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Die Cabane und die Sennhütte

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Siebentes Kapitel
Worin wir zu unserem großen Mißbehagen genöthigt sind, den alten Corneille zu plündern

Das Lächeln zog nur augenblicklich über die Lippen des Monsieur Coumbes dahin. Nach diesem Blitz falteten sie sich so gut wie möglich zusammen; sein Gesicht wurde wieder ernst und sorgenvoll.

Milette war tief gerührt von der Bewegung der Zärtlichkeit, womit der Herr der Cabane Marius empfangen hatte. Dieser war nicht weniger gerührt, als seine Mutter.

»Was ist Ihnen denn?« fragte er.

Das Schweigen des Monsieur Coumbes war voll Beredtsamkeit; seine Augenlider blinzelten, zitterten mit einer doppelten, sowohl horizontalen als perpendiculären Bewegung, um zu versuchen, durch den Druck einen Augen eine Thäne auszupressen.

Wenn die Diplomatie eine Wissenschaft ist, so ist es die einzige, die man ohne voraufgehende Studien versteht. Der ehemalige Packträger hatte von selber begriffen, wenn er ein Opfer von seinen Untergebenen verlange, daß es sich vor allen Dingen darum handle, ihre Seelen lebhaft aufzuregen in der Hoffnung, einen Rächer zu finden; seine Eigenliebe beschloß sich zu demüthigen. Er ließ sich mit allen Zeichen einer wahrhaften Niedergeschlagenheit auf einen Stuhl sinken.

»Meine Kinder,« sagte er zu ihnen, »wozu sollte es nützen, Euch zu erzählen, was mir ist, da Ihr mir nicht würdet helfen können? Alles, was ich Euch sagen kann, ist, daß, wenn dies so fortdauert, Ihr bald die Büßenden in diesem Hause leben werdet!«

»Ah! mein Gott!« rief Milette, ihr Gesicht in Thränen gebadet, als hätte sie schon die Leiche des Monsieur Coumbes auf dem Schragen gesehen.

»O! es ist nicht möglich,« sagte Marius dagegen, zugleich von dem Schmerze seiner Mutter und von dieser schrecklichen Prophezeiung dessen, den er als seinen Vater ansah und liebte, ergriffen.

»Meine Kinder,« fuhr Monsieur Coumbes fort, »ich habe so viel Kummer, daß ich fühle, der Tag wird nicht mehr fern sein, wo ich meinen Lohn erhalten werde und wo ich mich bei dem großen Patron dort oben verdingen muß.«

»Diesen Kummer, wer verursacht ihn?« sagte Marius mit funkelnden Augen und bebenden Lippen.

»Nun,« fügte Monsieur Coumbes hinzu, indem er es vermied, auf diese Unterbrechung zu antworten, »ehe ich wie eine Seeigelschale hinausgeworfen werde, will ich Euch meine letzten Wünsche mittheilen.«

Milettens Schluchzen verdoppelte sich und machte die Worte des Besitzers der Cabane unhörbar. Die Stimme des jungen Marius übertäubte das Schluchzen und die ausgesprochenen Wünsche; er stürzte sich auf Monsieur Coumbes zu und sagte mit einem Eifer, der bei den Südländern immer etwas von Zorn an sich hat:

»Sie dürfen mir Ihre Wünsche nicht erst aussprechen, mein Vater; wenn es der Rath ist, rechtschaffen und arbeitsam zu sein, so hat Ihr Beispiel seit langer Zeit schon hingereicht, mir zu zeigen, daß es die Pflicht eines ehrlichen Mannes ist. Wenn Sie mir sagen wollen, daß ich meine Mutter lieben soll, so könnte ich sie nicht mehr lieben. Wenn Sie mir anempfehlen wollen, Ihr Andenken zu bewahren, so rechnen Sie zu wenig auf meine Erkenntlichkeit. Wen sollte ich denn nach meiner Mutter lieben und verehren, als den, der für meine Kindheit gesorgt hat? Was Sie uns sagen müssen, das sind die Ursachen dieses Aergers, den wir nicht kennen, die Gründe dieser unheimlichen Ahnungen, die Nichts rechtfertigt. Warum rechnen Sie nicht mehr auf uns, Gevatter? Wenn Sie irgend ein Leiden betrübt, so sagen Sie es uns gefälligst! Müßte man auf den Knieen nach Sainte-Beaume gehen, um Gott zu bitten, daß er Ihnen die Gesundheit wiedergebe, so sind meine Mutter und ich dazu bereit.«

Als Monsieur Coumbes Marius anhörte, fühlte er sich von einer Rührung ergriffen, die bei ihm selten war. Milettens Sohn begann über die Vorurtheile des guten Mannes hinsichtlich der plastischen Schönheit zu siegen.

Nicht als ob der Adel der Gesinnungen, die er aussprach, ihn tief rührte, Monsieur Coumbes glaubte nur zur Hälfte daran; aber die Energie der Ausdrucksweise des jungen Mannes und die Ueberzeugung von seinem Zorn machten, daß der ehemalige Packträger fühlte, daß er in ihm den Paladin finden werde, den er suchte, ohne je von ihm gehört zu haben. Eine Minute schämte er sich ein wenig, eine so begeisterte Aufopferung für einen so elenden Gegenstand in Anspruch zu nehmen; aber ein Widerwille und sein Haß gegen seinen Nachbar waren stärker, als diese unmerkliche Bewegung der Vernunft, und zum zweitenmal an dem Tage umfaßte er Marius und drückte ihn an seine Brust.

»Siehst Du, Sohn,« rief er, indem er Milette eine seiner Hände überließ, welche dieselbe mit ihren Küssen und Thränen bedeckte, »seit einiger Zeit ist diese Cabane eine Hölle für mich geworden; ich möchte sie verlassen, und ich fühle, daß ich sterben werde, wenn ich sie nicht wiedersehe.«

»Aber warum denn das?« fiel Milette ein; »haben Sie denn dieses Jahr nicht. Alles nach Wunsche gehabt? Hat nicht die Hand des guten Gottes. Alles gesegnet, was Sie der Erde anvertraut? Warum denn das, da es kaum acht Monate sind, als ich Sie so glücklich sah, nicht mehr genöthigt zu sein, Ihren Zufluchtsort zu verlassen und in die Stadt zurückzukehren.«

Mit einer schweigenden aber feierlichen Geberde deutete Monsieur Coumbes auf die benachbarte Sennhütte, deren rothe Dachziegel man bemerkte.

Milette seufzte; als sie sich der Umstände erinnerte, begriff und errieth sie die Ursachen der üblen Laune ihres Herrn, dessen Jagdliebhaberei ihn um so viele Zeit gebracht hatte. Marius, der nicht mit allen diesen Umständen bekannt war, sah Monsieur Coumbes mit einer fragenden Ueberraschung an.

»Ja,« versetzte Monsieur Coumbes, »das ist das Geheimniß meiner Traurigkeit; das ist die Ursache meines Lebensüberdrusses. Höre, Milette, ich habe Dir Nichts davon mitgetheilt, aber als ich zuerst die Arbeiter ihren Graben im Sande ziehen sah, schnürte mir ein geheimes Vorgefühl das Herz zusammen und sagte mir, daß es um mein Glück geschehen sei; und doch konnte ich damals nicht vorher sagen, daß die Wuth meiner Verfolger einst bis zur Beleidigung gehen werde.«

»Man hat Sie beleidigt!« rief Marius vor Zorn erglühend, »man hat den Respect vergessen, den man Ihrem Alter schuldig war!«

Der ehemalige Packträger war nicht geschickt genug, um die angenehme Empfindung zu verbergen, die ihm dieser Eifer des Sohnes Milettens, seine Vertheidigung zu übernehmen, verursachte. Dieser bemerkte die Bewegung der Freude, die das Gesicht des Monsieur Coumbes erhellte; sie errieth sein Vorhaben und ihre mit Recht beunruhigte mütterliche Bekümmerniß bemühte sich, ihren aufgebrachten Herrn zu beruhigen.

Sie schüttete nur Oel ins Feuer; um die Thatsachen auf ihre wahren Verhältnisse zurückzuführen, mußte man nothwendig dem Steckenpferde des Monsieur Coumbes Sattel und Zaum nehmen, die ihm gestatteten, es zu reiten, eine herrschsüchtigen Ideen zu mäßigen, durch den Zweifel an seiner Vernunft eine Empfindlichkeit als Besitzer zu verletzen. Miletten gelang es nur, die schmerzliche Stellung, welche dieser seit dem Anfang dieser Scene eingenommen hatte, in eine wirkliche Wuth zu verwandeln.

Wie es den Leuten von phlegmatischem Temperament begegnet, war Monsieur Coumbes, wenn er sich seinem Zorne hingab, nicht im Stande, ihn zu beherrschen. In seinem Zorne, einen Schein des Widerspruchs zu finden, wo er ihn so wenig erwartete, zeigte er sich hart und grausam gegen die arme Milette; er überhäufte sie mit Vorwürfen; er ging sogar so weit, von Undankbarkeit hinsichtlich der Wohlthaten zu reden, womit er sie überschüttet zu haben behauptete.

Marius hörte ihn mit gesenktem Kopfe an; es schmerzte ihn tief, diejenige so mißhandeln zu sehen, welche er mehr, als sein Leben liebte; sein Körper wurde von krampfhaftem Zittern erschüttert und große Thränen rollten an seinen braunen Wangen nieder; aber er hatte einen so tiefen Respekt vor Monsieur Coumbes, daß er den Mund nicht zu öffnen wagte, um sie zu vertheidigen und sich damit begnügte, seine Augen flehend zu diesem zu erheben.

Als Monsieur Coumbes die Küche verließ, wo Milette niedergebeugt und schluchzend zurückblieb, richtete Marius einige tröstende Worte an seine Mutter und folgte dann dem Herrn der Cabane, wo er sich im Schatten des Abends zu besänftigen begann, worauf dieser Letztere das Bedauern aussprach, welches ihm dieser Unfall verursacht habe.

»Vater,« sagte er zu ihm, »man muß meiner Mutter verzeihen; Sie ist eine Frau und hat Furcht; aber ich bin ein Mann, und hier bin ich.«

»Was sagst Du?« rief Monsieur Coumbes, der weit entfernt war, diesen Umschwung des Glücks zu erwarten.

»Sobald ich ihre Worte verstehen konnte, sagte meine Mutter zu mir, indem sie auf. Sie deutete: »Da ist der, dem ich das Leben verdanke, mein Kind, und ich werde alle Tage zu Gott beten, er wolle gestatten, daß Du für ihn thun mögest, was er für mich gethan. Nicht zufrieden, mich errettet zu haben, hat er mich in meiner Noth nicht verlassen. Der Himmel wird so gerecht sein, um zu gestatten, daß wir ihm eines Tages unsere Erkenntlichkeit beweisen können!« Ich war noch sehr klein, als sie so sprach, Vater, indessen sind diese Worte nie aus meinem Gedächtnisse entschwunden, und heute will ich Ihnen beweisen, daß ich bereit bin, das Versprechen zu halten, welches sie mir abgenommen.«

Die Stimme war fest, energisch und sicher; indessen glaubte Monsieur Coumbes, oder stellte sich, als ob er an eine jugendliche Prahlerei glaube.

»Nein,« sagte er mit einer neuen Bitterkeit, »Deine Mutter hatte eben ganz Recht, ich habe Unrecht, zu wollen, daß man mein Gut und meine Person respectire, Unrecht, der Chikane und Beleidigungen, womit man mich überhäuft, überdrüssig zu werden. Wozu nützt es, einen Respect zu fordern, welchen zu erzwingen man zu alt ist? Ist es nicht ganz einfach, ganz natürlich, daß die jungen Leute einen armen Greis zu ihrem Spielzeug machen, und ist es nicht widersinnig von diesem, seine Klagen laut werden zu lassen?«

 

Monsieur Coumbes hatte völlig vergessen, daß er die Ereignisse, die er erwähnte, selber herbeigeführt hatte.

»Sie haben meine Kindheit beschützt,« versetzte Marius mit zunehmender Energie, »es ist an mir, Ihr Alter zu beschützen. Wer Sie anrührt, rührt mich an; wer Sie beleidigt, beleidigt mich. Morgen werde ich Monsieur Riouffe aufsuchen.«

Jetzt war Monsieur Coumbes kein Zweifel mehr gestattet. Er hatte einen Paladin gefunden, und ungeachtet seiner Jugend konnte der Muth dieses Paladin ihm die Hoffnung einflößen, über eine Feinde zu siegen.

Zum dritten Male seit dem Anfang dieses Tages umarmte er Marius. Noch nie war er gegen Miletten's Sohn so verschwenderisch in seinen Zärtlichkeitsbezeugungen gewesen. Freilich war es das erste Mal, daß er seiner bedurfte.

»Nur müssen Sie mir zuschwören,« sagte der junge Mann, indem er sich aus einer Umarmung frei machte, »daß Sie nicht wieder so hart gegen meine Mutter sein wollen, wenn ich nicht da bin, um sie zu trösten.«

Achtes Kapitel
Wie Monsieur Coumbes seine Rache durch die Vermittelung eines Zeugen, der das Herz des von ihm gewählten Paladins rührte, vereiteln sah

Die Wohnung und das Bureau des Nachbarn der Cabane des Monsieur Coumbes befand sich in der Rue de Paradis, das heißt in einer der großen marseiller Arterien, die auf die Cannediere auslaufen.

Marius hatte leicht die Adresse des Feindes seines Pathen, dessen Vergehungen er zu bestrafen hatte, gefunden. Er drang in einen dieser düsteren Gänge ein, die in dem neuen Marseille eben so gewöhnlich sind, wie in dem alten, er stieg eine schmale Treppe hinauf und machte im ersten Stock Halt, wo man ihm gesagt hatte, daß er die gesuchte Person finden würde. Auch fand er an der Thüre zur Linken zwei messingene Schilder in das Holz eingefügt; auf dem einen fanden die Worte eingravirt: »Jean Riouffe und Schwester, Commissionaire und Rheder«; auf dem andern: »Bureau und Kaffee.« Er drehte den Drücker um und trat ein.

Die Südländer begreifen schwer einen Streit ohne Lärm; sie müssen immer vor dem Kampfe etwas von einer Trompete hören. Marius war in Uebereinstimmung mit seinem Vaterlande, und so jung, er war, besaß er doch die Gewohnheiten desselben. Während der Nacht und während der Reise von Montredon nach Marseille hatte er darauf hingearbeitet, ein kleines Gehirn aufzuregen, und es war ihm so vollkommen gelungen, daß ein Bramarbas an einer Haltung und Physiognomie nichts auszusetzen gefunden haben würde. Sein Oberrock war bis ans Kinn zugeknöpft, sein Hut leicht auf das eine Ohr geneigt, seine Augenbrauen zusammengezogen, seine Nasenflügel erweitert und seine Lippen bebend, wie es einem Manne zukommt, der Genugthuung für ein Unrecht verlangen will.

»Monsieur Jean Riouffe !« rief er mit herausfordernder Stimme, indem er die Thürschwelle überschritt, ohne seinen Hut abzunehmen.

Einer von den Commis, die hinter Drahtkäfigen arbeiteten, erhob seine Nase über einen Haufen Seeverladungsscheine, die er auszufertigen im Begriff war. Die Miene, der Ton und die Stellung des Ankommenden hatten ihn überrascht; aber er bedachte ohne Zweifel, daß seine Zeit zu kostbar sei, um den geringsten Theil davon aufzuopfern, dem Eintretenden bemerklich zu machen, daß schon die einfachste Höflichkeit verlangte, daß er den Hut abnehme, denn er setzte sein Geschäft fort, nachdem er Marius mit der Spitze seiner Feder ein Zeichen gegeben, daß er sich beruhigen und warten müsse.

Dieser war so eifrig, den Streit des Monsieur Coumbes zu Ende zu führen, um nur eine Secunde zu warten. Er biß in seinen Zaum, so geneigt er auch ein mochte, über das Schweigen des Untergebenen seines künftigen Gegners aufgebracht zu werden, wobei er sich indessen bei der stürmischen Aufregung eines Blutes vornahm, sich mit diesem abzufinden.

Um seine Augenblicke auszufüllen, sah er um sich. Das Zimmer, in welchem er sich befand, bildete einen seltsamen Gegensatz zu der Scene, welche Marius zum Schauplatze machen wollte. – Seit den achtzehn Monaten, daß er im Geschäft war, hatte er viele Bureau's gesehen, aber nie war ihm eins vorgekommen, in welchen eine so vollkommene Ordnung in allen Dingen herrschte, wo sich die Zierlichkeit so anmuthig zeigte, oder wo sich ein gewisser guter Geschmack in der methodischen Classification der Proben, welche die Glasschränke ausfüllten, in den Papieren, welche die Fachkasten belasteten, darstellte. Die Ruhe, welche dort herrschte, die halbe Dämmerung, welche farbige Rollvorhänge dort hervorbrachten, das Schweigen der beiden Commis, ihre Emsigkeit machte aus diesem Zimmer eine Art Tempel der Arbeit und des Friedens, in welchem Marius einige Mühe hatte, die Aufregung, in die ihn zugleich das Blut in seinen Adern und die respectvolle Zuneigung zu Monsieur Coumbes versetzt hatte, in einer gewissen Glut zu erhalten.

Zum Glück für die Sache, die er zu unterstützen übernommen hatte, öffnete sich die Thüre eines Cabinets, und ein Herr kam heraus. Der wenig mittheilende Commis deutete Marius, noch immer mit Hilfe einer Feder, die telegraphisch zu seinen Mittheilungen diente, daß er in das Cabinet eintreten sollte, aus welchem dieser Herr kam.

Der junge Mann setzte seinen Hut fester auf den Kopf, nahm die Physiognomie wieder an, welche durch diese voraufgehende Verhandlung nachgelassen hatte, und drang in das Cabinet ein. Er hatte einen Schritt vorwärts gethan, um die Thürschwelle zu überschreiten, aber sobald er die Blicke in das Cabinet geworfen, sprang er zwei Schritte zurück, und griff mit der Hand nach dem Kopf, um mit solcher Hast zu grüßen, daß ein Hut, seinen Händen entgleitend, über den Calkuttateppich dahinrollte, der den Fußboden bedeckte.

Anstatt des Monsieur Jean Riouffe, anstatt des unverschämten jungen Mannes, für welchen er so drohende Vorbereitungen gemacht hatte, befand er sich einem bezaubernden jungen Mädchen gegenüber, welches in diesem Bureau allein war. Sie mochte etwa vier und zwanzig oder fünf und zwanzig Jahre alt sein; sie war groß, schlank und schmächtig; ihr Haar von jenem warmen und goldenen Blond, welches die venetianischen Maler mit so vieler Liebe wiedergegeben haben, fiel in einem Wulst, den ihre beiden Hände nicht hätten umfassen können, über ihren Nacken nieder; ihr falber Widerschein, der Glanz ihrer Augenbrauen und ihrer Augen, so schwarz wie Ebenholz, die Purpurröthe ihrer Lippen, hoben noch die Weiße ihrer Haut.

Freilich wurde Marius keine dieser Einzelheiten gewahr; er bemerkte ebenso wenig die Einfachheit des Kostüms, welches gegen den Charakter der Schönheit dieser Erscheinung abstach; er sah nicht die Lieblichkeit ihres Lächelns, das Wohlwollen ihrer Physiognomie, die ermuthigende Geberde, womit sie ihn aufforderte, sich zu fassen; er befand sich bei dieser Ueberraschung in der lebhaften Aufregung, welche ein kleiner Seeräuber empfinden muß, der ein friedliches Handelsschiff zu verfolgen glaubt, wenn dieses durch eine rasche Wendung, wie der Blitz furchtbare Reihen von Batterien zeigt. Er konnte schon tapfer sein, aber er war zu jung, um nicht furchtsam zu sein. Diese hübsche Person erschien ihm auf ganz andere Weise furchtbar, da sie nicht der Gegner war, den er suchte. Er hob ungeschickt und linkisch seinen Hut auf, stotterte einige Worte und würde entflohen sein, wenn die Stimme des jungen Mädchens, eine reine Stimme, deren metallheller Laut bis in sein Herz drang, ihn nicht an seine Lage erinnert hätte.

»Eben hörte ich Sie nach Monsieur Jean Riouffe fragen, mein Herr,« sagte sie zu Marius.

Dieser erröthete, denn er erinnerte sich, daß der drohende Ton, den er beim Eintreten angestimmt, durch die Bretterwand gedrungen sei, welche das Cabinet von dem Bureau trennte.

Marius verneigte sich ohne zu antworten.

»Er ist diesen Augenblick abwesend, mein Herr,« sagte das junge Mädchen wieder.

»Da verzeihen Sie, mein Fräulein, ich werde wiederkommen.«

»Mein Herr, ich muß Ihnen bemerklich machen, daß Sie sich dem aussetzen, viele vergebliche Gänge zu machen. Monsieur Riouffe ist selten zu Hause; aber wenn Sie mir mittheilen wollen, um was es sich handelt, so kann ich Ihnen wahrscheinlich Genugthuung geben, denn ich beschäftige mich mit allen Angelegenheiten des Hauses.«

»Mein Fräulein,« entgegnete Marius, dessen Verlegenheit die Sicherheit und Unbefangenheit des jungen Mädchens nur noch erhöhte, »mein Fräulein, es ist eine durchaus persönliche Sache, die mich zu dem Wunsche bewegt, eine Unterredung mit Monsieur Riouffe zu haben.«

»Es ist wahrscheinlich, daß mich das auch angeht, mein Herr. Verzeihen Sie mir meine Bitte, es bestimmt mich nur der Wunsch dazu, Monsieur Riouffe Belästigungen und Verlegenheiten oder noch Aergeres zu ersparen. Er wird ohne Zweifel. Ihnen oder Ihren Verwandten schuldig sein,« fuhr das junge Mädchen fort, deren Gesicht einen leichten Anflug von Traurigkeit annahm. »Sie können mit Zuversicht reden, mein Herr; wenn Ihre Forderung gerechtfertigt ist, woran ich nicht zweifle, so werde ich bemüht sein, Sie zufrieden zu entlassen.«

Marius sah ein, daß er von dem Beweggrunde seines Besuches diesem jungen Mädchen Nichts mittheilen dürfe, die ihm nach der Inschrift an der Thüre die Schwester des Feindes des Monsieur Coumbes zu sein schien; aber er gab sich so naiv dem Glück hin, sie zu sehen und zu hören, daß er vergaß, daß die erste Bedingung der Klugheit sei, sich zu entfernen, anstatt dessen blieb er in stummer Exstase vor ihr stehen.

Als Mademoiselle Riouffe schwieg und eine Antwort erwartete, blieb Marius einen Augenblick verwirrt; dann entgegnete er mit einer Lebhaftigkeit, die er nicht unterdrücken konnte:

»Mein Fräulein, die Schuld, die ich von Monsieur Riouffe zu verlangen habe, ist nicht von der Art, die an der Kaffe ausgeglichen wird.«

Nichts ist häufiger, als der Mangel an Uebereinstimmung zwischen den Lippen und den Gedanken.

Mit einem letzten Anfall von dem kriegerischen Fieber, womit Monsieur Coumbes ihn am Abend zuvor angesteckt, hatte sich Marius von der Wortfülle des Satzes hinreißen lassen. Er war nicht so bald von seinen Lippen gekommen, als er ihn bitter bereute. Das junge Mädchen war todtenblaß geworden, ihre Augenlider senkten sich langsam und verschleierten die Augen auf eine Secunde, als wollten sie den Ausdruck derselben verbergen. Sie stand auf, und sich mit der Hand auf ihr Bureau stützend, sagte sie, indem sie ihre Kräfte sammelte, um ihre Aufregung zu beherrschen:

»Mein Herr, was Sie auch von Monsieur Riouffe verlangen wollen, können Sie doch zum voraus gewiß sein, daß er mit Ehre darauf antworten wird. Lassen Sie mir gefälligst Ihren Namen zurück, und nennen Sie die Stunde, wann Sie sich die Mühe geben wollen, wieder einzusprechen, damit Sie gewiß sind, keinen unnöthigen Gang zu machen.«

Marius blieb ganz betäubt stehen. Der Schmerz, der aus den Worten des jungen Mädchens sprach, rührte ihn; aber ihre stolze und muthige Resignation machte einen noch viel lebhafteren Eindruck auf ihn.

»Mein Fräulein,« antwortete er mit respectvoller Unterwürfigkeit auf diese letzte Frage, »sagen Sie gefälligst Monsieur Riouffe, daß ich von Monsieur Coumbes komme, und daß ich mich morgen wieder einfinden werde.«

»Von Monsieur Coumbes? von Monsieur Coumbes, der in Montredon das Häuschen neben der Sennhütte bewohnt, welches mein Bruder dort hat erbauen lassen?« rief Mademoiselle Riouffe, auf die Thüre zueilend, die bis dahin offen geblieben war, und sie mit Lebhaftigkeit schließend.

»Sie irren nicht, mein Fräulein,« antwortete Marius, es ist wegen des Monsieur Coumbes, daß ich mich in Ihrem Hause darstelle.«

»Sie sind ohne Zweifel sein Sohn?«

Marius verneigte sich ohne zu antworten, und die junge Dame gab ihm ein Zeichen, sich zu setzen.

»Sie haben eben bemerken können, mein Herr, daß ich, obgleich ein Frauenzimmer, in ernsten und wichtigen Lagen im Stande bin, mein schwesterliches Gefühl zu beherrschen, gegen die Schwäche meines Geschlechts anzukämpfen und meinen Widerwillen zu überwinden, wenn es sich um eine Sache handelt, welche das Leben von zwei Männern von Muth dem Zufall preisgiebt; aber die Lage ist eine ganz verschiedene. Nach dem, was mir von dem erzählt worden ist, was zwischen Ihrem Herrn Vater und meinem Bruder vorgegangen, muß alles Unrecht diesem Letzteren beigemessen werden. Ich habe nicht bis heute gewartet, um ihn deshalb zu tadeln. Sie kommen, um wegen seines Betragens Genugthuung von ihm zu verlangen, nicht wahr?«

Marius zauderte.

»Antworten Sie, mein Herr, ich bitte Sie dringend, mir zu antworten.«

»Es ist die Wahrheit, mein Fräulein,« stotterte der junge Mann.

»Dann bitte ich Sie, mein Herr, mir die Ehre anzuthun, mich als Ihren Zeugen anzunehmen.«

 

»Mein Fräulein,« versetzte Marius, bestürzt über diesen Vorschlag, so wie auch verwundert über die männliche und entschiedene Miene des jungen Mädchens, »was Sie von mir verlangen, so schmeichelhaft es auch ist, würde, wenn ich es annehmen wollte, eine Unangemessenheit in sich schließen. Ihr Herr Bruder würde nicht verfehlen, anzunehmen, daß mein Entschluß wegen der Beleidigungen, womit er meinen Vater bereits seit zwei Monaten verfolgt, nicht ernstlich gemeint sei. Gestatten Sie, daß ich Ihr Anerbieten mit allem Dank ablehne.«

»Ich werde Sorge tragen, mein Herr, daß das, was Sie fürchten, nicht geschieht, und es ist ein ausgezeichneter Dienst, den ich Sie bitte, mir zu leisten.«

»Erklären Sie mir gütigst die Gründe, mein Fräulein, die Sie bestimmen, dies so dringend von mir zu verlangen.«

»Sie sind leicht zu begreifen; mein Bruder ist strafbar, das weiß ich wohl; Nichts kann die beleidigenden Scherze entschuldigen, die er sich gegen Monsieur Coumbes erlaubt hat; aber ich kann nicht glauben, daß sein Blut nothwendig sein sollte, um es wieder gut zu machen, und ich denke, daß der Ausdruck eines aufrichtigen Bedauerns und seine Entschuldigungen genügend sein würden. Wenn ein Fremder sie von ihm forderte, so gerechtfertigt sie auch sein möchten, würde er sich, wenn sie an einen Mann von dem Alter und dem Charakter des Monsieur Coumbes gerichtet wären, doch nimmermehr dazu entschließen; einer Schwester gegenüber wird er nicht erröthen dürfen, und ich glaube hinlänglichen Einfluß auf sein Herz zu haben, um es von seiner Vernunft zu erlangen, daß er in dieses Opfer einer eitlen Selbstliebe willigt.«

»Ich möchte es Ihnen nicht gern abschlagen, mein Fräulein,« sagte Marius, der nur mit Schwierigkeit den Bitten des jungen Mädchens widerstand; »aber bedenken Sie, daß in diesem Streite, es thut mir leid, es Ihnen noch einmal wiederholen zu müssen, alle Schuld auf Seiten Ihres Herrn Bruders ist. Es ist nicht an mir, gleich von vorn herein Thür und Thor für eine Ausgleichung dieser Art zu öffnen; es würde das Ansehen haben, als wenn ich Furcht hätte.«

Mademoiselle Riouffe lächelte bei der Aufregung, womit er diese letzten Worte aussprach. »Nein, mein Herr,« entgegnete sie, »denn mein Bruder wird unbekannt mit Ihrem Widerstreben sein, und ich werde ihm mittheilen, wie viel ich Sie habe bitten müssen, mir zu gestatten, diese Sache friedlich zu beenden. Uebrigens, mein Herr, scheinen Sie mir so jung, daß Sie noch Zeit genug haben werden, denen zu beweisen, die sich erlauben sollten, daran zu zweifeln, daß die Festigkeit Ihres Herzens die muthige Kühnheit ihrer Achtung nicht Lügen straft.«

Marius erröthete noch über dieses Compliment, welches ihm bewies, wenn er die Schönheit des jungen Mädchens neugierig geprüft habe, daß diese es auch nicht unterlassen, einen Blick auf die äußeren Vortheile des jungen Mannes zu werfen.

»Mein Fräulein!« versetzte er, in seinem Entschlusse schwankend.

»Hören Sie, mein Herr,« sagte Mademoiselle Riouffe, ihn mit Lebhaftigkeit unterbrechend, »das Vertrauen ruft Vertrauen hervor. Ich kenne Sie erst seit einigen Augenblicken; aber in der ernsten Lage, worin wir uns befinden, wegen der Bitte, die ich Ihnen vorlege, glaube ich nur dabei gewinnen zu können, wenn Sie mich besser kennen, und ich will Ihnen erklären, warum Sie mich in diesem Bureau, eine Feder in der Hand, unter diesen Proben von Baumwolle und Zucker und vor diesem großen Buche finden, anstatt in meinem Salon, eine weibliche Arbeit in den Händen. Mein Bruder war ein Jahr jünger, als ich, als wir unsere Eltern verloren. Er war zwanzig und ich einundzwanzig, als wir uns an der Spitze eines Hauses befanden, welches eine große Beharrlichkeit und Anstrengung nöthig machte, um den Wohlstand zu erhalten, der es bis dahin begünstigt hatte. Unglücklicherweise hatte während der langen Krankheit meines Vaters die Wachsamkeit, die man über einen jungen Mann ausüben muß, ein wenig nachgelassen, und als wir verwaist waren, hatte er Geschmack an der Unabhängigkeit und an den Vergnügungen gefunden, die so schwer mit den Pflichten eines Geschäftsmannes zu vereinen sind. Ich versuchte, ihm ernste Vorstellungen zu machen; aber ich liebe ihn, mein Herr, und welche Fehler ich ihm auch vorzuwerfen hatte, mein Gesicht verstand sich nicht mit der Strenge zu waffnen, die so nothwendig gewesen wäre. Schon litten unsere Geschäfte beträchtlich; ich sah den Abgrund, den der Unglückliche zu seinen Füßen öffnete, als mir Gott eine heilsame Eingebung endete: ich beschloß der Welt zu entsagen, mein persönliches Glück zu opfern und zu beweisen, wenn meinem Alter die Autorität fehlte, ob meine Zärtlichkeit für Jean nicht hinreichen würde zu den neuen Mutterpflichten, die ich mit Eifer übernahm. Um jeden Preis mußte man ihm ein Vermögen erhalten, welches seine Neigungen zur Trägheit ihm nothwendig machten; darum widmete ich mich dieser Aufgabe und stellte mich an die Spitze dieses Hauses. Ich will nicht mit Ihnen von den Erfolgen reden, die ich von dieser Seite gehabt habe, mein Herr, obgleich ich freilich ein wenig stolz darauf bin; aber ich will Ihnen sagen, daß ich dahin gekommen bin, meinem Bruder ein Vertrauen einzuflößen, welches mir gestattet, deutlich in seinem Herzen zu lesen. Seine Verirrungen sind, wie ich glaube, nur die Frucht der Jugend, das Uebersprudeln des Muthes; schon hört er meine Rathschläge an, bald hoffe ich, wird er sie befolgen. Wie ich Ihnen eben sagte, habe ich ihn erzählen hören, was sich in Montredon zugetragen. Meine Vorwürfe waren Ihren Klagen zuvorgekommen; aber wir waren nicht allein, und ich konnte nicht vor seinen Commis, wie ich es thun werde, die Unschicklichkeit einer Handlungsweise tadeln. Er ist mein Bruder, mein Herr, er ist mehr, als mein Bruder, er ist mein Kind. Bedenken Sie, was ich leiden muß, wenn ich an die schrecklichen Folgen denke, welche seine knabenhaften Streiche haben könnten; ich beschwöre Sie nochmals, lassen Sie sie mich von seinem Haupte ablenken! – Daß Ihr Herr Vater sich zufrieden erkläre, ist das nicht. Alles, was Sie wünschen? Daß das Ehrenwort des Monsieur Riouffe ihn künftig vor diesen abscheulichen Scherzen sicher stelle, ist das nicht. Alles, was Sie wollen? Ich verspreche Ihnen, daß Sie dies Alles haben sollen, mein Herr; aber im Namen Ihrer Mutter, im Namen alles Dessen, was Sie lieben, machen Sie, daß ich das Leben meines Bruders, wegen einer so elenden Sache, nicht gefährdet sehen darf.«

Mademoiselle Riouffe hätte noch lange so weiter sprechen können, Marius würde sie nicht unterbrochen haben, so sehr war er berauscht von dem Tone ihrer Stimme, von der Betrachtung ihres bezaubernden Gesichts. Es war ihm nicht mehr gestattet zu verweigern, um was sie bat. Was das junge Mädchen eben erzählt, hatte vollends das Herz unseres Marius besiegt und sein Gehirn in Aufruhr gebracht. Als er sie so schön und zu gleicher Zeit so sanft, so zärtlich, so rührend in ihrer schwesterlichen Liebe sah, fragte er sich, warum das Weltall nicht zu den Füßen dieses anbetungswürdigen Wesens sei. In einer südländischen Begeisterung, die seine natürliche Furchtsamkeit nur mit großer Mühe zurückhielt, hatte er Lust, ihr nicht nur das Opfer ihres Kummers und selbst das seines Lebens, wenn sie dessen bedürfen sollte, darzubringen, sondern auch ihr die Versicherung zu geben, daß Monsieur Coumbes auf ein einziges Wort von ihr alle seine Kränkungen vergessen würde, was gewiß übertrieben verwegen war.

»Mein Fräulein,« antwortete er, »ich werde blindlings Ihre Befehle befolgen.«

»Sein Sie ruhig über den Erfolg, mein Herr. Wohin darf ich Ihnen denselben mittheilen?«

Marius gab ihr die Adresse seines Patrons. Mademoiselle Riouffe machte ihm bemerklich, daß ihre Eigenschaft als sein Secundant, was sie von diesem Augenblicke an sei, es nöthig mache, ihm die Hand zu reichen. Dieser Händedruck brachte den jungen Mann vollends von Sinnen. Als er durch das Bureau schritt, um das Geschäftslocal zu verlassen, ging er zur Verwunderung der Commis auf das Fenster zu, welches er für die Thüre hielt. Auf der Straße blieb er in Betrachtung vor dem Hause stehen, wo Mademoiselle Riouffe wohnte; es schien ihm, als ob die Mauern, die einen so bezaubernden Schatz einschlossen, ein ganz verschiedenes Ansehen hätten, als andere Mauern.