Buch lesen: «Tod auf der Finca»

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH

eISBN 978-3-8271-8392-7

Alex Conrad

Tod auf der Finca

Carmen Munar ermittelt


Für Mallorca, meine Heimat

Prolog

Schritte … der Hall ihrer eigenen in dieser schmalen und verwinkelten Gasse oder fremde? Carmen blieb stehen, lauschte. Ihre rechte Hand ging wie automatisch zum Holster, umschloss mit den Fingern die Dienstwaffe.

Einatmen, ausatmen. Dieses verfluchte Gefühl von Angst wegatmen. Bei Tag wirkte die Altstadt von Palma ja durchaus romantisch, aber sobald die Nacht hereinbrach, war es abseits des Haupttrubels mit seinen Restaurants und Bars vorbei mit Romantik.

Noch immer die Hand an der Waffe ging Carmen weiter. Ihr eigener Herzschlag dröhnte in den Ohren, machte es unmöglich, auf fremde Schritte zu lauschen. Gleich erreichte sie eine Ecke. Sie hastete um die Abzweigung, blieb stehen, drehte sich um und spähte in die Gasse zurück.

Ein Schatten huschte in einen zurückgesetzten Hauseingang. Es war also tatsächlich jemand hinter ihr gewesen. Wartete er dort nur auf die Gelegenheit, ihr erneut hinterherzulaufen, oder täuschte sie sich und es war nur ein Anwohner, der nun sein Haus betrat? Wenn doch dieses Dröhnen in den Ohren nicht wäre, könnte sie vielleicht das Klappen einer Tür hören.

Carmen biss sich auf die Unterlippe. Eben noch hatte sie den jungen Mädchen und Frauen im Selbstverteidigungskurs gepredigt, dass es nicht nur auf die Techniken bei einem möglichen Angriff ankam, sondern vielmehr schon auf ein selbstbewusstes Auftreten, um nicht als Opfer auserkoren zu werden. Wieso gelang ihr das selbst nicht immer?

„Ich bin wehrhaft, habe die Kontrolle. Es gibt keine Bedrohung“, flüsterte sie ihr Mantra, das ihr die Therapeutin damals ans Herz gelegt hatte. Ihr Atem wurde etwas ruhiger und sie streckte den Rücken durch.

Erneut spähte sie um die Ecke in die Gasse zurück. Kein Schatten zu sehen. Mit schnellen Schritten ging sie weiter. Wieso war sie auch zu Fuß zu dem Kurs gegangen, statt das Auto zu nehmen? Sinnlose Frage … Rücken durchdrücken, fest auftreten. Alles nur Einbildung, heraufbeschworen von einer nicht rationalen Angst. Bilder der Vergangenheit tauchten vor ihr auf. Drohgebärden und Gebrüll von Sergio im Gerichtssaal beim Urteilsspruch über ihn und die Mitglieder seines Drogenkonsortiums. Sie könne niemals sicher sein, irgendwann stehe jemand hinter ihr und dann … Carmen löste den Griff an der Waffe und wischte sich mit der flachen Hand über die Stirn, um die Bilder zu vertreiben, doch das ungute Gefühl nahm zu, ihr Atem beschleunigte.

Vor ihr war eine Straßenlampe ausgefallen und das letzte Stück bis zu einer breiteren Straße schien sich in der Dunkelheit aufzulösen.

Ein Duft stieg ihr in die Nase: Aftershave – ganz nah!

Ruckartig drehte sie sich um, duckte sich dabei, ihre Finger berührten Stoff. Carmen packte zu, schnellte mit dem Oberkörper hoch, riss die Arme mit nach oben.

Mit einem Schrei landete der Angreifer auf dem Boden. Sein Atem ging stoßweise.

Carmen zog ihre Waffe, entsicherte. „Nicht bewegen! Ich bin bewaffnet!“ Mit der anderen Hand fingerte sie ihr Handy aus der Tasche. Drückte dabei den Knopf auf der Seite für die Taschenlampenfunktion.

„Schlampe!“, schrie der Mann und drehte geblendet den Kopf weg.

„Ich sagte: Nicht bewegen!“ Noch immer richtete Carmen ihre Waffe auf den Mann. Trotz der Handylampe konnte sie sein Gesicht nicht gut erkennen, denn er trug ein Kapuzenshirt und hatte die Kapuze fest unterhalb seines Mundes zusammengebunden. Oberhalb zog sich das Gummiband bis über seine Augenbrauen. Handschellen oder Kabelbinder hatte sie nicht dabei. Sie musste die Kollegen anrufen.

Ihr Blick ging hastig zwischen dem Angreifer und dem Handydisplay hin und her. In der rechten Hand hielt sie die Waffe und mit der linken allein rutschte sie am Display für die Kurzwahl ab.

Der Tritt gegen ihre Waffenhand kam unerwartet. Ihre Waffe schlitterte über den Boden und der Angreifer stand wieder auf beiden Beinen. Drückte sie energisch an die Hauswand.

Bevor Carmen mit einem Abwehrschlag auf seinen Hals kontern konnte, sprang er einen Meter zurück.

„Glück gehabt“, zischte er und rannte davon.

Der Puls an ihren Schläfen wummerte, der Schweiß in ihrem Nacken lief mittlerweile ihren Rücken hinab. Einatmen, ausatmen.

Der Lichtschein ihrer Handylampe zitterte, als sie den Boden ableuchtete. Wenige Meter vor ihr lag die Waffe. Sie hob sie auf, sicherte sie und schob sie zurück ins Holster.

Den Typen zu verfolgen, konnte sie vergessen, der war längst irgendwo verschwunden. Für eine Suche in der Verbrecherkartei hatte sie zu wenig von seinem Gesicht erkennen können. Die Angst wich der Wut. Carmen trat gegen die Hauswand. Wieder und wieder. Bis ihre Beine müder wurden, die Atmung ruhiger. Dieses Arschloch würde sie nicht kleinkriegen. „Ich bin wehrhaft, ich habe die Kontrolle.“

Eins

Carmen zupfte ihre Uniform zurecht. Sie hasste es, sich zu offiziellen Anlässen hineinzuzwängen, und war dankbar, anschließend zum normalen Dienst wieder in ihre Jeans schlüpfen zu können. Bestimmt wollte sie der Polizeichef sehen, um sie zum letzten Erfolg zu beglückwünschen. Über ein halbes Jahr hatte sie die Ermittlungen in einem verzwickten Mordfall geleitet und den Mörder überführt.

Zumindest hoffte Carmen, dass es nichts mit ihrer nächtlichen Begegnung zu tun hatte. Die wenigen Tage, die bisher vergangen waren, hatte sie mehrmals angesetzt, ihrem Kollegen Joan von dem Vorfall zu erzählen, doch am Ende Abstand davon genommen. Da sie den Angreifer nicht erkannt hatte, wäre es sinnlos und würde nur für Aufregung in ihrem beruflichen Umfeld sorgen. Zwar war die Erinnerung nicht verblasst, doch die Angst beherrschte sie nicht. Rational betrachtet wusste sie nichts über den Angreifer und möglicherweise war es einfach nur ein missglückter Angriff eines Junkies auf der Suche nach Geld gewesen. Wobei … hätte der Geld gehabt, sich ein Aftershave zu leisten?

Wenn nach Dienstschluss die Wut darüber, sich ausgeliefert zu fühlen, hochgekocht war, war sie am Meer entlanggelaufen. Von der Kathedrale bis zum Fährhafen und zurück … schneller und schneller, bis alles Denken und Fühlen nur noch von dem nächsten Schritt vor ihr beherrscht worden war.

Carmen atmete tief durch, bevor sie an die Tür des Leiters der Policia Nacional klopfte.

„Herein.“

Sie öffnete die Tür, trat ein und schloss sie wieder hinter sich, ehe sie sich militärisch korrekt zum Gruß vor den Schreibtisch von Agustin stellte. „Director General!“

„Buenos días. Schön, dass Sie trotz der frühen Morgenstunde pünktlich sind. Bitte nehmen Sie Platz.“ Er lächelte Carmen freundlich zu.

Mit durchgedrücktem Rücken setzte sie sich auf den Stuhl.

„Carmen, ich darf Sie doch so nennen?“

Sie nickte.

„Nun, Sie haben beachtliche Erfolge vorzuweisen und das nicht nur hier in Palma. Ihre anderen Stationen auf dem Festland können sich ebenfalls sehen lassen.“

Wo führte das hin? Wollte er sie versetzen? Carmen fühlte sich sehr wohl in ihrer Heimatstadt und war vor acht Jahren überglücklich gewesen, als sie von Valencia zurück nach Palma beordert worden war. Zwar sah sie seitdem ihre Eltern nicht mehr so häufig, doch ihre Karriere ging vor. Ihr Vater hatte damals auch nicht gezögert, als ihm die Leitung einer Fliesenfabrik angeboten worden war und dafür die ganze Familie von Mallorca nach Valencia umziehen musste.

Obwohl Carmen die Zeit auf dem Festland genossen hatte, wollte sie jetzt nicht so schnell von Mallorca weg. Sie rang sich ein Lächeln ab.

„Haben Sie keine Angst.“

Er schien ihre Gedanken lesen zu können.

„Auch, wenn Sie mit sechsunddreißig Jahren noch jung sind, ist Ihre Karriere beispielhaft und immer mehr Frauen übernehmen Führungspositionen.“

„Um die Quote der Gleichberechtigung zu erfüllen“, rutschte Carmen heraus und sie bereute es sofort, als sie sah, wie Agustin die Nasenlöcher blähte. „Verzeihung.“

„Schon gut. Sie mögen damit in manchen Fällen recht haben, doch bei Ihnen …“, er beugte sich etwas vor, „ist es Ihre unermüdliche Leistung, die das Innenministerium von meiner Empfehlung überzeugt hat.“

Es klopfte.

Agustin lächelte sie an. „Ah, das wird Coronel Francisco Gamundi Barceló sein. Herein.“

Der Chef der Guardia Civil? Das wurde immer mysteriöser.

Die Tür öffnete sich und tatsächlich trat der Polizeichef, der alle Kriminalermittlungseinheiten außerhalb Palmas unter sich hatte, ein.

Carmen sprang auf und hob die Hand zum militärischen Gruß.

Francisco lachte. „So förmlich brauchen wir das hier heute nicht. Buenos días, Carmen.“ Er reichte ihr die Hand, bevor er Agustin freundschaftlich umarmte. „Weiß sie es schon?“

Agustin schüttelte den Kopf. „Du kommst gerade richtig.“ Er deutete auf den Stuhl neben ihr. „Setz dich doch.“

Francisco drehte sich zu Carmen. „Nehmen Sie auch bitte wieder Platz.“

„Also, da wir nun vollzählig sind“, Agustin lächelte breit, bevor er fortfuhr, „wird es offiziell. Carmen, Sie werden befördert in den Stand eines Sargento und unter dem Polizeichef von Inca, Capitán Matias Ramirez Forteza, die Leitung der dortigen operativen Ermittlungseinheit der Kriminalpolizei übernehmen. Ihr Vorgänger ist in Ruhestand gegangen.“

Carmens Mund wurde trocken vor Aufregung. Beförderung und Leitung. Damit hatte sie in frühestens drei Jahren gerechnet, wenn überhaupt. Sie würde umziehen müssen, um bei einem Verbrechen schnell verfügbar zu sein. Gab es freie Wohnungen in Inca? Möglicherweise käme sogar ein kleines Haus infrage. Ihr Ex-Mann Peter hatte sich dort nach ihrer Trennung vor zwei Jahren ein Landhaus gekauft. Vielleicht könnte er ihr bei der Suche helfen? Ein Garten wäre nett und …

„Carmen?“

Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. „Es … es ist mir eine Ehre.“

Francisco erhob sich und reichte ihr die Hand. „Auch wenn wir wahrscheinlich nicht viel direkt miteinander zu tun haben werden, freue ich mich auf die Zusammen­arbeit.“

Carmen war ebenfalls aufgestanden und erwiderte den Händedruck mit der gleichen Festigkeit. „Wann soll ich anfangen?“

„Sie wohnen ja zur Zeit in Palma“, Francisco rieb sich das Kinn, „doch wir würden einen Umzug Ihrerseits mehr als begrüßen, denn gerade als Leiterin könnte es durchaus sein, dass Sie auch außerhalb der normalen Bereitschaft schnell zu einem Fall dazukommen müssen und …“

„Das ist kein Problem“, unterbrach Carmen. „Ich sehe das genauso und zwanzig Minuten Fahrt oder mehr … so lange will ich die Kollegen im Ernstfall nicht warten lassen.“

„Ihre Bereitschaft freut mich sehr, doch ein Umzug muss nicht sofort sein, wenn Sie nicht gleich etwas Passendes finden. Reicht Ihnen eine Woche für eventuelle Vorbereitungen? Selbstverständlich stehen Ihnen während dieser Zeit freie Tage zu.“

„Ja, das hieße dann, dass ich zum Ersten dort anfangen soll?“

Mittlerweile hatte sich Agustin erhoben. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, weil es ein Samstag ist?“

Energisch schüttelte Carmen den Kopf. „Und wenn es ein Sonntag wäre.“

Francisco ging zur Tür. „In Ihrer ersten Woche werden Sie mit Ihrem Team auf sich gestellt sein, da sich Ihr Vorgesetzter Capitán Ramirez im Urlaub befindet. Ihre Ernennung ist jedoch mit ihm abgesprochen und ich soll Ihnen sagen, dass er sich auf die Zusammenarbeit freut.“

Carmen nickte. „Bitte, noch eine Frage, bevor Sie gehen.“

„Ja?“

Sie musste nachfragen, obwohl sie Angst vor der Antwort hatte. „Gab es nicht innerhalb der Einheit in Inca jemanden, den man auf den Posten hätte befördern können?“

Francisco blickte an ihr vorbei zu Agustin. Carmen folgte seinem Blick, drehte den Kopf und sah Agustin nicken.

Mit zwei Schritten kam Francisco auf sie zu. „Sie brauchen keine Bedenken zu haben. Und nein, Sie wurden nicht befördert, um eine Frauenquote in höheren Positionen zu erfüllen. Sie haben einfach mehr Zusatzqualifikationen in freiwilligen Lehrgängen erworben als einer Ihrer Kollegen vor Ort. Besonders Ihre letzten Weiterbildungen, bei denen es um Täterpsychologie und Weiterentwicklung in der Spurensicherung ging, haben Sie qualifiziert. Immerhin Themengebiete, die Sie für eine erfolgreiche Ermittlung nicht selbst bräuchten, da Ihnen dazu die forensische Spezialeinheit von hier zur Verfügung steht. Doch aufgrund Ihrer Qualifizierung müssen die Forensiker

bestimmt nicht oft zu Ihnen rausfahren. Ihr Kollege Gerado Bibiloni Capó hatte dafür keine Zeit. Er wurde letztes Jahr Vater.“

Carmen überkam sofort ein schlechtes Gewissen. Nur, weil dieser Gerado anscheinend seine Vaterrolle ernst nahm und im ersten Lebensjahr des Nachwuchses nicht aufs Festland zu Weiterbildungskursen wollte, hatte sie ihm den Posten weggeschnappt. „Ich verstehe“, sagte sie leise.

Agustin räusperte sich. „Es waren nicht nur die Fortbildungen. Ihre Aufklärungsquote ist besser. Sie haben es ehrlich verdient.“

Nachdem Carmen sich verabschiedet hatte, trat sie auf die Straße. Obwohl es erst halb neun war, schien ihr die Märzsonne kraftvoll ins Gesicht. Stolz und Angst, ob sie der neuen Aufgabe gewachsen war, wechselten sich ab. Sie ging den Passeig de Mallorca Richtung Meer und bog dann nach links zum Museo Es Baluard ab. Ein Kaffee auf der Terrasse des Museums für moderne Kunst sollte helfen, ihre Gedanken zu sortieren. Nur wenige Tische waren besetzt und sie nahm unter einem Sonnenschirm Platz.

Eine leichte Brise trug die Salzluft vom Meer herüber und die Takelagen der Segelboote im Jachthafen klirrten leise.

Genussvoll biss sie in das Croissant. Kleine Krümel fielen auf ihre Uniformhose, die sie rasch wegwischte. Nachdem sie das letzte Stück aufgegessen und einen zweiten Kaffee bestellt hatte, nahm sie ihr Handy aus der Tasche. Die Wohnungssuche stand an erster Stelle.

„Hola, liebste meiner Ex-Frauen“, begrüßte sie Peter, als er den Anruf annahm.

„Und deine einzige“, gab Carmen lachend zurück. „Störe ich?“

„Das Lämmchen steht gerade wacklig auf und die Mutter kümmert sich rührend. Also werde ich im Moment nicht gebraucht.“

„War wohl eine schwierige Geburt, wenn die Besitzer sich einen Tierarzt leisten.“

„He, davon lebe ich schließlich. War eine Steißgeburt. Aber du rufst bestimmt nicht an, um dich von meinen Geburtserzählungen langweilen zu lassen.“

Sie sah ihn direkt vor sich, wie er stolz neben dem Lämmchen stand. „Ich suche eine Wohnung in Inca. Kannst du mir helfen?“

„Bist du Palma über oder treibt dich die Sehnsucht in meine Nähe?“

Carmen schüttelte den Kopf. Sie ahnte, dass in dem versteckten Scherz der Frage möglicherweise ein Körnchen Wahrheit steckte. Seit der Trennung war der Kontakt nie abgebrochen und sie hatte bereits mehrmals den Eindruck gehabt, Peter würde gerne einen erneuten Versuch miteinander wagen. Ausgesprochen hatte er es allerdings nicht. Unwillkürlich musste sie lächeln, bevor sie ihm von der Beförderung und der knappen Zeitspanne für einen möglichen Umzug erzählte.

Nachdem er sie beglückwünscht hatte, versprach er, sich umzuhören und am nächsten Tag zu melden.

Carmen warf noch einen Blick zum Meer. In Inca gäbe es keinen Pausenspaziergang am Wasser entlang. Wehmut überkam sie auch beim Gedanken, nicht mehr mit ihrem Kollegen Joan zusammenarbeiten zu können. Und er würde einen neuen Kollegen oder eine Kollegin an seine Seite bekommen … Dabei hatte er eine Beförderung eigentlich auch verdient.

***

„Was ziehst du denn für ein Gesicht?“, begrüßte sie Joan, als Carmen das gemeinsame Büro betrat.

Sie schloss die Tür und setzte sich ihm gegenüber vor seinen Schreibtisch. Auf dem Weg zur Dienststelle, nachdem sie sich umgezogen hatte, waren ihr so viele Dinge durch den Kopf gegangen, doch eine Lösung, wie sie Joan die Neuigkeit mitteilen sollte, hatte sie dabei nicht gefunden.

„Ähm, also …“ Sie knetete ihre Hände.

Joan sah sie auffordernd an.

„Ich gehe weg.“

„Wie? Wohin?“

Grinste er etwa? „Du weißt es schon“, stellte Carmen fest.

Joan sprang auf und ging um den Tisch. „Ja, und ich gratuliere dir.“

Bevor sie aufstehen konnte, hatte er sich zu ihr gebeugt und umarmte sie.

„Du bist nicht sauer?“

„Worauf? Dass du befördert bist und dich künftig mit der Landbevölkerung rumschlagen wirst?“ Lachend schüttelte er den Kopf. „Keine Beförderung wäre es mir wert, Palma zu verlassen. Nein, ernsthaft. Ich würde da auf dem Acker eingehen, ich brauche die Stadt, das Meer, Bars, Singlefrauen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich hoffe nur, dass sie mir einen würdigen Nachfolger für dich an die Seite stellen, sonst werde ich doch noch wehmütig. Wobei … Wenn ich Glück habe, ist er oder sie ein wenig größer als du.“

Carmen tat, als würde sie einen Radiergummi nach ihm werfen. „Besser ein Meter fünfundsechzig geballte Kraft als ein Schlaffi von ein Meter und achtzig.“

***

Stöhnend schaltete Roberto den Wecker aus. Die letzten Stunden hatte er sich mehr oder weniger schlaflos von einer Seite auf die andere gedreht und sich immer wieder gefragt, warum er es nicht einfach lassen konnte.

Der letzte Abend lief noch einmal vor ihm ab. Fahrig hatte er den Schuldschein unterschrieben.

„Hier, dein Geld“, hatte Amador gesagt und ihm die Geldscheine über den Tisch geschoben.

Roberto nahm es an sich und stopfte es in die Hosentasche, während Amador den Schuldschein in der Schublade des Schreibtisches einschloss.

„Du weißt, in einem Monat ist Zahltag und nicht nur für den Kredit von heute.“ Amador stand auf. „Und ich erwarte, dass du pünktlich hier bist. Mit dem Geld und den Zinsen.“

„Ja, ja.“ Roberto hastete aus dem kleinen Büro und ging zurück in den Raum mit den Pokertischen.

Alle Augen der Mitspieler waren auf ihn gerichtet, als er wieder Platz nahm. Der Tischgroupier, der Robertos Karten in der Zwischenzeit verwahrt hatte, schob sie ihm zu.

„Was ist nun, Roberto?“, fragte sein Gegenüber. „Gehst du mit oder machst du dir in die Hosen?“

Roberto zog die vier Fünfhunderter aus der Tasche. Sollte er? Noch einmal warf er einen Blick auf seine Karten: drei Damen und zwei Neuner. Ein wirklich gutes Full House. Er holte tief Luft, bevor er die zweitausend Euro in die Tischmitte legte. „Ich will sehen!“

Sein Gegenüber hatte langsam die Hand gesenkt, in der er die Karten gehalten hatte. „Full House auf Asse.“

Roberto hatte gewürgt, Kälte war ihm durch den Magen gezogen. Scheiße!

Bei der Erinnerung überkam ihn erneut ein Würgereiz. Es war eine verdammte Sucht. So wie ein Alkoholiker nach einem Schluck gierte, berauschte ihn die Erwartung, wenn sein Einsatz auf dem Tisch lag. Das Adre­nalin flutete seinen Körper und alle Sinne richteten sich auf ein einziges Ziel: die nächsten Karten, der erneute mentale Wettkampf mit den Gegnern am Pokertisch. Der Säufer hatte später lediglich einen Kater zu beklagen, während er Schuldschein um Schuldschein bei Geldhaien unterschrieb und ein Ausweg in immer weitere Ferne rückte.

Mit schlurfenden Schritten ging er ins Badezimmer. Noch hatte er ein Bad. Wenn nicht bald Geld reinkäme, würde er spätestens in zwei Monaten die Miete nicht bezahlen können. Wie gerne wollte er mit allem auf­hören, doch die Gier nach dem Adrenalin des Spiels zwang ihn nach wenigen Tagen erneut, die geheimen Plätze aufzusuchen, an denen die Gleichgesinnten ihrer Sucht nachgingen. Ein einziges gutes Spiel könnte alles drehen. Er wäre seine Schulden los und … Er schüttelte den Kopf. Nichts und … Er würde hingehen und die Spirale von Neuem in Gang setzen. Aber irgendwann musste er doch auch wieder Glück haben. Vor einem halben Jahr war er schuldenfrei gewesen – nach einem einzigen Abend und einem Gewinn von vierzehntausend Euro. Er brauchte bloß ein wenig Startkapital, dann …

***

Roberto parkte sein Auto vor der Schinkenfabrik. Noch hatte er zehn Minuten bis Arbeitsbeginn. Er öffnete das Fenster, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und steckte sie an. Genussvoll atmete er ein, während er das Handy aus der Tasche nahm. Sein Großvater Antonio war bestimmt auch früh auf den Beinen, denn seit Jahren fütterte er seine Zuchtschweine selbst und überließ das niemandem. Roberto wählte.

„Sí, was gibt’s?“

„Buenos días, Opa, hier ist Roberto.“

„Was willst du? Ich habe nicht viel Zeit. Eduardo wartet auf sein Futter.“

War ja klar, dass der Zuchteber wie immer Vorrang hatte. „Geht es ihm gut?“

„Du überraschst mich. Seit wann interessiert dich der Prachtbursche?“

Da wollte er einmal nett sein und schon stellte sein Opa das infrage. Roberto zog an der Zigarette. „Geht es dem Eber gut, geht es dir gut. Dachte ich.“

„Wir fühlen uns beide prächtig. Also, was willst du?“

Roberto drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich … also da ist so eine …“

„Warte einen Moment.“

Roberto hörte, wie sein Großvater zu jemandem sprach: „Nein und nochmals nein. Für deine Sauen gebe ich Eduardos Sperma nicht her. Solange du nicht reinrassig züchten willst, kannst du das vergessen … das ist nicht verhandelbar.“

Das musste der Nachbarzüchter Miquel sein, mit dem sein Opa seit einiger Zeit im Streit lag. Wie aus der Ferne vernahm Roberto die Stimme des anderen: „Cabezón!“ Und anschließend hörte er Schritte, als der andere sich anscheinend von seinem Großvater entfernte. Roberto musste dem Mann zustimmen, denn Sturkopf traf auf seinen Opa wirklich zu.

„So, da bin ich. Also, du brauchst wieder mal Geld“, sagte Antonio.

„Hilfst du mir?“

„Ich habe dir schon zu oft geholfen, doch jetzt ist damit Schluss. Selbst deine Eltern, würden sie noch leben, hätten dir schon längst den Geldhahn zugedreht.“

„Aber Opa, es ist wirklich das letzte Mal, bitte“, flehte Roberto.

„Nein! Und du solltest auch nicht auf ein üppiges Erbe spekulieren, denn ich werde demnächst mein Testament erstellen und alles dem Verein zum Erhalt der Rasse des mallorquinischen Schweins vermachen. Die werden sich dann auch anständig um Eduardo und seine Nachkommen kümmern.“

Diese Worte drückten Roberto direkt die Magensäure nach oben. Er schluckte und rieb mit der Handfläche über das Brustbein. „Ich bin doch dein Enkel … dein einziger.“

„Glaubst du, ich bin dement? Ich muss jetzt. Adios.“

Roberto setzte zu einer Erwiderung an, doch das Tuten zeigte an, dass sein Opa bereits aufgelegt hatte. Zwar konnte er ihn nicht enterben, zumal Roberto der einzige noch lebende nahe Verwandte war, … aber nur der Pflichtteil? „Verdammter Sturkopf!“

Nachdem er seine Schutzkleidung angezogen hatte, ging er in die Arbeitshalle und füllte die ersten Rollcontainer mit den Schweineteilen zur Weiterverarbeitung, die an andere Betriebe geliefert wurden. Was übrig blieb, warf er in den Container mit den Schlachtabfällen.

War man kein Zuchtschwein, durfte man zwar mindestens zwei Jahre durch die Eichenwälder toben, landete aber am Ende hier und die Keulen erfreuten irgendwann die Zungen der Gourmets, die sich diese Schinken leisten konnten. Nur zu Weihnachten kamen die Angestellten in den Genuss, wenn zur Betriebsfeier einige der Keulen für alle aufgeschnitten wurden.

Fast alles vom Schwein wurde genutzt und so blieben nur wenige nicht brauchbare Innereien und Knochen übrig. Selbst Nase und Ohren fanden Verwendung in Eintöpfen. Roberto warf einen der übrig gebliebenen Schädel samt Gebiss mit nur noch wenig Fleisch daran zu den Schlacht­abfällen. Daraus ließ sich nun wirklich nichts mehr machen, besonders seit auch ganze Köpfe nicht mehr für die rustikale Bauernküche gefragt waren. Selbst Auskochen brachte keinen guten Ertrag an Knochenmark und die Futterfabriken wollten sie ebenfalls nicht zu Mehl verarbeiten, da es zu umständlich war, vorher die Zähne alle zu ziehen. Obwohl den kastrierten Ebern die Hauer erst gar nicht richtig wuchsen und falls doch, sie abgeschliffen wurden, waren die Schneidezähne nicht minder gefährlich. Roberto musste aufpassen, sich nicht an ihnen zu verletzen.

„Du stierst auf die Zähne, als überlegst du, sie für die Zahnfee unters Kopfkissen zu packen.“ Sein Kollege Felipe stieß ihn lachend in die Seite.

„Ich bin nur vorsichtig.“ Mit Schwung schob er den Rollcontainer zum Ausgang.

„Na, du bist heute ja wieder mal gut gelaunt.“ Felipe ging neben ihm. „Du brauchst echt mal bald eine Freundin, dann bist du morgens zwar müde, aber dafür lassen dich die Hormone grinsen.“

Roberto blieb stehen. „Du willst mich bloß wieder verkuppeln. Das ging schon das letzte Mal schief.“

„Ich gebe ja zu, ich wusste nicht, dass Elena so schräg drauf ist und einen Kontrollwahn hat.“

„Das war nicht nur ein Wahn. Die ist besessen, so wie die mich gestalkt hat. Aber das Schlimmste war, wie sie mir diese Spionageapp auf mein Handy geladen hat, damit sie immer wusste, wo ich bin.“ Er schüttelte den Kopf. „Dann lieber allein.“ Elena hatte ihn mit einem Küchenmesser in der Hand erwartet, weil sie dachte, er würde sich im Rotlichtviertel von Zafra mit Frauen amüsieren. Dabei hatte er nur im Hinterzimmer gezockt. Gerade so hatte er es ihr aus der Hand reißen können. Auf die Polizei hatte er verzichtet, sonst hätte er erklären müssen, wo er gewesen war. Glücklicherweise war Elena kurz danach von ihrer Firma nach Madrid versetzt worden.

Felipe legte die Hand auf seine Schulter. „Ich mein ja nur.“ Er sah auf die Uhr. „Mittagspause.“

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Veröffentlichungsdatum auf Litres:
25 Mai 2021
Umfang:
310 S. 1 Illustration
ISBN:
9783827183927
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