Irrsinn regiert oder Die Volksmusik-Gesellschaft

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Irrsinn regiert oder Die Volksmusik-Gesellschaft
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Alexander Falk

Irrsinn regiert

oder

Die Volksmusik-Gesellschaft

Der Autor empfiehlt, vor Beginn der Lektüre zunächst den Roman »Albert, der Volksmusik-Migrant oder Die Marketing-Gesellschaft« zu lesen.

Das Kapitel »Die Volksmusik-Gesellschaft« basiert u. a. auf Ergebnissen der folgenden Studie: Mechthild von Schoenebeck, »Wenn die Heidschnucken sich in die Äuglein gucken …«: Politische Inhalte des volkstümlichen Schlagers, in: Helmut Rösing (Hrsg.), Musik der Skinheads und ein Gegenpart, Hamburg 1994, S. 6-24.

Das einleitende Zitat ist der folgenden Quelle entnommen: Friedrich Glauser, Matto regiert, Zürich 2004, S. 130 f.

In postmoderner Spiel- und Unart enthält der Text weitere, nicht belegte, zitierte Stellen.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen in diesem Buch wären rein zufällig, sind vom Autor nicht beabsichtigt und im Zweifelsfall einzig dem Sujet geschuldet.

»Irrsinn regiert oder Die Volksmusik-Gesellschaft«

© 2016 Alexander Falk

Verleger: A. Falk, 63679 Schotten

E-Mail: a_falk (at) web.de

1. Auflage November 2016

Wir werden nie die Grenzen ziehen können zwischen geisteskrank und normal … Wir können nur sagen, ein Mensch kann sich sozial anpassen.

Friedrich Glauser, Matto regiert

Der Anruf

Als Friederike Faber am frühen Montagnachmittag vom Klingeln ihres Telefons aus unruhigem Schlaf gerissen wurde, fand sie sich zunächst im abgedunkelten Wohnzimmer nicht zurecht. Erst vor einer Stunde vom Dienst heimgekehrt, wollte sie nun dringend nachholen, was sie in der letzten Nacht aufgrund eines Einsatzes verpasst hatte. Da Fanny diese Woche bei ihrer Großmutter verbrachte, hatte sich die Hauptkommissarin erhofft, ihren morgigen freien Tag endlich einmal ganz für sich alleine zu haben. Der Klingelton ließ sie befürchten, dass daraus nichts werden würde.

»Verdammter Mist!«, rief Faber aus, als sie sich das Knie an der Tischkante anschlug. Humpelnd erreichte sie den Flur und das auf der Kommode in einer Schale liegende Telefon. Sie atmete kurz durch, sah auf das Display und meldete sich dann.

»Ja, Enrico, was gibt es?«

»Hallo Freddie, wir haben hier eine tote Lehrerin, vielleicht ist es sogar Mord«, vernahm die Polizistin die aufgeregte Stimme ihres Kollegen Erler.

Da seine verschlafene Chefin, die sich ihr anschwellendes Knie rieb, nichts sagte, fuhr er fort: »Das ist echt voll splattermäßig hier! Die Tussi ist mindestens aus dem dritten Stock gefallen, voll das Treppenhaus runter. Rote Soße überall und ich glaub sogar Gehirnmasse! Ist voll Bad Taste-mäßig!«

Faber seufzte aufgrund der Ausdrucksweise ihres Kollegen, während dieser außer Atem auf ihre Antwort wartete. Erst vor einem halben Jahr hatte er Hinterbliebene eines Mordopfers mit ähnlich drastischen umgangssprachlichen Worten über den Tod ihres Angehörigen informiert. Die darauf folgenden Beschwerden, die Faber als seine Vorgesetzte alsbald auf ihrem Schreibtisch vorfand, tat er mit den Worten ab, dass neuere Ansätze in der Polizeipsychologie ausdrücklich eine solche schonungslose Herangehensweise fordern würden: Friederike sei, wie er meinte, mit ihren deutlich mehr als dreißig Jahren eben »nicht mehr up-to-date

»Okay, Enrico, wo soll ich denn hinkommen?« fragte Faber kurz.

»Du musst ja gar nix machen, der Janis is schon zu dir unterwegs.«

»Oh …«

Im Spiegel über ihrer Kommode musterte sich die Hauptkommissarin. Sie schaltete den Lautsprecher an, legte das Telefon ab und band sich ihre mittellangen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Nachdenklich blickte sie in den Spiegel. Die leicht näselnde Stimme Enrico Erlers störte sie in ihrer kurzen Versunkenheit.

»Hab ich alles voll super geplant, nich? … Hey du, bleib gefälligst hinter der verdammten Absperrung!«

»Ähm, Enrico?« warf Faber ein.

»Ach so, ich mach mal Schluss, bis gleich, Freddie.«

Der Treppensturz

»The Funky Nuts: Jetzt gibt es was auf die Nüsse!«, lautete der Spruch auf einem alten Werbeplakat neben der Einfahrt zum Parkplatz der Hjalmar-Schacht-Schule. Als der Wagen mit ihr und Janis Hauer das Plakat passierte, erkannte Friederike Faber, dass die Schrift aus lauter stilisierten kleinen Erdnüssen bestand. Was sich hinter der Ankündigung verbarg, war ihr aber völlig schleierhaft.

Ihr Kollege lenkte das Auto bis an das andere Ende des großen Parkplatzes, dessen hinterer Teil Stellflächen mit großem Umfang aufwies. Ein Schild machte deutlich, dass dieser Bereich ausschließlich für »Frauen, Behinderte und SUV-Fahrer« gedacht war. Hier hielten sich vier Polizisten in Uniform auf, die ungezwungen plauderten. Einer der Beamten gestikulierte wild mit den Armen, während die anderen lachend zustimmend nickten. Janis Hauer stellte den Wagen ab, sah prüfend in den Innenspiegel, zupfte kurz an seinen Augenbrauen und rückte sorgfältig seine Krawatte zurecht. Nachdem ihm offenbar endlich gefiel was er gesehen hatte, öffnete er die Fahrertür und folgte Faber, die ihm in der Zwischenzeit bereits zehn Meter voraus war. Nachdem er seine Vorgesetzte durch einen kurzen Sprint eingeholt hatte, nickten die Kriminalbeamten ihren Kollegen zu und betraten dann das Gebäude. Sie mussten nicht lange suchen: Ungefähr zehn Meter hinter dem Eingang stand ein halbes Dutzend Personen, offenbar Lehrer, vor einer Absperrung. Hinter den Plastikbändern hielt sich eine Traube von Polizisten und Sachverständigen am Fuße des Treppenhauses auf.

Kriminalkommissar Enrico Erler, ein hochgewachsener 27-jähriger mit Lederjacke und Designerhose, hatte das Eintreffen der beiden bemerkt, näherte sich und hielt ihnen ruckartig das Absperrband hoch.

»Hey Freddie, hey Janis!«

Nachdem die beiden Neuankömmlinge an Erler vorbeigegangen waren, ließ dieser das Band los und stürzte sich auf den von einem Tuch verdeckten Körper. Er zog, bevor ihn jemand daran hindern konnte, den Überzug schwungvoll in die Höhe und prustete dann ein lautes »Voilà!« heraus.

Der unappetitliche Anblick einer Frau, die scheinbar mit dem Kopf voran auf den Boden des Treppenhauses aufgeschlagen war, ließ zwei der Personen hinter der Absperrung einen lauten Schrei des Entsetzens ausstoßen. Faber fauchte den lächelnden Erler an, dass er gefälligst das Tuch wieder herabsenken sollte und drehte sich zu den Lehrkräften um. Diese waren allesamt sichtlich mitgenommen von dem was sie sehen mussten. Nur eine Frau in Fabers Alter, die ein graues Kostüm trug und die Haare streng zurückgebunden hatte, ließ das Gesehene auf den ersten Blick völlig kalt. Sie murmelte die rätselhaften Worte »Da fiel ein großer Stern vom Himmel …«

Eine weiche Hand mit manikürten Fingern legte sich der Hauptkommissarin auf die Schulter. Doktor Ludger Fleischmann, der neue Gerichtsmediziner, zog Faber sanft zu sich herum.

»Guten Abend, Frau Faber.«

»Oh hallo, Herr Fleischmann«, sagte diese und strich sich unwillkürlich über die Haare. Friederike war vom ersten Augenblick an von ihrem neuen Kollegen angetan gewesen. Die Bilder in der Pathologie von seinem Surf-Urlaub auf Hawaii hatten sie dann zusätzlich gehörig beeindruckt und dazu veranlasst zu recherchieren, ob er verheiratet war: Glücklicherweise war dies nicht der Fall. »Können Sie mir berichten, was hier passiert ist?«

»Natürlich. Bei der Frau handelt es sich um Henrietta von Ahlen. Sie ist, ähm war, Oberstudienrätin an der Hjalmar-Schacht-Schule, 30 Jahre alt und seit sechs Jahren hier tätig. Gestürzt ist sie von dort oben«, Fleischmann deutete schräg über Faber hinweg, »entweder aus der dritten oder der obersten Etage. Wie sich das Ganze zugetragen hat, ob Unfall, Selbstmord oder Mord, kann ich Ihnen leider nicht sagen, vielleicht sieht es nach der Obduktion da besser aus. Der Hausmeister hat einen Schrei gehört und dann den Aufprall hier vernommen – er saß da drüben in seinem Büro.«

»Wo ist denn der Mann jetzt?« erkundigte sich die Hauptkommissarin.

Der Pathologe blickte sich kurz suchend um. »Er steht da drüben.«

Friederike folgte dem ausgestreckten Arm Fleischmanns mit den Augen und sah einen kleinen unscheinbaren Mann, der gähnend an der Eingangstür lehnte.

»Den Pimpf hab ich schon ausgequetscht, der weiß aber auch nicht viel, der hat ansonsten den ganzen Nachmittag nichts gesehen oder gehört. Ich glaub ja, dass er in seinem Büro saß, Mords gequalmt und Fernsehen geglotzt hat«, mischte sich Enrico Erler ein.

Seine Vorgesetzte sah ihn fragend an.

»Als ich hier ankam, lief der Fernseher noch in seinem Büro und sage und schreibe fünf volle Aschenbecher standen da in dem Kabuff herum«, erläuterte Erler seine Beobachtungen. »Außerdem hat der noch ʼne Spielzeugeisenbahn in seinem Büro, so richtig mit Bahnhöfen und so. Ich glaub, der spielt damit …«

»Okay, mit dem rede ich später noch mal«, sagte Faber. »Wer ist denn der Rest: alles Lehrer?«

Erler nickte eifrig, während sich Fleischmann mit federnden Schritten in Richtung seiner Kollegen entfernte. Die Hauptkommissarin blickte aufmerksam auf die hinter der Absperrung Stehenden.

»Müssen die Leute hier so nahe an der Sache herumstehen und das ganze Elend mitansehen? Immerhin ist die Tote ihre Kollegin gewesen«, hörte Faber hinter sich aufgebracht Janis Hauer rufen.

 

Zwei uniformierte Polizisten drängten daraufhin die leicht protestierenden Lehrer zurück und verlegten das Absperrband in Richtung Eingang. Die Lehrkräfte standen nun direkt vor der Tür, welche in diesem Moment ruckartig nach außen geöffnet wurde. Eine Stimme rief:

»Machen Sie Platz für Frau Schindler!«

In der Phalanx der Lehrer bildete sich eine Lücke und der Mann, der den Ausruf getätigt hatte, wurde sichtbar. Er war sehr klein, hatte dunkle Haare und einen Seitenscheitel. Friederike Faber fiel sofort auf, dass er völlig verschwitzt war und seine Stimme bei seinem heroldartigen Ausruf leicht gezittert hatte. Nachdem der Ankömmling die an der Tür Stehenden passiert hatte, sprang er schnell zur Seite, um der hinter ihm folgenden Frau im gelben Kostüm Platz zu machen, offensichtlich Frau Schindler. Diese erfasste mit einem forschenden Blick schnell die Lage im Eingangsbereich, riss das Absperrband in die Höhe und ging dann zielstrebig auf die Hauptkommissarin zu. Ehe Faber ein Wort sagen konnte, drückte die Frau ihr fest die Hand und sagte bestimmend:

»Guten Tag, Oberstudiendirektorin Schindler ist mein Name, ich leite diese Anstalt. Was ist hier genau vorgefallen?«

Die Kommissarin brauchte einen kurzen Moment, um sich von der Überraschung zu erholen, dass die Schulleiterin sie direkt als Verantwortliche erkannt hatte. Sie öffnete zögernd den Mund, antwortete der sie streng musternden Frau aber noch nicht. Währenddessen hatte sich der Mann, welcher die Schulleiterin begleitete, vorsichtig genähert. Zunächst war er scheinbar unschlüssig gewesen, ob er das wieder herabgefallene Absperrband anheben und folgen sollte. Er blickte mehrmals schnell zwischen der Barriere und der ein Dutzend Meter entfernt stehenden Schindler hin und her. Dann fasste er schließlich seinen Mut zusammen, duckte sich und unterquerte die Barriere. Einen Moment lang sichtlich erleichtert, stellte er sich hinter Schindler, den Blick allerdings zunehmend entsetzt auf das Tuch gerichtet, welches über der Leiche ausgebreitet war.

»Mein Name ist Hauptkommissarin Faber von der Mordkommission, ich leite vorläufig die Ermittlungen«, stellte sich Friederike schließlich der Direktorin vor. »Ein Mitglied Ihres Kollegiums, Frau Henrietta von Ahlen, ist leider tot …«

»Was soll das heißen: Mordkommission?« unterbrach Frau Schindler die Polizistin. »Handelt es sich etwa um einen Mord oder was?«

Friederike war abermals von der Schulleiterin irritiert, denn auf diese hatte der Tod der Kollegin scheinbar keinen Eindruck gemacht. Ein Blick auf ihren Begleiter zeigte ihr, dass dieser hingegen völlig mit den Nerven am Ende schien: Er sah aus, als würde er gleich einen Herzinfarkt erleiden. Zaghaft zog er Frau Schindler am Ärmel und meinte leise zu ihr: »Die Mordkommission in der Schule … Und gerade heute ist Herr Lewsky auf diesem Marketing-Kongress! So etwas wird doch ein PR-Super-GAU werden!« Er schüttelte fortwährend verzweifelt den Kopf.

Die Schulleiterin drehte sich leicht zur Seite und sah ihren Begleiter streng an.

»Herr Einmann, jetzt beruhigen Sie sich erst einmal – wo ist denn eigentlich Lewsky schon wieder?«

Der Angesprochene wurde ein wenig sicherer und er antwortete schnell: »Der hat sich heute Mittag bei mir abgemeldet und versichert, dass er seinen Unterricht problemlos per Chat von zu Hause aus erteilen wird, danach nach Kiew zu einem Kongress aufbricht und dann erst am Mittwoch wieder hier ist.«

»Gut. Aber keine Sorge, die Lage haben wir doch auch ohne ihn unter Kontrolle, denke ich …« Bei den letzten Worten drehte sich die Schulleiterin um und sah Friederike wieder fest an. Sie deutete mit dem Daumen über ihre Schulter in Richtung ihres Begleiters und meinte:

»Das da ist übrigens Arnold Einmann, mein Stellvertreter.«

Abrupt fuhr sie nun fort: »Sie wollten mir noch meine Frage beantworten, was die Mordkommission hier macht.«

»Äh, ja, Frau Schindler«, antworte Faber. »Wir wissen noch nichts Genaueres, wie es zum Tod Ihrer Kollegin gekommen ist. Vielleicht war es ein Unfall oder Selbstmord, wir können aber leider zunächst auch Mord nicht ausschließen«, Einmann stöhnte in diesem Moment wieder leise auf. »Vielleicht können wir uns irgendwohin zurückziehen, ich hätte da noch einige Fragen an Sie, die ich ungern hier stellen würde.«

»Na gut, dann gehen wir eben in mein Büro«, sagte Schindler etwas barsch.

»Ja, sehr gut. Einen Moment bitte«, Faber nahm Enrico Erler am Arm, winkte Janis Hauer zu und ging dann mit den beiden einige Meter von Schindler und ihrem Stellvertreter weg.

»Wo bleibt denn Marko schon wieder?« fragte die Kommissarin Erler.

»Das wollte ich dir noch sagen: Der kommt etwas später, der steckt im Feierabendverkehr fest.«

»Okay … Sonst noch irgendetwas, was ich wissen sollte?«

»Eigentlich nur die Mappe hier, die hatte die Ahlen bei sich. Ich hab mir die ersten Blätter angesehen und versteh kein Wort: Was, verflucht noch mal, ist denn ʼne …« Erler schaute verständnislos in sein Notizbuch, hielt es so, dass Faber hineinsehen konnte und buchstabierte dann langsam »… ›Tra­ns*In­ter*GnC‹?«

Faber runzelte die Stirn.

»Keine Ahnung. Vielleicht irgendetwas Didaktisches? Gib die Mappe erst einmal an die KTU, wir sehen uns das Ganze dann später an – so wichtig wird das schon nicht sein

Friederike atmete kurz durch.

»So, dann wollen wir mal die Direktorin interviewen.«

Die Schulleiterin und ihr Stellvertreter

»Oh, Sie sind sicher die Herrschaften von der Polizei?« fragte die Sekretärin Friederike Faber und Janis Hauer, welche sie sichtlich ungeduldig von der Tür aus ansahen. Enrico Erler hatten sie am möglichen Tatort zurückgelassen.

»Richtig. Faber ist mein Name. Dies ist mein Kollege Hauer, Frau …«, die Kommissarin blickte auf das Namensschild auf dem Tresen, »Lewandowsky. Wir möchten zu Frau Schindler.«

»Ja, ich bin schon informiert. Gehen Sie doch bitte dort drüben durch und warten Sie im Gang. Frau Schindler telefoniert gerade noch mit dem Kultusministerium.«

»Kommst du, Janis?« fragte Faber ihren Kollegen, der fasziniert ein Werbeplakat mit einer äußerst attraktiven Schülerin betrachtete, welches für das Berufliche Gymnasium Beauty & Bodyforming warb. Es sah so aus, als ob die Abgebildete sich vor der Kamera ihren Lippenstift auftragen würde. Der Slogan dazu in pinken Lettern lautete »Schlechte Noten abgeschminkt!«.

»Oh ja, sicher«, meinte Hauer und ging mit seiner Vorgesetzten durch den besagten Flur, in dem alle Mitglieder der Schulleitung ihre Büros hatten. An jeder der Türen links und rechts hingen Namensschilder. Friederike studierte alle im Vorbeigehen: »Studiendirektorin Luger. Leiterin des Beruflichen Gymnasiums«, »Studiendirektorin Glock. Leiterin der Berufsschule, kaufmännischer Teil«, »Studiendirektorin Mörser. Leiterin der Berufsschule, gewerblicherTeil«.

»Eine ziemliche Frauenwirtschaft hier«, meinte sie zu Janis Hauer.

»Du hast recht. Ich dachte immer, Berufsschulen wären fest in Männerhand. Na ja, hier haben wir ja einen«, sagte Hauer und deutete auf eine Tür zu seiner Linken. Er stutzte.

»Ach du liebe Güte – da mussten die wohl anbauen …«

Friederike runzelte die Stirn, da sie die Aussage ihres Kollegen zunächst nicht verstand, dann aber sah sie, dass das Türschild mit dem Namen des Schulleitungsmitglieds offenbar nachträglich verlängert worden war, damit alle Titel und Aufgaben darauf Platz finden konnten. Sie las: »Studiendirektor Dr. Lewsky. M. A., M. Sc. Qualitätsmanagement und Öffentlichkeitsarbeit«.

Die Tür rechts neben dem Büro von Lewsky stand offen und die Stimme des telefonierenden Herrn Einmann war leise zu vernehmen. Friederike blickte kurz auf dessen Türschild –»Stellvertretende Schulleiterin« stand unter einem leeren Namensfeld, scheinbar hatte sich niemand die Mühe gemacht, ein neues Schild anzubringen – dann trat sie um die Ecke und sah den Lehrer, welcher mit dem Rücken zur Tür saß, immer noch völlig verschwitzt krampfhaft den Telefonhörer umklammert hielt und nun angestrengt lauschte. Die Polizistin bemerkte er nicht, so sehr nahm ihn das Telefonat ein. Sein Gesprächspartner hielt vermutlich gerade einen längeren Monolog, denn der stellvertretende Direktor nickte immer wieder eifrig.

»Ja, ja. Natürlich mache ich das, Herr Lewsky … Aber davon habe ich noch nichts gehört.«

Einmann hörte wieder aufmerksam zu, Friederike näherte sich dem Telefonierenden vorsichtig von hinten. Auf dem Schreibtisch war ein großformatiges teuer gerahmtes Bild aufgestellt, welches sofort ins Auge fiel. Zu ihrer Überraschung erkannte Faber, dass es sich scheinbar um ein etwas verschwommenes Profilfoto von Frau Schindler handelte. Janis Hauer war inzwischen ebenfalls eingetreten und musterte das Bild mit schräg gelegtem Kopf. Fragend blickte er zu seiner Vorgesetzten. Der vor ihnen Sitzende antwortete in diesem Moment wieder seinem Gesprächspartner.

»Ach so. Ja, ich versuche selbstverständlich zu Ihrer Fortbildung zu kommen. Ja. Das gebe ich weiter und das Formular hänge ich aus. Vielen Dank nochmal!«

Einmann legte auf. Friederike sah, dass auf dem Computerbildschirm vor Arnold Einmann offenbar eine Seite von eBay geöffnet war, wo hochhackige Frauenschuhe in einer Aktion angeboten wurden. Janis Hauer räusperte sich, was den stellvertretenden Schulleiter erschrocken zusammenfahren lies. Er stieß einen leisen Schrei aus und sprang blitzschnell auf. Als er sah, wer vor ihm stand, seufzte er erleichtert.

»Ach, Sie sind es! Ich dachte schon …«

»Was dachten Sie?« fragte interessiert Janis Hauer, während die Kommissarin wieder irritiert das gerahmte Bild im Goldrahmen ansah.

»Ach, ähm, nichts. Schon gut«, sagte Einmann. Vorsichtig schob er mit seinem rechten Fuß einen großen glänzenden Metallkoffer unter den Schreibtisch. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was dieser, ähm, Unfall für Probleme verursacht!«

»Wir wollten eigentlich zu Frau Schindler …«, sagte Hauer.

»Ja, ja«, Einmanns Blick fiel auf die halboffene Schranktür hinter den Polizisten und er eilte hastig an ihnen vorbei und schloss diese, dann atmete er tief durch und strich sich die Haare aus der Stirn. Er deutete auf eine rot-blinkende Lampe über der Bürotür.

»Frau Schindler telefoniert noch!«

Friederike überlegte, ob sie Einmann fragen sollte, welche Bedeutung den fünf Lämpchen zukam, die neben der blinkenden angebracht waren. Dies ließ sie aber bleiben, da in diesem Moment die besagte Birne erlosch.

»Oh, nun ja, ich denke, wir können dann«, meinte Einmann fahrig. Er deutete auf eine Tür neben dem von ihm geschlossenen Schrank, stand auf und klopfte äußerst vorsichtig. Faber bemerkte, dass er vorher noch einen schnellen Blick auf den Schrank warf.

»Herein, Herr Einmann«, sagte Frau Schindlers Stimme durch die Tür. Einmann öffnete den Durchgang, trat ein und meldete die beiden Polizisten an. Friederike und ihr Kollege betraten einen großen Raum, in dem Frau Schindler hinter einem gewaltigen Schreibtisch saß, dessen eine Hälfte von Umzugskartons belegt wurde. Sie stand auf und deutete auf einen in der Mitte des Raumes befindlichen Konferenztisch.

»Nehmen Sie doch Platz. Ich bin sofort bei Ihnen.«

Während die Polizisten sich setzten, winkte die Schulleiterin Einmann zu sich heran, der neben der Tür stehengeblieben war und offensichtlich irritiert die Masse an Kartons musterte. Friederike nahm ihr Notizbuch aus der Tasche ihrer Lederjacke und blickte interessiert zum Schreibtisch hinüber. Ihr fiel auf, dass vor diesem sichtlich unbequeme Holzstühle platziert waren. Den Tisch selbst hingegen hatte die Direktorin in dem lichtdurchfluteten Raum so angeordnet, dass die grelle Helligkeit genau durch das Fenster von hinten einfiel. Beifällig erkannte Faber, dass ein solches »Setting« auch für Verhöre mit »harten Jungs« im Polizeirevier verwendet wurde. Da das Arbeiten am Computer für die Schulleiterin sich durch die Lichtverhältnisse sicherlich unangenehm gestaltete, glaubte die Polizistin nicht an einen Zufall dieses Arrangements. Inzwischen hatte Schindler Einmann am Arm weg in die andere Ecke des Raumes gezogen und ihre Stimme gesenkt, die aber immer noch laut genug war, dass Faber und Hauer sie verstehen konnten.

 

»Herr Einmann: Haben Sie Herrn Lewsky erreicht?«

»Ja, Frau Schindler. Er meinte, dass er leider nicht weg kann. Er wird aber detaillierte Anweisungen schicken, wie wir uns verhalten sollen. Eine Presseerklärung schickt er auch.«

»Gut. Dann wollen wir mal hoffen, dass alles gut geht.«

Der stellvertretende Schulleiter nickte eifrig, fuhr sich schnell durch seine verschwitzten Haare und wandte sich zum Gehen.

»Halt. Warten Sie, Herr Einmann«, hielt Schindler ihren Stellvertreter zurück, der sich flugs umdrehte und zu ihr zurückkehrte. »Ich muss Ihnen noch etwas Wichtiges mitteilen, was nicht bis morgen warten kann.«

Sie machte eine Kunstpause, während Einmann erwartungsvoll und mit großen Augen von einem Bein aufs andere trat.

»Das Kultusministerium hat mir soeben telefonisch mitgeteilt, dass ich ab nächsten Monat dort als neue oberste Aufsichtsbeamtin für die Sektion IV anfangen werde«, Faber konnte sehen, dass Einmann in diesem Moment noch bleicher als bisher wurde, »deshalb sollten Sie jetzt auch an dieser Unterredung teilnehmen und auch über alle weiteren Schritte informiert werden, so dass Sie theoretisch in der Lage sind, die Schule kommissarisch zu leiten, falls mein Nachfolger, trotz eigentlich reichlich frühzeitiger Vorbereitung meinerseits, zum Ersten noch nicht feststehen sollte.«

Faber meinte zu hören, dass Arnold Einmann unwillkürlich abermals einen leichten Schrei ausstieß. Er sank auf einem der Holzstühle vor Schindlers Schreibtisch nieder.

»Aber, aber … Frau Schindler, wie können Sie, ähm, nur gehen? Meine Miss …, äh, ich meine: Was wird denn dann aus mir?«

Er blickte seine Vorgesetzte mit weit aufgerissenen Augen von unten an. Diese zuckte lapidar mit den Schultern und blickte zu den Polizisten am Konferenztisch hinüber.

»Na los, Herr Einmann, wir haben zu tun – außerdem glaube ich, dass die Sache mit meiner Nachfolge ja mehr als klar sein dürfte«, Schindler zog den konsternierten Einmann leicht am Arm in Richtung der wartenden Polizisten.

»Sie müssen entschuldigen, aber hier geht momentan alles drunter und drüber. Ich musste die morgige Konferenz vorbereiten und mich dann mit dem Schulträger auseinandersetzen, wegen des neuen Namens für die fusionierte Schule. Und zuletzt habe ich heute Mittag stundenlang drei neue Kollegen vereidigt. Das ist immer sehr aufwendig.«

Die Schulleiterin und ihr Stellvertreter nahmen Platz.

»Wie meinen Sie das?« fragte Janis Hauer, unablässig an seiner Krawatte herumspielend.

Schindler musterte den Polizisten nachdenklich.

»Scheinbar ist es im Polizeidienst nicht gar so papierintensiv, wenn Sie so fragen«, antwortete Schindler. »Im Schuldienst muss alles mögliche erläutert und dokumentiert werden. Die künftigen Kolleginnen und Kollegen unterschreiben, dass sie auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, nicht bestechlich sind, die Schülerinnen und Schüler nicht züchtigen werden. Beamte müssen im Gegensatz zu Angestellten auch noch zusätzlich bestätigen, dass sie nicht geistig behindert sind. Ich brauche für solche Formalien, abhängig von der Person, immer mindestens eine Stunde.«

»Frau Schindler, kommen wir doch zu dem heutigen Vorfall, deshalb sind wir ja hier«, warf Friederike ein, bevor Janis Hauer, den die Ausführungen scheinbar gehörig interessierten, eine Nachfrage stellen konnte.

»Gut«, antwortete die resolute Direktorin. »Was wollen Sie denn nun wissen?«

Sie sah die beiden Polizisten ruhig an, während Einmann still und sichtlich nervös auf seinem Stuhl hin und her rutschte, zunehmend mehr in sich hineingrübelnd.

»Vielleicht stellen Sie mir und meinem Kollegen zunächst einmal kurz die Verstorbene vor?« regte Faber an.

»Gut, wenn Sie möchten. Also Frau von Ahlen war ein – nun ja – prominentes Mitglied unseres Kollegiums …«, begann Schindler. »Und wenn ich über diese Bezeichnung nachdenke, fällt mir gleich auf, dass sie damit gar nicht einverstanden gewesen wäre. Sie war eine sehr eifrige Kämpferin für Frauenrechte und damit einhergehend für gerechte, nicht diskriminierende Sprache.«

»Und warum hätte sie dann etwas gegen Ihre Aussage gehabt?« fragte Janis Hauer. »War sie denn nun nicht so ›prominent‹ oder wie?«

»Ach nein, aber die Bezeichnung ›Mitglied‹ ist ihr mehrmals übel aufgestoßen, wenn sie es hörte. Unter anderem hat sie neulich zu einer Konferenz eingeladen mit der Anrede ›Liebe Mitglieder und Mitklits‹, um dem konnotierten männlichen ›Glied‹ etwas ebenso Weibliches entgegenzustellen.«

»›Mitglieds‹?« Janis Hauer sah die Direktorin völlig verständnislos an. »Was soll denn das sein?«

»M-I-T-K-L-I-T-S«, buchstabierte Frau Schindler. »Von ›Klitoris‹, Sie verstehen?«

Friederike beobachtete amüsiert, dass ihr Kollege mit offenem Mund sprachlos dasaß. So hatte sie ihn in nunmehr vier Jahren Zusammenarbeit noch nie erlebt.

»Ist Frau von Ahlen denn mit dieser Haltung vielleicht im Kollegium angeeckt?« fragte die Hauptkommissarin.

»Was meinen Sie damit? Sie gehen scheinbar ja tatsächlich davon aus, dass hier ein Verbrechen vorliegt?«

»Tut mir leid, Frau Schindler. Aber so sind nun einmal die Vorschriften«, versuchte Friederike die Direktorin zu beruhigen. »Also, wie sieht es damit aus?«

»Nun ja, einige, insbesondere natürlich männliche, Personen, haben sich darüber aufgeregt. Als das ›Lehrerzimmer‹ vor zwei Monaten in ›Kollegiumszimmer‹ umbenannt wurde, gab es richtige Proteste, da lag ja fast ein Prager Fenstersturz in der Luft. Es gab auch noch einige andere Dinge, welche die Sprache betreffen, die wir hier immer noch – ich schließe mich da nicht aus – oft so unbedarft verwenden. Allerdings: Da Frau von Ahlen ab dem nächsten Schuljahr als ›Gleichstellungsbeauftragte‹ am Schulamt vorgesehen war, wusste doch jeder, dass sie bald nicht mehr hier sein würde, somit wäre das, was Sie hier durch Ihre Fragen andeuten, also Mord, gar nicht nötig. Sie war eine so engagierte Frau, die sich nicht nur für die Belange von Frauen vehement eingesetzt hat, sondern ferner auch für die Interessen von Transpersonen et cetera, die ja, wie Sie sicher wissen, in der gesellschaftlichen Diskussion immer größeren Stellenwert gewinnen. Die Einrichtung der Transgender-Toilette an unserer Schule ist allein Frau von Ahlens Verdienst.«

Friederike legt den Kopf schief und sagte nichts, da sie die Erfahrung gemacht hatte, dass man Menschen manchmal besser einfach reden lässt, um an Informationen zu gelangen. Die Schulleiterin fuhr dann auch fort.

»Wenn Sie schon unbedingt so etwas wie ein Motiv suchen, dann sollten Sie eher Folgendes bedenken: Auch wenn Frau von Ahlen am Schulamt arbeiten würde, wäre hier an der Schule immer noch eine ›A 14-Stelle‹ blockiert, da sie ja nur abgeordnet wäre. Für eine solche Beförderung würden einige Kollegen, nach allem, was ich hier in den letzten Jahren miterleben durfte, über Leichen gehen. Jetzt nach diesem Todesfall wird somit wieder eine Beförderungsstelle frei: Wenn es tatsächlich einen Mörder gibt, dann sind alle Bewerber auf die Stelle besonders verdächtig! Das sollte ich wohl auch so dem Kollegium kommunizieren …«

»›A 14‹ ist ja auch ein Haufen Geld«, warf Janis Hauer ein, der sich wieder gefangen hatte.

»Na ja, für Sie als Polizisten vielleicht«, meinte die Schulleiterin etwas schnippisch.

»Hatte Frau von Ahlen denn in letzter Zeit mit irgendjemand konkrete Probleme?« fragte Friederike.

»Frau von Ahlen hatte eigentlich beständig ›Probleme‹ mit irgendjemanden, wie Sie es zu nennen belieben«, antwortete die Direktorin. »Durch ihren Einsatz in Genderfragen gab es ständig Friktionen. Ich habe Ihnen ja schon so etwas angedeutet. Sie hat es aber manchmal wirklich ein wenig übertrieben: Zum Beispiel hat sie sich ungerechtfertigterweise gegen Herrn Lewsky gewandt, der an der Schule den neuen Schwerpunkt als Schulversuch im Beruflichen Gymnasium etabliert hat. Der Erfolg gibt ihm wahrlich recht: Wir konnten unsere Schülerzahlen im Gymnasium mehr als verdoppeln! Und wenn übernächstes Jahr die Sache mit dem ›dualen Abitur‹ ein Erfolg wird, dann müssen wir hier wohl anbauen.«