emotionen.

Der Neurobiologe Gerald Hüther schreibt:

Auf psychosoziale Unterstützung kann sich das Kind nicht mehr verlassen, vor allem dann, wenn das Trauma durch bisherige enge Bezugspersonen ausgelöst worden ist. Der Glaube an familiäre psychosoziale Geborgenheit ist ihm ebenso verloren gegangen, wie der Glaube an seine eigene Fähigkeit, Bedrohungen abzuwenden. 1

Wenn Kinder durch ihre Bezugspersonen traumatisiert werden, entwickeln sie sich zu Experten in der Anwendung von sogenannten »Notfall-Reaktionen«: wütender Unruhe, stummem Rückzug oder permanenten Kontrollversuchen. Einige kontrollieren durch Fürsorge, andere kontrollieren durch Bestrafung. In einer Reihe von Langzeituntersuchungen wurde ermittelt, dass fortwährender traumatischer Stress in der Kindheit zudem Auswirkungen auf jede Zelle des Körpers hat und zu einer Schwächung des Immunsystems führt, was wiederum über die gesamte Lebensspanne häufigere Erkrankungen zur Folge haben kann.

Da diese extremen Folgen bekannt sind, wurden in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Maßnahmen entwickelt, die präventiv, also vorbeugend wirken sollen. Häufig wird bei der Entwicklung solcher Programme eine systemische Sichtweise eingenommen: Alle Familienmitglieder sollen unterstützt werden. Solche Programme sind beispielsweise:

Hausbesuche bei schwangeren Frauen und Familien mit Neugeborenen (frühe Hilfen)

Trainingsprogramme für Eltern (Starke Eltern, starke Kinder)

Unterstützung bei Teenager-Schwangerschaften

soziale Unterstützung für Eltern (Familienzentren)

Maßnahmen gegen Partnergewalt (juristisch und sozialpolitisch)

Behandlung von psychischen Krankheiten und Suchtmittelabhängigkeit

Verbesserung von außerfamiliärer Kinderbetreuung

 

Verbesserung von Kinderschutz

Es ist klar: Was – aus welchen Gründen auch immer – Kindern von Menschen angetan wurde, kann nur durch tragfähige und sensible Beziehungen zu Menschen verändert werden. Nur so können Kinder lernen, sich von ihren »Notfall-Reaktionen« zu verabschieden. Wie es zu einer Fixierung auf Notfall-Reaktionen kommt, welche Vorgänge in der Biologie des Menschen dabei eine Rolle spielen und wie andere beim Umlernen unterstützen können, wird in den nächsten beiden Kapiteln dieses Elternbuchs erklärt.

1 Hüther, G. (2003): Die Auswirkung traumatischer Erfahrungen im Kindesalter auf die Hirnentwicklung. In: K. H. Brisch u. T. Hellbrügge (Hrsg.): Bindung und Trauma. Stuttgart (Klett-Cotta), S. 102.

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