Buch lesen: «Die zehn Lebensempfehlungen des Yoga»
Alexander Kobs
Die zehn
Lebensempfehlungen
des Yoga
Bewusst leben
mit den Yamas und Niyamas
2. Auflage 2018
© 2012 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG, München
Bildquelle Cover: il67/shutterstock
Layout und Grafik: Marx Grafik & ArtWork
Lektorat: Doris Wolter
Korrektorat: Barbara Wermann
eISBN 978-3-86410-167-0
Widmung
In Dankbarkeit
für Elke Bürger, Oliver Gerken und Sabine Schimon.
Die Welt in ihrer Tiefe verstehen heißt den Widerspruch verstehen.
FRIEDRICH WILHELM NIETZSCHE1
Inhalt
Einleitung
Die Bedeutung der Yamas und Niyamas im Yoga
Warum kommen Menschen zum Yoga?
Der königliche Weg des Raja-Yoga
Die zehn Lebensempfehlungen im Überblick
YAMAS – IM EINKLANG MIT DER WELT LEBEN
Ahimsa – Gewaltlosigkeit
Die Gegenspieler der Gewaltlosigkeit: Gier, Täuschung und Zorn
Gewaltlosigkeit – Ein spirituelles Dilemma?
Falsch verstandene Gewaltlosigkeit
Gewaltlosigkeit vs. Anhaftung und Abneigung?
Strategien für die Umsetzung friedlichen Widerstands
Risiken und Potenziale der Gewaltlosigkeit
Zusammenfassung
Satya – Wahrhaftigkeit
Die Inflation der Lügen
Folgen der Nicht-Wahrhaftigkeit
Die Folgen der Wahrhaftigkeit
Grenzbereiche zwischen Wahrheit und Unwahrheit
Lüge vs. Gewissen – Eine Geschichte aus dem Mahabharata
Zusammenfassung
Asteya – Nicht stehlen
Zeitgeist Korruption – Bestechung und Bestechlichkeit
Sich selbst und andere schützen
Zusammenfassung
Brahmacharya – Sinnliches Maßhalten
Sexuelle Energie im Yoga – Ojas
Brahmacharya in verschiedenen Lebensphasen
Zusammenfassung
Aparigraha – Anspruchslosigkeit
Genug ist nicht genug – Die Kraft des „Nein“
Unabhängigkeit und Geschenke
Wahres Loslassen von Besitz – Ein Beispiel aus der Katho Upanishad
Zusammenfassung
NIYAMAS – IM EINKLANG MIT SICH LEBEN
Exkurs: Die drei Gunas – Sattva, Rajas und Tamas
Saucha – Reinigung
Übungsfelder für Reinigung im Alltag
Zusammenfassung
Santosha – Zufriedenheit
Die Entstehung von Verlangen
Die Bilder des Verlangens
Zufriedenheit durch Dankbarkeit
Genügsamkeit im alltäglichen Leben
Zusammenfassung
Tapas – Das Feuer der Selbstdisziplin
Selbstdisziplin vs. Disziplin von außen
Sankalpa Shakti – Die gerichtete Willenskraft
Tapas im Licht der drei Gunas
Die Übungspraxis von Tapas
Zusammenfassung
Svadhyaya – Das Selbst-Studium
Die Essenz von Svadhyaya
Grundzüge der Mantra-Wissenschaft
Zusammenfassung
Ishvara Pranidhana – Hingabe zum Göttlichen
Hin zur Gotteserfahrung – Die vier Yoga-Wege
Zum Instrument des Göttlichen werden – Meditation in Aktion
Zusammenfassung
Üben, Leben und Wirken mit Yamas und Niyamas
Epilog – Unser Bestes geben
ANHANG
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Über den Autor
Danksagung
Einleitung
Wir verfolgen unterschiedliche Ziele im Leben, aber uns verbindet letztendlich ein gemeinsames Bedürfnis: Jeder Mensch versucht Gesundheit und Lebenssinn zu finden, sein Glück und seine Zufriedenheit zu erhöhen, sowie sein Leiden zu vermindern – und dies auf seine ganz persönliche Art und Weise.
Um das zu erreichen, sind jeden Tag Entscheidungen zu fällen, so zum Beispiel:
•wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten wollen,
•welchen Lebensstil wir bevorzugen,
•welcher Tätigkeit wir nachgehen wollen,
•mit welchen Menschen wir Zeit verbringen möchten
•und welche Werte und Visionen für uns essenziell sind.
Unsere komplexe Welt bietet ungezählte Möglichkeiten, die uns täglich viele solcher Entscheidungen abverlangen. Welche ethischen Grundwerte liegen meinen Entscheidungen dabei zugrunde? Wie will ich mein eigenes Leben verwirklichen – und das möglichst auf integere und authentische Weise? Wo kann ich meine individuellen Bedürfnisse mit denen meiner Umgebung verknüpfen, ohne mir selbst oder anderen in irgendeiner Form Gewalt anzutun?
Die zehn Yamas und Niyamas geben Antwort auf solche Fragen – als freiwillige Selbstverpflichtungen, Handlungsregeln oder als Lebensempfehlungen des Yoga. Martin Luther King, Mahatma Gandhi und Nelson Mandela beispielsweise setzten einige dieser yogischen Prinzipien so erfolgreich um, dass die politische und gesellschaftliche Landkarte des letzten Jahrhunderts dadurch entscheidend verändert und nachhaltig geprägt wurde. Eine konsequente Anwendung dieser ethischen Leitlinien könnte transformierende Wirkung auf unseren Planeten haben – wenn wir sie ernst nehmen und im täglichen Leben praktizieren.
Yamas und Niyamas wirken durch unser Wesen und Verhalten, ohne uns selbst und andere dogmatisch zu beeinflussen oder gar zu entmündigen. Bei stetiger Anwendung werden wir durch sie darin unterstützt, das Leben zu vereinfachen. Potenzielle Probleme werden im Vorfeld angegangen und kommen dadurch nicht zur Entfaltung. Stress und Konfusion reduzieren sich, auch für unsere unmittelbare Umgebung. Denn ist es nicht manchmal so, dass wir nicht nur Probleme mit uns selbst haben, sondern das eigene Verhalten gleichzeitig auch ein Problem für andere darstellt?
Das Anwenden dieser yogischen Prinzipien erfordert Mut und Konsequenz, jedoch immer innerhalb der eigenen, individuellen Kapazität. Niemand verlangt „Unmögliches“. Wir sollten in der alltäglichen Umsetzung nicht die eigenen Grenzen oder die der Mitmenschen überschreiten. Gleichwohl besitzt Yoga ein forderndes Element. Yoga ermuntert uns, das Beste zu geben und dennoch „Fehlschläge“ liebevoll zu akzeptieren.
Die Devise lautet also: ausprobieren – Erfahrungen sammeln, diese reflektieren und behutsam ins Leben integrieren. Der Weg des Selbststudiums und der Selbsttransformation kann dem Leben eine Richtung geben und es mit neuer Qualität bereichern. Fortgeschrittene und praktische Spiritualität beginnt und endet für einen Yoga-Praktizierenden mit dem Üben vieler Facetten der zehn Lebensprinzipien.
In jedem Menschen liegt die Kraft und das Potenzial, die Welt positiv zu gestalten – selbst wenn der eigene Beitrag klein erscheinen mag und für andere Menschen unsichtbar ist. Deswegen ist er nicht weniger wert. Wichtig ist, einen Schritt zu tun. In welche Richtung dieser Schritt geht, liegt vollständig bei uns.
Die Yamas und Niyamas bergen eine umfassende Philosophie in sich, die unterschiedliche Yogarichtungen und Yogaschulen unterschiedlich gewichtet interpretieren, teilweise mit weit auseinanderliegenden Polaritäten und Deutungen, die in einem Buch nicht komplett wiedergegeben werden können und sollen. Bitte denken Sie daran, dass kein Weiser oder Heiliger dieses Buch geschrieben hat. Als Autor erhebe ich weder Anspruch auf komplette Vollständigkeit noch auf eine absolute Wahrheit, die letztlich nur meine Wahrheit und Wertigkeit wäre und andere Gedanken und Meinungen über Yamas und Niyamas ausschließt. Die yogischen Lebensempfehlungen ermöglichen uns einen weiten Raum für Dialog und Diskussion.
Abschließend sei der Hinweis erlaubt, dass niemand eine Reise in den Fußstapfen eines anderen beginnen kann. Gehen Sie eigene Schritte. Starten Sie dort, wo Sie heute sind, und haben Sie Vertrauen in sich selbst; der Rest entwickelt sich.
Beim Kennenlernen und Üben der Yamas und Niyamas wünsche ich Ihnen Geduld, Ausdauer, Freude und viel Erfolg.
Herzlichst
Alexander Kobs
Hamburg, Juli 2012
Die Bedeutung der Yamas und Niyamas im Yoga
Warum kommen Menschen zum Yoga?
Wie bleibe ich gesund? Wie halte ich den Anforderungen von Beruf und Familie besser stand? Wo verbergen sich innere Ressourcen und Kraftquellen? Wie kann ich mich von körperlichen Spannungen und mentalem Ballast lösen?
Stress ist ein weit verbreitetes Phänomen in der modernen Gesellschaft. Bereits 1994 titelte das Magazin Focus Stress – der Krankmacher Nr. 1 und Seuche des 20. Jahrhunderts, und diese Headline lässt sich problemlos auch ins 21. Jahrhundert übertragen. Im Januar 2011 lautete der Leitartikel des Magazins Spiegel Ausgebrannt – Das überforderte Ich; anhand von Einzelschicksalen und Untersuchungen wird hier gezeigt, wie Burn-out, Stress und Depressionen Millionen Deutsche epidemienartig heimsuchen.2 Solche Aufmacher zieren also auch heutzutage regelmäßig die Titelseiten der Zeitschriften und anderer Medien in Deutschland. Beruflicher Stress wurde inzwischen von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu „einer der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts“ erklärt.
Durch ständig steigende Anforderungen und zunehmende Leistungsverdichtung bleiben Gesundheit und Ganzheitlichkeit oft auf der Strecke – mit schwerwiegenden physischen und mentalen Konsequenzen.
Yoga unterstützt uns dabei, wirksam gegen Stress vorzugehen und eine gesunde Stressresistenz aufzubauen. Da der Mensch im Yoga als mehrdimensionales Wesen gesehen wird, kann der Praktizierende die für ihn passenden Übungen auf vier Ebenen auswählen.
Abbildung 1: Warum kommen Menschen zum Yoga?
Physische Ebene: Viele Menschen besuchen Yoga-Kurse aufgrund von körperlichen Beschwerden, wie zum Beispiel Verspannungen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Problemen mit der Schilddrüse oder Bluthochdruck. Bestimmte Reinigungstechniken (Shatkarmas) lösen festsitzende Schlacken im Körper und stärken das Immunsystem. Flexibilität und Stärke werden durch Körperübungen (Asanas) wiedergewonnen. Darüber hinaus ist Yoga ein anerkanntes Mittel, um Krankheiten vorzubeugen und das Wohlbefinden aufrechtzuerhalten.
Mentale Ebene: Spezielle Übungen wie systematische Entspannungsübungen oder Konzentration auf den Atem helfen zum Beispiel bei Konzentrationsschwäche. Des Weiteren kann auch die Instanz eines inneren neutralen Beobachters erfahren werden – verknüpft mit einem „Loslassen“ sowie einem „Im-Hier-und-Jetzt-Sein“. Solche Kompetenzen tragen zur besseren Bewältigung diverser persönlicher, beruflicher und familiärer Herausforderungen bei. Das Loslassen half mir beispielsweise sehr konkret bei jahrelangen, schweren Schlafstörungen. Heute schlafe ich schnell und tief ein, was mich morgens ausgeruht und mental stabil in den Alltag gehen lässt.
Energetische Ebene: Energie beeinflusst unsere Stimmungen und Gedanken: Beispielsweise verspüren wir eine innere Schwere oder innere Leichtigkeit, wir sind träge oder beschwingt. Yoga kann – je nach angewandter Übungsform – Energien in uns aufbauen oder besänftigen und dadurch ausgleichend wirken. Nach meinen ersten Yoga-Stunden als Teilnehmer registrierte ich zudem erstaunt, wie erleichtert und energetisch aufgeladen ich mich fühlte, obwohl doch scheinbar im Unterricht so wenig passierte. Es tat mir gut, wieder aufrecht zu gehen und tiefer zu atmen. Bekannte fragten ernsthaft, ob ich „gewachsen“ sei. Durch die Energiearbeit des Yoga kam ich auch mit meinem Alltag besser zurecht.
Spirituelle Ebene: Die innere Auseinandersetzung mit dem Yoga führt zu der Erkenntnis, dass der Mensch aus mehr besteht als nur aus dem sichtbaren physischen Körper. Während wir uns körperlich, energetisch, gedanklich und gefühlsmäßig besser kennen lernen und verstehen, entwickeln wir zusätzlich mithilfe der Yoga-Philosophie eine Vorstellung davon, wer wir im Kern unseres spirituellen Wesens eigentlich sind und in welchen Lebensbereichen wir eventuell noch weiter an uns arbeiten sollten. Hier können beispielsweise folgende Fragen auftauchen:
•Wer bin ich?
•Was ist der Sinn meines Daseins?
•Wo liegen die Potenziale, die ich im Leben entdecken will?
•Wo stoße ich auf (eventuell immer dieselben) Schwierigkeiten?
•Wie kann ich mit weniger Furcht und Schmerz leben – und stattdessen mit mehr Freude und Leichtigkeit?
•Wie kann ich tieferen Zugang zu meiner Spiritualität erlangen?
Möglicherweise gibt das Studium des Yoga hierauf tiefgreifende Antworten. Beeinflusst werden diese Fragen:
•dadurch, wer wir sind,
•dadurch, was wir denken und fühlen,
•dadurch, was wir von uns selbst halten,
•dadurch, was wir tatsächlich tun (oder auch nicht tun),
•durch die Situationen, in die wir uns begeben oder geraten,
•durch die Menschen, mit denen wir zusammen arbeiten und leben,
•durch Einflüsse, die aus der planetarischen Gemeinschaft wirken (wirtschaftlich, politisch, sozial und ökologisch).
In diesen Spannungsfeldern voller Herausforderungen geben Yamas und Niyamas wertvolle Hinweise. Welcher Art diese Empfehlungen sind, ist Thema dieses Buches.
Der königliche Weg des Raja-Yoga
Ein Haus bedarf fester Fundamente. Ohne die Grundregeln von Yama und Niyama zu praktizieren, die ein festes Fundament für den Aufbau des Charakters bilden, kann es keine einheitliche Persönlichkeit geben. Wenn man die Asanas ohne Yama und Niyama ausführt, sind sie nichts anderes als Akrobatik.
B. K. S. IYENGAR3
Yoga definiert sich als praktisch-methodischer und zugleich als psychologischer und mystischer Übungsweg, der seit Jahrtausenden hilft, verborgenes Potenzial im Menschen zu erkennen und zu entfalten. Die Philosophie des Yoga beinhaltet eine reichhaltige Sammlung von Empfehlungen, Techniken und ethischen Grundhaltungen, mit denen der Schüler durch Selbststudium und regelmäßige Übungspraxis schrittweise Erfahrungen auf seinem Weg sammelt. Ziel ist letztlich, den Suchenden seiner wahren Wesensnatur entgegenzuführen.
In einer Zeit von zunehmendem Stress, größer werdender Komplexität und ständig wachsenden Bedürfnissen bietet der Yoga Werkzeuge, die die Entwicklung von Gesundung, innerer Harmonie, geistiger Klarheit und friedvollen Beziehungen fördern. Seine Lehren sind dabei nicht auf eine bestimmte Erdregion, Menschengruppe, Religion oder ein bestimmtes Alter oder Geschlecht beschränkt. Der Wissens- und Erfahrungsschatz ist für jeden verfügbar und nutzbar. Was zählt, ist die eigene Bereitschaft, sich auf die Übungen und Philosophie einzulassen und diese umzusetzen.
Yoga blickt auf eine lebendige Tradition zurück, deren Anfänge im Mysterium der frühen Menschheitsgeschichte verschwinden. Niemand gilt als „Erfinder“, aber unter vielen schriftlichen Überlieferungen ragt ein Lehrer namens Patanjali hervor. Er verschlüsselte seine Erkenntnisse und Praktiken in einer Sammlung von 196 Versen, den Yoga-Sutras. Wann genau das geschah, ist unbekannt, aber manche Gelehrte datieren die Entstehung dieser Yogaschrift um etwa 200 Jahre vor unserer Zeitrechnung, also auf einen Zeitpunkt vor gut 2200 Jahren.
Patanjali beschreibt als ein Ziel des Yoga die Beseitigung allen Leidens. Als Weg dorthin empfiehlt er Ashtanga-Yoga, die achtblättrige Blüte des Yoga. Swami Vivekananda nannte diese Übungsmethodik Raja-Yoga, den königlichen Weg.
Abbildung 2: Raja-Yoga – Der königliche Yoga-Weg
Der achtgliedrige Aufbau beleuchtet die systematische Struktur des Raja-Yoga. Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund, egal ob Familienvater oder Eremit, können ihn gleichermaßen beschreiten. Patanjali verspricht Balance und Harmonie auf physischer, mentaler, energetischer und spiritueller Ebene – mit anschließender Verwirklichung und Entfaltung der innersten Persönlichkeit. Die Erkenntnis über das wahre Selbst wird nicht im Außen gesucht. Tief im Inneren vergraben, aber nicht hoffnungslos verschüttet, liegt ein verborgener Schatz, der durch aufrichtiges und ernsthaftes Üben des Raja-Yoga gehoben wird. Die Übenden werden Stufe für Stufe zum Samadhi geführt: einem Bewusstseinszustand, der in der Innenschau als „Eins-mit-Allem“ erlebt wird und der uns erkennen lässt, dass wir selbst Teil des kosmischen Bewusstseins sind.
Die einzelnen Stufen in der Übersicht:
1. Yamas sind fünf Empfehlungen hinsichtlich der inneren Einstellung und dem sozialen Verhalten zu anderen gegenüber. Sie fördern positive zwischenmenschliche Beziehungen in der Familie und der Gesellschaft. Ohne sie würden Auseinandersetzungen, Konflikte und Ablenkungen in einem Maße auftreten, die den Yoga-Weg massiv stören würden. Gewaltlosigkeit ist der Eckpfeiler und oberstes Gebot, auf dem jede soziale Interaktion mit anderen Lebensformen beruht. Die weiteren vier Yamas lauten: Wahrhaftigkeit, Nicht-Stehlen, sinnliches Maßhalten sowie Anspruchslosigkeit.
2. Niyamas beeinflussen unser Verhalten uns selbst gegenüber. Sie fördern die positive, zielorientierte Entwicklung einer erwachsenen Persönlichkeit und beschreiben eine innere Grundhaltung des Übenden, die nach Befreiung und Verminderung seines Leidens strebt. Die Niyamas umfassen Reinlichkeit, Zufriedenheit, Selbstdisziplin, Selbst-Studium sowie Hingabe (zum Göttlichen).
3. Asana bedeutet Körperhaltung; im populären Hatha-Yoga also physische Körperübungen, die Kraft, Flexibilität und Entspannung bewirken. Es wird unterschieden zwischen meditativen Körperhaltungen und Haltungen, welche die allgemeine Gesundheit fördern.
4. Pranayama beinhaltet Atem- und Energieübungen. Die „Wissenschaft vom Atem“ führt zu erhöhter Energie und Konzentration, verbunden mit gleichzeitiger Reinigung und Entgiftung des Körpers über die Atemwege.
5. Pratyahara reguliert eingehende Informationen, die als vielfältige Sinneswahrnehmungen in unseren Geist hineinströmen. Die Menge und die Qualität der empfangenen Eindrücke können die Ausgeglichenheit, Klarheit und Konzentration des Geistes beeinträchtigen. Mithilfe von Pratyahara können daher beispielsweise nicht förderliche Sinneseindrücke früher erkannt werden, wodurch einer Reizüberflutung Einhalt geboten werden kann.
6. Dharana – Konzentration. Diese Stufe ist nicht nur hilfreich auf spiritueller Ebene, sondern auf allen Ebenen des privaten und beruflichen Lebens. Sie hilft Aktivitäten schneller und fehlerfreier abzuwickeln und in den sogenannten „Flow“ zu kommen, indem wir mit einer Handlung vollständig verschmelzen. Stunden vergehen hierbei wie Minuten. In der Konzentration wird der zerstreute Geist gebündelt und durch bewusste Achtsamkeit zur Einpunktigkeit geführt.
7. Dhyana – Meditation. Sie ist das Ergebnis fortwährender, ununterbrochener Konzentration. Dharana macht den Geist einpunktig, klar und ruhig. Dhyana lässt eine Expansion des Geistes entstehen, über alle bewussten und unbewussten Ebenen hin zu Samadhi, dem überbewussten Zustand. Meditation erweckt inneres, intuitives Wissen und ist ein kraftvolles Instrument, den Alltag ruhiger und gelassener anzugehen.
8. Samadhi – kosmisches Bewusstsein und All-Eins-Sein. In diesem Zustand wird die Einheit mit dem höheren Selbst gefunden. Alle Begrenzungen werden überwunden – es gibt keine Fragen und keine Antworten mehr, da alle Polaritäten aufgehoben sind. Die Erfahrung dieses unbegrenzten Bewusstseins jenseits des Wachens, Träumens und Tiefschlafes ist das praktische und eigentliche Ziel des Yoga. Es ist das Ende aller Furcht, aller Wünsche, aller Fragen und allen Mangels.
Yamas und Niyamas bilden die ersten beiden Stufen auf der Treppe des königlichen Yoga-Weges. Für einen Yoga-Meister wie Iyengar wird durch sie das Fundament gegossen, auf dem das Haus des Yoga steht. Wie solche universellen Prinzipien ins Leben integriert werden und wie wir mit uns selber, mit anderen Wesen, der Umwelt und dem Planeten umgehen, hat entscheidende Bedeutung für die eigene, spirituelle Persönlichkeitsentwicklung. Auf dem Weg der Selbst-Transformation liegen viele mentale und körperliche Hindernisse, Ablenkungen und Zerstreuungen. Die Yamas und Niyamas halten die Konzentration aufs Wesentliche ausgerichtet und führen zu mehr individueller Zufriedenheit und Wohl-Sein (Well-Being).
In der Begeisterung für neue Asanas oder Atemübungen schenken Yoga-Übende manchmal diesen ersten beiden Schritten des Yoga-Weges weniger Beachtung. Aber Körper- und Energieübungen entfalten nur oberflächliche Wirkung, selbst wenn sie auf körperlicher und energetischer Ebene Gesundheit und Stressabbau fördern können.
Frieden sollte beispielsweise zuerst im Inneren aufblühen. Denn ist es sinnvoll, scheinbar perfekte und anspruchsvolle Körperhaltungen einzunehmen, wenn sie nicht mit Gewaltlosigkeit (Ahimsa, dem ersten Yama) praktiziert werden? Verletzungen könnten die Folge sein. Was nützt ein friedvoller und ausgeglichener Geist in dreißig Minuten Meditation, wenn wir den Rest des Tages auf den Mitmenschen herumtrampeln?
Unabhängig von den gewählten Methoden der Selbsttransformation sollte der Alltag so organisiert sein, dass persönliches Verhalten keine Störung oder existenzielle Bedrohung für irgendeinen Teil der Schöpfung hervorruft. Dazu dienen die zehn Lebensempfehlungen als essenzieller Teil eines „Yogic Lifestyle“. Sie entstressen das Leben, indem sie es vereinfachen. Durch sie entwickeln wir gesunde, heilsame und verantwortungsvolle Beziehungen sowie Respekt für uns und andere. Dadurch wird Liebe, Verständnis und Mitgefühl zu allem auf der Erde existierenden Leben geweckt. Ebenso finden wir die Kraft und Entschlossenheit, mit deutlichen Worten Missstände und notwendige Veränderungen anzusprechen.
Es ist kein leichtes Unterfangen, die gewonnenen Erfahrungen mit den Yamas und Niyamas in den Alltag zu integrieren. Trotzdem sollte das bisherige Leben nicht aufgegeben werden und weltliche Verpflichtungen, Bindungen und Freundschaften sollten nicht vernachlässigt werden. Ein Rückzug in Höhlen oder ins Schweigen ist nicht notwendig – im Gegenteil: Die unmittelbare Umgebung liefert ein mannigfaltiges Geflecht von Übungsmöglichkeiten. Anfangs fallen wir vielleicht in alte Gewohnheiten und Verhaltensmuster zurück. Wir ängstigen uns vielleicht, dass Mitmenschen unsere Bemühungen kritisieren und belächeln und nicht ernst nehmen könnten. Diese mangelnde Zustimmung sollte uns jedoch nicht entmutigen. Bevor beispielsweise Gewaltlosigkeit auf allen Ebenen perfekt praktiziert wird, werden wir bereits viele kleinere friedvolle Veränderungen an uns und unseren Mitmenschen wahrnehmen.