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So sey es

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II

Ich lag bis zum einundzwanzigsten Jahre meinen Studien ob und im Jahre 1832 ging ich auf Reisen.



Jede Reise, die ich unternahm, machte mich mit den Sprachen der verschiedenen Länder bekannt. Das Englische und Deutsche hatte ich schon im College gelernt und ich lernte diese Sprachen sehr geläufig sprechen. Das Italienische hatte ich unter der Anleitung meiner Mutter gelernt.



Sie sprach zuerst von Reisen. Ich würde es nicht gewagt haben, sie um ihre Einwilligung zu bitten; aber sie vertrat, wie sie mir einst gesagt, von Zeit zu Zeit Vatersstelle bei mir, um sich der mütterlichen Schwächen zu entledigen.



Nach jeder Reise brachte ich bald in Paris, bald zu Frières sechs Wochen bei ihr zu.



Während eines solchen kurzen Aufenthaltes lernten wir uns kennen. Ich hatte versucht, den Rath meiner Mutter so viel als möglich zu befolgen. Mit meiner Jahresrente von vierundzwanzigtausend Francs war ich reich. Dazu kam noch, daß meine Mutter nicht nur alle kostspieligen Liebhabereien befriedigte, sondern mir auch ihre Börse öffnete, wenn etwas Gutes zu thun war, wozu meine Mittel nicht ausreichten.



Ich legte ihr von Allem Rechenschaft ab.



»Machst Du Andere zuweilen glücklich?« fragte mich meine Mutter.



»So viel als ich kann,« antwortete ich.



»Bist Du selbst glücklich?«



»Ja, Mutter.«



»Langweilst Du Dich?«



»O nein, nie.«



»Nun, dann geht ja Alles gut,« sagte sie und schloß mich in ihre Arme.



In einem einzigen Punkte war sie streng: sie hatte mir das Versprechen abgenommen, nicht zu spielen, und ich hatte mein Versprechen gehalten, ohne daß ich mir den mindesten Zwang angethan.



»Es ist besser, einen Wechsel zu unterzeichnest, als eine Karte auzurühren.« sagte meine Mutter oft zu mir. »Wer einen Wechsel unterzeichnet, weiß wozu er sich verbindlich macht; wer eine Karte anrührt, betritt eine unbekannte Bahn und weiß nicht wohin diese ihn führen kann.«



Der Herzog von Orleans, der meine Lebensweise kannte, nannte mich scherzweise den »kleinen Blaumantel.« Aber wenn Jemand nach mir fragte, so wurde er wieder ernsthaft und antwortete: »Er macht sich nützlich.«



Er kannte meine Mutter und wußte ihre trefflichen Eigenschaften zu schätzen. Als er sich vermälte, wollte er sie in die nächste Umgebung der Kronprinzessin bringen, aber meine Mutter lehnte es ab.



Sie hatte seit dem Tode meines Vaters den Verkehr mit der vornehmen Welt abgebrochen; es war eine kaum vernarbte Wunde, die sie nicht wieder aufreißen wollte.



Im Jahre 1842 fand der Prinz den Tod. Dieser Verlust schmerzte mich tief. Ich sah Sie nach Ihrer Rückkehr von Florenz, wir betrauerten den Todten gemeinschaftlich.



In Dreux sprach ich wiederholt den Wunsch aus, mit Ihnen zu reisen ; ich gab Ihnen die Adresse meiner Mutter mit der Versicherung, daß man dort wissen würde, wo ich war.



Ihr Brief fand mich wirklich zu Frières – aber an dem Sterbebette meiner Mutter! An demselben Morgen um fünf Uhr hatte ich erfahren, daß sie an einer Gehirnentzündung erkrankt sey; ich war auf der Eisenbahn bis Compiegne gefahren und von dort im Galopp nach Frières geeilt.



Meine arme Mutter lag sprachlos und ohne Bewegung, aber ihre Augen waren offen.



Sie schien Jemand zu erwarten.



Ich hatte Niemand befragt, ich war in ihr Zimmer gestürzt und mit den Worten: »Da bin ich, Mutter!« vor ihrem Bett niedergesunken.



Die Thränen, an denen ich unterwegs fast erstickt war, brachen nun unaufhaltsam hervor.



Die Augen der Kranken machten nun eine schwache Bewegung gen Himmel und nahmen einen freudig dankenden Ausdruck an.



»O! sie erkennt mich,« schluchzte ich; »sie erkennt mich! Meine arme Mutter!«



Sie bewegte die Lippen; man sah es ihr an, daß sie dazu alle ihre Kraft brauchte.



O! ich weiß gewiß, diese Lippenbewegung bedeutete: Lieber Sohn!



Von jenem Augenblicke an blieb ich immer vor ihrem Bett.



Dann erhielt ich Ihren Brief und beantwortete ihn.



Der Arzt hatte meine Mutter kurz vor meiner Ankunft verlassen; er hatte ihr eine Ader geöffnet und Senfumschläge um die Füße gelegt.



Ich hatte genug medicinische Kenntnisse, um zu wissen, daß nichts weiter zu thun war; gleichwohl schickte ich zu ihm.



Als ich aufstand und auf die Thür zuging, um zu rufen, war es mir, als ob mich ein unsichtbares Etwas zu dem Bett meiner Mutter zurückrufe.



Ihr Kopf war regungslos, aber ihr Blick folgte mir mit ängstlicher Spannung.



Ich errieth ihre Bekümmerniß und kniete vor ihrem Bett nieder.



»O! sey nur ruhig, Mutter,« sagte ich, »ich verlasse Dich keinen Augenblick!«



Ihr Auge wurde wieder ruhig.



Der Arzt kam und fand mich auf den Knien.



Als wir einige Worte gewechselt hatten, sagte er:



»Haben Sie denn Medicin studirt?«



»Ein wenig,« antwortete ich seufzend.



»Dann.,« erwiederte er, »müssen Sie wissen« daß ich Alles gethan habe, was zu thun war; noch mehr, Sie müssen wissen, was zu hoffen oder zu fürchten ist.



.



Ach! ja, ich wußte es, und deshalb befragte ich ihn, deshalb suchte ich anderswo eine Hoffnung, die ich nicht hatte.



Um den Arzt zu empfangen und mit ihm zu sprechen, hatte ich mich von meiner Mutter entfernt.



Als ich mich nach ihr umsah, fand ich ihren traurigen Blick wieder auf mich gerichtet.



Dieser Blick schien mir zu sagen: Alles dies entfernt Dich von mir; was kann es nützen?



Ich setzte mich wieder vor ihr Bett. Das Auge wurde wieder heiter.



Ich schob meinen Arm unter ihren Kopf. Das Auge bekam einen fast freudigen Ausdruck.



Es war nicht zu verkennen, in dem absterbenden Körper lebten nur noch Auge und Herz und standen durch unsichtbare Fibern mit einander in Verbindung.



Der Arzt trat auf meine Mutter zu und untersuchte ihren Puls.



Ich hatte es nicht gewagt, ich fürchtete nichts so sehr als die Gewißheit.



Er mußte den Puls, der am Handgelenk nicht mehr zu finden war, mitten am Arm suchen.



Der Puls zog sich gegen die Arterie zurück. Ich sah dieses bedenkliche Zeichen und meine Thränen flossen reichlicher.



Meine Thränen fielen auf das Gesicht meiner Mutter; Ich suchte sie ihr nicht zu verbergen, ich dachte sie müßten ihr wohl thun.



Es erschienen wirklich zwei Thränen an ihren Augenlidern; ich küßte sie auf.



Der Arzt blieb vor mir stehen; ich sah ihn durch meine Thränen an, er hatte mir offenbar etwas zu sagen.



Aber er zögerte.



»Reden Sie,« sagte ich zu ihm.



»Ihre Mutter war eine fromme Dame,« sagte er, »wenn sie sprechen könnte, würde sie sagen was sie wünscht. Sie kennen sie besser als ich, Sie haben die Befehle zu geben, welche sie nicht geben kann.«



»Sie meinen, daß sie einen Priester wünscht?« fragte ich ihn.



Er nickte bejahend.



Mir brach der Angstschweiß auf der Stirn aus.



»O mein Gott! mein Gott!« sagte ich; »ist denn keine Hoffnung mehr? Könnte man mit der Elektricität nicht versuchen?«



»Es fehlt uns an einem Apparat.v



»Ich will von St. Quentin oder Soissons einen holen —«



Ich hielt inne. Das Auge meiner Mutter hatte einen trostlosen Ausdruck angenommen.



»Nein, nein, nein!« sagte ich zu ihr, »ich verlasse Dich keine Minute, keine Secunde!«



Ich warf mich wieder auf meinen Armsessel und schmiegte meinen Kopf an das Gesicht der theuern Kranken.



»Lassen Sie einen Priester kommen,« sagte ich zum Arzt.



Er nahm seinen Hut, aber als er fortgehen wollte, rief ich ihm nach:



»Mein Gott! ich sehe wohl, daß sie mich kennt, aber wird sie nicht mehr mit mir sprechen?«



»Es ist zuweilen der Fall, daß die scheidende Seele noch einmal Klarheit und Worte findet, um Abschied zu nehmen, ehe sie ihre Hülle verläßt; aber – es ist selten,« setzte er kopfschüttelnd hinzu.



Ich sah ihn erstaunt an.



»Ich dachte,« sagte ich, »die Aerzte wollten von einer Seele nichts wissen.«



»Ja,« erwiederte er, »manche Aerzte läugnen das Daseyn der Seele: andere hingegen hoffen es.«



»Herr Doctor.« sagte ich, »Sie sprachen eben von Elektricität.«



Er schien zu errathen was ich meinte.



»Erklären Sie sich,« sagte er.



»Könnte man die Elektricität nicht durch den Magnetismus ersetzen?«



»Ich glaube, daß es möglich wäre,« sagte er lächelnd.



»Nun, so versuchen wir es,« sagte ich.



Er legte die Hand auf meinen Arm.



»In der Provinz,«– erwiederte er, »kann ein Arzt solche Versuche nicht machen; in Paris würde es vielleicht rathsam seyn. Aber man braucht ja kein Arzt zu seyn, um zu magnetisiren; Sie müssen vermöge Ihrer Organisation eine große magnetische Kraft haben; versuchen Sie, wenn etwas auf der Welt im Stande ist, Ihrer Mutter auf Augenblicke die Sprache wieder zu geben, so ist es der Magnetismus.«



Er entfernte sich, als ob er über seine eigenen Worte erschrocken gewesen wäre.



Ich blieb allein mit meiner Mutter.



Ich war nicht weniger erschrocken als er.



Ich konnte, wie der Doctor sagte, mit Hilfe des Magnetismus dem Herzen meiner Mutter noch einige Worte, vielleicht ein letztes Lebewohl entlocken.



Für diese wenigen Worte, für dieses Lebewohl würde ich zehn Jahre von meinem Leben gegeben haben.



Aber war’s kein Frevel? Hatte die Anwendung dieses von der Wissenschaft bereits verworfenen und von der Religion noch nicht gebilligten Mittels nicht einige Aehnlichkeit mit Magie und Beschwörung? Und war es statthaft, daß ein Sohn die magnetische Kraft bei seiner Mutter anwandte?



Nein, mein Gefühl sagte mir, daß ich es nicht dürfe.



Ich begann inbrünstig zu beten.



»O Gott! flüsterte ich. »Du weißt wie innig ich meine Mutter liebe; gib, daß ich nie etwas thue, was deinem heiligen Willen nicht angemessen ist. Gott, ich flehe zu Dir, erhöre mich!«



Ich sank auf die Knie und überließ mich meinen Gedanken und Gefühlen.

 



Merken Sie wohl auf, lieber Freund! Es war vermuthlich nur eine Täuschung der Sinne aber als ich mit erhobenen Händen und gegen Himmel gerichteten Blicken betete und im Gebet die Seelenruhe fand, die dein Gläubigen gewährt wird, wo der Ungläubige nur Verzweiflung findet: da fühlte ich einen Kuß auf meine Wange und ich hörte eine leise Stimme, die mir in’s Ohr flüsterte:



»Lebe wohl, Max – mein lieber Sohn!«



Ja, ich fühlte, ich hörte es, lieber Freund; so wahr wie wir zwei biedere, aufgeklärte, verurtheilsfreie Männer sind!



Die Ueberraschung, die Freude entlockte mir einen Schrei und ich richtete mich auf.



Meine Mutter hatte sich nicht von der Stelle bewegt, sie lag noch immer regungslos und stumm da.



Aber ich hätte geschworen, daß ihr Auge mich anlächelte.



O! wie räthselhaft ist doch die Geistesthätigkeit des Menschen in den letzten Augenblicken seines Erdenlebens! Kein erschaffener Geist vermag dieses Geheimniß zu durchdringen.



Ich schloß meine Mutter in meine Arme und sagte:



»Ja Du hast mich geküßt, Du hast mir Lebewohl gesagt! Ich habe deine Lippen auf meiner Wange gefühlt, ich habe deine leisen Worte gehört.O wie danke ich Dir!«



Draußen ertönte die Glocke; sie meldete die Ankunft des Priesters, welcher der Sterbenden die letzten Tröstungen der Religion brachte.



Ich richtete mich auf und sah meine Mutter an. Ihr Auge hatte einen unbeschreiblich heitern, ruhigen Ausdruck. Ob sie, wie ich, den Glockenton gehört hatte, der ihr das nahe Scheiben ankündigte? Ob sie noch Empfindungen hatte, ohne sie äußern zu können?



Ich glaube es.



Der Priester trat ein; der Kreuzträger und die Chorknaben folgten ihm.



In den Vorgemächern, auf der Treppe, im Hofe knieten die Schloßbewohner und die Leute aus dem Dorfe, die dem Priester in der frommen und naiven Absicht, ihre Gebete mit den seinigen zu verbinden, gefolgt waren.



Meine Mutter hatte nicht Zeit gehabt zu beichten; aber die Kirche ist unter derlei Umständen sehr nachsichtig.



Der Priester schickte sich an, ihr die Sterbesacramente zu reichen.



Ich ersuchte ihn durch einen Wink, einen Augenblick zu warten.



Während meines Aufenthaltes in Rom hatte ich bei dem Papst Gregor XVI. eine Audienz gehabt, und ich trug am Halse an einer goldenen Kette ein kleines Kreuz von Perlmutter, welches von den Mönchen in Palästina gearbeitet, von dem heiligen Vater geweiht und mir zum Geschenk gemacht worden war.



Ich nahm das Kreuz ab und legte es meiner Mutter aus die Brust.



Es war ja das Sinnbild des Heilands, der die Tochter des Janus und den Bruder der Magdalena vom Tode erweckt hatte.



Ich betete im Stillen zu dem göttlichen Erlöser, für mich ein Wunder zu thun und mir meine Mutter wieder zu geben.



Ich kann nicht glauben, daß mein Gebet nicht inbrünstig genug gewesen, um zum Throne Gottes aufzusteigen, ich legte ja die ganze Innigkeit des Gefühles in meine Worte; aber ich muß glauben, daß die Zeit der Wunder vorüber ist oder daß ich einer solchen Gnade nicht würdig war.



»Ist die Kranke bereit, die Sterbesacramente zu empfangen?« fragte der Priester.



»Ja,« antwortete ich.



Ich richtete meine Mutter auf, der Priester sprach die heiligen Worte und reichte ihr die Hostie; der zuvor etwas offene Mund der Sterbenden schloß sich wieder, ich legte ihr Haupt wieder auf das Kissen und kümmerte mich um nichts mehr.



Ich betete, wie lange, weiß ich nicht. Als ich aufstand und mich umsah, war ich allein.



Der Priester war fort, er hatte seine Arbeit maschinenmäßig, ohne Theilnahme gethan, er hatte eine Berufspflicht erfüllt.



Ich sah wieder meine Mutter an: ihre Augen waren geschlossen.



Ich schrie laut auf – sollte sie verschieden seyn, ohne noch einen Blick auf mich geworfen zu haben?



Das war nicht möglich.



Sie schlug langsam und mit Ruhe die Augen auf.



Der Blick war matt glanzlos.



Mein Gott, der Tod kam!



Ich wandte meine Augen wenigstens nicht mehr ab von den Augen der Sterbenden.



O! wenn man durch den Blick in ein erlöschendes Herz wieder Leben bringen könnte, so würde meine Mutter gelebt haben.



Die Augenlider sanken langsam wieder hinab; ich hob sie mit den Fingerspitzen und hielt sie geöffnet.



Dann fiel mir ein, daß es vielleicht frevelhaft sey: es mag wohl einen Moment geben, wo die Sterbenden ihren Blick über die irdischen Dinge erheben.



Ich fühlte den Puls, er schlug nicht mehr; ich suchte die Arterie, ich konnte sie nicht finden.



Ich legte die Hand auf ihr Herz.



Das Herz schlug heftig und unregelmäßig.



»O! ich verstehe dich, du armes Herz, das mich so innig geliebt!« sachte ich schluchzend; »du magst mich nicht verlassen, du sträubst dich gegen die Trennung. Könnte ich doch auch den Tod bekämpfen, um dich am Leben zu erhalten!«



Dieses Herz schlug; es war für mich ein unaussprechlicher Schmerz, und gleichwohl konnte ich meine Hand nicht von ihm entfernen, es schien sich in alle Winkel der Brust flüchten zu wollen; ich verfolgte es überall, ich meinte, jeder Schlag des Herzens sage mir: Ich liebe dich!



Dies dauerte zwei Stunden.



Dann öffnete sich das Auge plötzlich und wurde glänzend; der Mund bebte und ließ einen leisen Hauch entschlüpfen.



Das Herz hörte auf zu schlagen – meine Mutter war todt!



Es war wenigstens Niemand da als ich; den letzten Blick der Augen, den letzten Hauch der Lippen, die letzten Schläge des Herzens, Alles hatte ich für mich genommen.



Ich ging aber noch nicht fort. Ich setzte mich vor das Bett, und hier saß ich lange regungslos, mit gefalteten Händen und zum Himmel gerichteten Blicken.



Im Laufe des Tages kam der Arzt.



Er öffnete leise die Thür. Ich nickte ihm bejahend zu, er verstand mich.



Er kam auf mich zu und küßte mich. Dem Priester war dies nicht eingefallen.



Abends kam der Priester wieder; er ließ Wachskerzen anzünden und setzte sich, das Brevier in der Hand, am Fußende des Bettes nieder.



Am andern Morgen kamen die Leichenfrauen. Ich mußte mich entfernen.



Ich nahm mein Kreuz von der Brust meiner Mutter, drückte noch einen Kuß auf ihre Lippen und ging dann festen Schrittes und trockenen Auges in mein Zimmer.



Aber als ich allein war, verriegelte ich die Thür und überließ mich meinem Schmerz. Unzählige Male küßte ich das kleine Kreuz, welches dem nun stillstehenden Herzen so nahe gewesen war.



III

Es war mir ein Bedürfniß, lieber Freund, Ihnen alles dies mitzutheilen. Ich habe beim Schreiben viel geweint, und dies hat mir wohl gethan.



Ich will Sie daher mit der Erzählung der weiteren für mich so schmerzlichen Vorgänge verschonen.



Vor Allem befahl ich, in dem Zimmer meiner Mutter nichts zu verändern.



Ich brachte hier die ersten Tage nach ihrem Tode zu.



Abends ging ich auf den Friedhof; erst spät begab ich mich wieder in’s Schloß, und mein erster Gang war in das Zimmer meiner Mutter. Immer ohne Licht.



In den ersten Nächten schlief ich auf dem Armsessel, der noch vor dem Bette stand. Ich hoffte die Verewigte werde mir erscheinen, doch ich hoffte vergebens.



Ich dachte mit Schmerz, ja fast mit Vorwürfen an die Zeit, die ich bei meiner Mutter hätte zubringen können und die ich fern von ihr verlebt hatte; ich dachte an die langen Reisen, auf denen ich freiwillig auf das Glück, sie zu sehen, verzichtet hatte. Und dieses Glück würde ich mir jetzt um jeden Preis erkauft haben.



Es schien mir, daß mein Leben künftig verfließen würde, ohne mich den Freuden und Genüssen der Gesellschaft wieder zuzuführen. Der Sommer verging, ohne daß es mir einfiel zu reisen; der Herbst kam und ich dachte nicht an die Jagd; es war mir nicht einmal in den Sinn gekommen, mit jenen weiblichen Bekanntschaften zu brechen, welche in dem gewöhnlichen frivolen Treiben der eleganten Welt die Liebe ersetzen sollen.



Ich hätte es in meiner Trauer für einen Frevel gehalten, in meinem Schmerz an eine jener Bekannten zu schreiben, selbst um ihr anzuzeigen, daß ich ihr nicht mehr schreiben würde. Ich glaubte nie mehr lieben zu können.



So lebte ich vier Monate in meiner Einsamkeit.



Zuweilen sprach ich den jungen Arzt, der meine Mutter, leider erfolglos behandelt hatte.



Er hatte nach und nach eine gewisse Gewalt über mich bekommen; auf seinen oft wiederholten Rath, eine Reise zu machen, entschloß ich mich endlich, Friéres zu verlassen.



Aber dreimal kehrte ich zurück; ich war mit tausend Banden an das Zimmer, an das Grab meiner Mutter gefesselt.



Endlich entfernte ich mich, aber ich mied Paris: die Einsamkeit war noch Bedürfniß für mich. Ich wollte in einem kleinen belgischen oder holländischen Seehafen, wo ich keinen Menschen kannte, im Angesicht des Orcans ein paar Monate bleiben.



Ich warf einen Blick auf eine Karte, die ich in einem Gasthof zu Peronne fand, und ich wählte Blankenberg drei Stunden von Brügge.



Dort« dachte ich« werde ich allein seyn.



Ich war zu Pferde abgereist, um weder im Postwagen noch im Waggon mit andern Menschen in Berührung zu kommen. Es war mir ziemlich gleichgültig, ob ich einen Tag oder eine Woche unterwegs war.



Ich rastete, wenn mein Pferd müde war, ich ward nie müde, ich schien unermüdlich. Ich fragte nicht einmal nach dem Namen einiger Städte, in denen ich übernachtete, und ich würde gar nicht bemerkt haben, daß ich die Grenze überschritten, wenn man nicht nach meinem Paß gefragt hätte.



Ich hatte in einem Städtchen unweit Brüssel übernachtet; ich wollte in Brüssel nicht anhalten, sondern in einem Dorfe jenseits dieser Stadt rasten. Als ich am botanischen Garten vorüberritt, hörte ich mich bei meinem Taufnamen rufen.



Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie unangenehm mir dies war.



Ich gab meinem Pferde die Sporen, um zu entfliehen, aber man trat mir in den Weg.



Es war Alfred de Senonches, einer meiner besten Freunde.



Aber in meiner damaligen Stimmung waren mir selbst meine besten Freunde unerträglich.



Ich war indeß so innig mit ihm befreundet, daß mein Schrecken gemildert wurde, als ich ihn erkannte.



Er war erster Gesandtschaftssecretär in Brüssel, und ich war der Schnelligkeit seiner Carriere nicht fremd gewesen.



Er bestürmte mich mit Fragen; ich deutete auf den Flor am Hut.



Er drückte mir die Hand.



»Ich verstehe,« sagte er. »Armer Freund, später werden wir —«



»Ja wohl,« unterbrach ich ihn, »später wird es mir viel Vergnügen machen, Dich zu sehen.«



»Willst Du nicht bei mir bleiben?«



»Ich halte mich in Brüssel gar nicht auf.«



»Wohin reisest Du denn?«



»An irgend einen Ort, wo ich allein seyn kann.«



»So reife glücklich!« sagte er, »Du bist noch zu krank, armer Freund, als daß man deine Heilung unternehmen könnte. Aber vergiß nicht, daß ein großer Schmerz eine wohlthuende Ruhe ist; Du wirst nach überstandener Trauer stärker-werden, als Du vorher warst.«



Ich sah ihn erstaunt an.«



»Bist Du etwa unglücklich gewesen?« fragte ich ihn.



»Ein geliebtes Wesen hat mich betrogen.«



Ich sah ihn an und zuckte die Achseln. Ich hielt es für unmöglich, daß man durch getäuschte Liebe so viel leiden könne, wie ich gelitten hatte.



»Und jetzt?« fragte ich.



»Jetzt bin ich sehr glücklich; ich spiele, rauche, trinke. Ich glaube, daß ich bald Präfect werde: Du kannst denken, daß mir an meinem Glücke nichts fehlen wird.



Dieses Mal sah ich ihn traurig an. Konnte wirklich ein Mensch unglücklicher seyn als ich?



Er errieth meine Gedanken, als ob ich sie laut ausgesprochen hätte.



»Lieber Max,« sagte er, »außer vielen anderen Arten des Schmerzes, die ich mit Stillschweigen übergehe, gibt es einen traurigen Schmerz: diesem bist Du verfallen. Dann gibt es einen bittern Schmerz, und diesen fühle ich. Ich möchte wohl tauschen, aber Dir rathe ich: tausche nicht. – Adieu, Du wirst mich doch in meiner Präfectur besuchen? Du mußt mein Hans als das deinige betrachten; ich werde Dich ruhig weinen lassen, vorausgesetzt, daß Du mir erlaubst, nach Herzenslust zu lachen. Hast Du Feuer bei Dir? ich möchte meine Cigarre anzünden. – Entschuldige, ich hatte vergessen, daß Du nicht rauchst, Adieu.«



Er redete einen Arbeiter an, der eine Meerschaumpfeife rauchte, zündete seine Cigarre an und ging, mir noch einige Male zuwinkend, auf die Vorstadt Schaerbeck zu.



Ich sah ihm nach, bis ich ihn aus dem Gesicht verloren hatte.



Dann ritt ich weiter und dankte Gott« daß er mir keinen so profanen Schmerz geschickt hatte.



Drei Tage nachher war ich in Blankenberg.



Drei Monate blieb ich im Angesicht des Oceans, des unendlichen.



Täglich ging ich am Strande hin, zu einer Felsengruppe, an welcher einige Tage vor meiner Ankunft ein Schiff gescheitert war.

 



Die fünf Seeleute, welche sich am Bord befunden, waren umgekommen; die menschliche Maschine war zuerst vernichtet worden.



Der Rumpf des Schiffes war mit solcher Gewalt zwischen zwei Felsen geworfen worden, daß er festsaß.



Am ersten Tage, wo ich das gestrandete Schiff besuchte, hatte es noch einen Mast, das Bugspriet und den größten Theil des Takelwerks. Aber es war Winter und das Meer immerfort unruhig; das Schiff verlor daher täglich etwas von seinem Takelwerk. Heute war’s eine Segelstange, morgen ein Mast, übermorgen das Steuerruder. Wie ein Rudel Wölfe einen Leichnam anfällt, so wälzten sich die Wogen auf das Wrack und rissen ein Stück davon ab,



Bald war das Schiff völlig abgetakelt. Nach dem Oberwerk wurde das Unterwerk abgerissen; die Planken wurden zertrümmert, dann sprang das Verdeck in Stücke, dann wurde das Hintertheil von den Wellen weggespült, endlich verschwand das Vordertheil.



Lange noch hing ein Stück des Bugspriets an seinem Tauwerk fest.



Endlich in einer stürmischen Nacht rissen die Taue, und der Mast würde von den Wellen fortgerissen.



Die letzte Spur des Schiffbruches war unter dem sich immer wiederholenden Andrang der Wogen, unter dem gewaltigen Flügel des Windes verschwunden.



Ach, lieber Freund, ich mußte mir selbst gestehen, daß, es mit meinem Schmerz ebenso ging, wie mit dem gescheiterten Schiffe, von welchem täglich ein Stück losgerissen und in das unendliche Weltmeer getrieben wurde. Endlich kam die Zeit, wo äußerlich nichts mehr sichtbar blieb, und wie an der Stelle, wo das Wrack auf den Klippen festgesessen, nur noch diese Klippen geblieben waren, ebenso blieb da, wo mein Schmerz nach und nach verschwunden war, nur ein Abgrund zurück.



Wer sollte diesen Abgrund ausfüllen? Ob wohl die Freundschaft genügen würde oder ob es nur die Liebe vermochte?



Ich kehrte nach Frankreich zurück.



Mein nächstes Reiseziel war das Schloß Frières. Als ich die Reihe geschlossener Fenster, als ich das Zimmer, wo meine Mutter gestorben war, das Grab« in welchem sie ruhte, wiedersah, fand ich die Thränen wieder, die ich versiegt geglaubt.



In den ersten Tagen durchlebte ich noch einmal alle Stadien meines früheren Schmerzes.



Man zeigte mir an der Mauer das Erinnerungszeichen an Ihren Besuch. Ich erkannte Sie, obgleich Ihr Name nicht darunter stand.



Ich hatte meinem Schmerz zu viel zugetraut, als ich wieder nach Frières kam; er war nicht mehr stark genug, um zu bleiben: ich fühlte, daß diese ehrwürdige Stätte für mich dasselbe werden würde, was die Kirche für den Priester. Ich gewöhnte mich daran.



Ich fühlte das Bedürfniß, diesen Wohnort, von welchem ich mich vor vier Monaten kaum loszureißen vermochte, zu verlassen.



Statt mit Thränen zu scheiden, ging ich mit trockenen Augen, aber mit gepreßtem Herzen fort.



Ich hatte geglaubt, daß ich Paris nie wiedersehen würde, und nun ging ich aus freiem Antriebe dahin.



In Paris fand ich das gleiche bunte, fieberhaft bewegte, sorglose, selbstsüchtige Leben, welches zwischen den Zähnen dieses sich unaufhörlich drehenden, in das Weltgetriebe eingreifenden Riesenrades Alles zermalmt, den Besitz, die sociale Stellung der Menschen, die Throne und Dynastien. Das öffentliche Leben wurde von scandalösen Prozessen durchzuckt; überall hörte man die Namen Teste, Praslin, Villefort.



Ich weiß nicht, ob ich durch meine Abwesenheit, durch meinen Schmerz, durch meine lange Einsamkeit, durch meinen Aufenthalt am Ocean eine gewisse Sehergabe bekommen hatte, aber ich glaubte in diesem moralischen Chaos etwas Dunkles, unergründliches, eine politische Sündflut zu sehen, in welcher eine ganze Epoche untergehen müsse.« Ich sah im Geiste das große stattliche Schiff, welches den Namen »Frankreich« führt, mit ausgespannten Segeln auf offenem Meere; der Himmel war heiter, keine Klippen zeigten sich in der Nähe, aber das Schiff versuchte unaufhörlich gegen Wind und Strömung zu fahren; ich sah am Steuerruder den mürrischen Lootsen, den ernsten Geschichtschreiber, den starren fühllosen Mann, dem ein altersschwacher, verblendeter König die Lenkung des Schiffes anvertraut hatte – und dachte an die wahren Worte, welche der Herzog von Orleans einst zu mir gesprochen: »Dieser Mann legt uns beißende Senfpflaster auf und wir brauchen erweichende Umschläge!«



Der kluge, einsichtsvolle Prinz hatte Recht gehabt: Herr Guizot legte der französischen Nation, deren Nervensystem schon überreizt war, Senfpflaster auf.



Ich war ganz erstaunt über dieses Phantasiegebilde. Hätte der Herzog von Orleans noch gelebt, ich wäre zu ihm gegangen und hätte ihn gefragt: »Habt ich mich geirrt? Sehen Sie nicht auch, was ich sehe?



Aber er ruhte in seiner Familiengruft zu Dreux; er wenigstens war sicher, aus dem ihm so theuren Frankreich nicht verbannt zu werden.



Mich kümmerte es nicht, ich nahm an nichts mehr Theil.



Ich dachte an zwei Freunde: an Sie und an Alfred de Senonches.



Sie waren eben mit der Gründung eines Theaters beschäftigt und dies gab Ihren Gedanken eine von den meinigen ganz verschiedene Richtung.



Vom künstlerischen Standpunkte betrachtet, war Ihr Unternehmen gut und schön, ich wollte Sie dabei nicht stören.



Ich erkundigte mich nach Alfred de Senonches; er war Präfect in Evreux.



Die Normandie war mir eben recht mit ihren schönen schattigen Wäldern, mit ihren klaren Bächen und grünen Triften.



Ueberdies hatte ich dort Gelegenheit, ein krankes Herz zu studiren, zu trösten, vielleicht zu heilen.



Ich beschloß nach Evreux zu reisen.



Als Gast wollte ich indeß nicht zu meinem Freunde kommen; ich wollte ihn auf der Durchreise besuchen, das Uebrige sollte von der Aufnahme abhängen, die ich bei ihm finden würde. Wenn ich nicht mit ihm zufrieden war, wollte ich weiter reisen.



Eines Morgens kam ich auf die Präfectur. Ich fragte nach dem Herrn Präfecten.



Man antwortete mir« der Herr Präfect habe ungeheuer viel zu thun und lasse Niemand vor.



Ich antwortete, es sey keineswegs meine Absicht, ihn zu stören, ich sey ein Freund von ihm und auf der Durchreise. Der Amtsdiener entschloß sich endlich, meine Karte zu übergeben.



Einige Secunden nachher ging die Thür auf.



Es war Alfred de Senonches in eigener Person. Er schob den Amtsdiener auf die Seite und nannte ihn einen Einfaltspinsel, weil er mich nicht erkannt hatte.



»Sie hätten doch an der Haltung dieses Herrn, an dem Schnitt seines Fracks, an der Form seiner Karte erkennen sollen, daß dieser Herr kein Beamter meines Verwaltungsbezirkes ist, und daß es mir folglich sehr angenehm seyn würde, ihn zu empfangen. Derlei Versehen dürfen Sie künftig nicht mehr machen.«



Er schlang einen Arm um meinen Hals und zog mich in sein Cabinet.



»Da bist Du ja!« sagte er, »Ich habe Dich schon lange erwartet, aber heute glaubte ich das Vergnügen nicht zu haben. Du kommst wie gerufen, lieber Max; der Generalrath ist heute versammelt, morgen tractire ich alle hervorragenden Persönlichkeiten des Departements de l’Eure. Wenn Du dummen Stolz, maßlose Eitelkeit, eingebildete Hohlköpfe suchst, so lösche deine Laterne aus, Diogenes, Du hast deine Leute gefunden.«



»Ich glaube vielmehr,« erwiederte ich, »daß ich sehr zur Unzeit gekommen bin und daß ich Dich belästige. Du hattest Befehl gegeben, Niemand vorzulassen, Du hattest Dich eingeschlossen und dachtest an die uns bedrohenden schweren Ereignisse —«



»Ich! Lieber Freund, warum soll ich an solche Dinge denken? Ich habe zwanzigtausend Francs Renten in Grundstücken, die mir durch kein Ereigniß, wie schwer es auch sey, genommen werden können. Ich bin zum Garcon geboren, habe als Garcon gelebt und werde wahrscheinlich als Garcon sterben. Eine Geliebte hatte mich betrogen und ich hätte mir aus Verzweiflung fast eine Kugel durch den Kopf gejagt; denke Dir das Unglück, wenn’s meine Frau gewesen wäre. Sie hätte dann freilich eine gute Entschuldigung gehabt, sie würde gesagt haben: Ich konnte Dich nicht verlassen! Die Andere hatte eben denselben Grund, aber es ist ihr nicht eingefallen, ihn geltend zu machen. Die Weiber sind so launenhaft! – Aber was wolltest Du sagen? Ich habe es ganz vergessen.«



»Ich sagte, Du hattest Dich eingeschlossen und Befehl gegeben, Niemand Vorzulassen —«



»Ja richtig« ich hatte mich eingeschlossen und Befehl gegeben, Niemand vorzulassen, um – den Küchenzettel auf morgen zu machen.«



»So! den Küchenzettel?«



»Ja wohl. Ich nehme mir um meiner selbst willen die Mühe und nicht wegen der plumpen Kinnladen, die ich zu Tische haben werde. Wer zu der