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VIII
Der Chevalier als Krankenwärter

Der Doktor glaubte, die Freude über die Nachricht, dass die Kranke noch zu retten sei, habe einen so erschütternden Eindruck auf den Chevalier gemacht. Er ließ ihn ruhig sein Gebet beenden.

Dann glaubte er diese heftige Aufregung zum Vorteil des armen Mädchens benützen zu müssen.

»Was sollen wir jetzt mit dem armen Kind anfangen?« fragte er. »In dieser abscheulichen Dachkammer kann sie unmöglich bleiben. Soll ich sie ins Hospital tragen lassen?«

»Ins Hospital?« erwiderte der Chevalier unwillig.

»Sie wird es dort unvergleichlich besser haben als hier. Ich bin weit entfernt, Ihnen den Text lesen zu wollen, Chevalier; aber ich muss es befremdend finden, dass Sie eine Person, der Sie diesen Ring an den Finger gesteckt, in einer so elenden Dachkammer gelassen haben, zumal in einer Zeit, wo in diesem Stadtteile die Cholera so furchtbar wütet.«

»Ich will sie in mein Haus bringen lassen,« erwiderte Dieudonné«.

»Das läßt sich hören. Diese edle Regung kommt freilich ein bisschen spät, aber das Sprichwort sagt: Besser spät als gar nicht. Die bösen Zungen der Stadt werden freilich sehr geschäftig sein, aber ich habe eine bessere Meinung von Ihnen, Chevalier, und es ist mir lieber, dass Sie den Anstand verletzen, als der Humanität zuwiderhandeln.«

Der Chevalier antwortete nicht; sein Gemüt war von tausend widerstrebenden Gefühlen erfüllt. Er dachte an Mathilde, deren Tochter dieses unglückliche Mädchen sein musste. Er versetzte sich im Geiste um fünfundzwanzig Jahre zurück, er vergegenwärtigte sich die glückliche Zeit der harmlosen Spiele und der aufkeimenden Liebe. Seit achtzehn Jahren war es vielleicht das erste Mal, dass er einen Rückblick auf die Vergangenheit wagte, und er dachte mit Beschämung, dass er die kleinlichen Triumphe befriedigter Selbstsucht hatte vergleichen können mit jenen wahren, reinen Freuden, die nach zwanzig Jahren noch die Kraft hatten, sein Gemüt zu erwärmen. Er fühlte bittere Reue, als er die arme Kranke betrachtete; das Gewissen sagte ihm, dass er, obschon die Mutter Unrecht getan, dennoch Pflichten gegen das Kind habe, und dass er diese Pflichten nicht erfüllte. Er dachte auch an die unheilvollen Folgen, die der Raub ihres Beschützers für die Unglückliche gehabt hatte; vielleicht hatte er sie durch die Entführung Blacks schutzlos dem Verrat preisgegeben. Er nahm sich vor, seine Fehler wieder gut zu machen, denn er erkannte in der ganzen Fügung die Hand Gottes.

Der Doktor glaubte, Dieudonné fürchte die Folgen, welche der Aufenthalt der Kranken in seinem Hause haben könne.

»Überlegen Sie sich die Sache,« sagte er, »vielleicht finden sich Leute, welche ihre Abneigung gegen diese verwünschte Krankheit überwinden und die arme Kleine gegen gute Bezahlung aufnehmen. Das wäre vielleicht noch besser.«

Noch einmal schwankte Dieudonné zwischen der Liebe zur Ruhe, der noch nicht ganz überwundenen Furcht vor Ansteckung und den edlen Regungen seines Herzens. Dieser innere Kampf, wir müssen es zu seiner Ehre gestehen, war nicht von langer Dauer.

, Der Chevalier schüttelte den Kopf und richtete sich auf.

»Sie soll in mein Haus,« sagte er mit der Energie, mit welcher schwache Menschen aufzutreten pflegen, wenn sie einmal einen Entschluss fassen.

Der Tag begann zu grauen, als die dem Hospital entlehnte Tragbahre, auf welche man die Kranke gelegt hatte, sich in Bewegung setzte. Der Chevalier und Black, der nun nicht mehr zu entwischen suchte, folgten den Trägern und erregten die Neugier der Bäuerinnen und Milchverkäufer, die schon in die Stadt kamen.

Der Chevalier de la Graverie fand seine Haustür verschlossen. Er war in Pantoffeln und ohne Hut fortgelaufen und hatte natürlich seinen Hauptschlüssel nicht mitgenommen, Er klopfte und zog die Türglocke, aber vergebens, Niemand antwortete.

Dieudonné erinnerte sich nun, dass er Marianne Abends vorher entlassen hatte, und er vermutete, dass die boshafte Person, um sich noch einmal an ihm zu rächen, den Befehl, auf der Stelle das Haus zu verlassen, buchstäblich vollzogen habe.

Zum Glück wohnte in der Nähe ein Schlosser. Dieser wurde geholt.

Aber das Öffnen des Türschlosses dauerte lange; alle Nachbarn wurden inzwischen wach. Die Bürgersleute erschienen mit ihren Frauen an den Fenstern, die Dienstboten kamen aus den Häusern, und einige zogen sogar die Vorhänge der Sänfte auf, um zu sehen, was darin lag. Als man die Kranke gesehen hatte, wurde die wichtige Frage aufgeworfen, wer das junge Mädchen sein könne, das der Chevalier in sein Haus tragen ließ, wo bisher keine Person weiblichen Geschlechts Zutritt gehabt hatte.

Wie es bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, verbreiteten sich die widersprechen Gerüchte; nur darin stimmten alle überein, dass sie dem Rufe des Chevaliers keineswegs günstig waren.

Die ganze Stadt war voll von der Geschichte. Im Club, in den Kaffeehäusern war von nichts Anderem die Rede; die Kaffeeschwestern flüsterten mit einander und erklärten einstimmig, der Chevalier de la Graverie sei ein höchst gefährlicher Mensch, vor dem man sich hüten müsse.

Dieudonné dachte nicht an das Geschwätz der Leute, er lebte nur indem Gedanken, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach die Tochter seiner einst so heiß geliebten Mathilde wieder gefunden.

Wir sind der Meinung, dass es wenige Herzen gibt, in denen die Erinnerung an das Böse stärker ist als die Erinnerung an das Gute. Auf jeden Fall gehörte der Chevalier nicht zu Jenen; nach und nach verloren die Bilder der Vergangenheit ihre trübe Färbung; Mathilde erschien seinen Augen so wie sie in den schönen Tagen ihrer Jugend gewesen war, schön und arm, liebend und hingebend; er dachte nicht mehr an die Ereignisse, welche ihn von ihr getrennt hatten, er dachte nicht mehr an ihren Undank, an ihre Untreue. Er dachte an die Vergissmeinnicht, die er am Ufer des durch den Park fließenden Baches für seine kleine Freundin gepflückt hatte. und deren blaue Blümlein zu dem blonden Haar seines Liebchens so schön standen; er dachte, dass er später nie wieder solche Freuden genossen, selbst nicht bei der schönen Mahauni. Nie war durch die Freuden der Tafel, durch die Zerstreuungen, die ihm der Gartenbau gewährte, sein Gemüt so tief ergriffen worden wie durch diesen Rückblick in die Vergangenheit. Der Chevalier dachte ob man nicht am glücklichsten sei, wenn man bis in das späteste Alter solche Erinnerungen habe.

Es war noch keine Sehnsucht nach dem verlorenen Glück, aber es war doch schon ein Vergleich der Vergangenheit mit der Gegenwart.

Es musste indes für die Pflege der Kranken gesorgt werden und die notwendigen Vorkehrungen entrissen den Chevalier seinen Träumereien, denen er sich doch so gerne überlassen hätte.

Marianne hatte nicht nur den Hausschlüssel, sondern auch ihren Zimmerschlüssel mitgenommen, als ob das Haus ihr Eigentum gewesen wäre. Der Chevalier musste daher die Kranke in sein Zimmer und in sein Bett bringen lassen.

Er begann nun wieder an sich selbst zu denken; er wusste nicht wo er die nächste Nacht schlafen und zumal wo man ihn unterbringen sollte, falls er auch die Cholera bekäme.

Überdies musste er, da er ganz allein im Hause war, der Kranken die Arznei reichen und sein Frühstück bereiten: eine Beschäftigung, die ihm ganz besonders zuwider war.

Nach langem Suchen in der schrecklichen Verwirrung, in welcher Marianne absichtlich das Hauswesen und die Küchengeräte gelassen hatte, fand er endlich drei Eier, mit denen er die ersten Anforderungen seines Magens befriedigte. Das Frühstück war sehr frugal, aber er dachte doch nicht ohne Besorgnis an die Verdauung; denn seit zwanzig Jahren war er zum ersten Male genötigt, Eier ohne Tee zu essen, und Tee hielt er zur Beförderung der Verdauung für notwendig.

Seine Besorgnis, war um so größer, da die Eier zwölf Sekunden zu lange im siedenden Wasser geblieben und zu hart geworden waren.

Gegen Mittag kam Marianne, um ihren Lohn zu holen.

Der Chevalier bekam wieder einige Hoffnung: er dachte, die alte Haushälterin wünsche wieder in Gnaden aufgenommen zu werden, und er schickte sich an, ihre Bitte mit wohlwollendem Lächeln aufzunehmen. Er war entschlossen, in alle Forderungen der alten Xanthippe zu willigen und sogar ihren Lohn zu erhöhen, um nur der ihm so unangenehmen Sorgen für das Hauswesen überhoben zu sein.

Aber er machte die Rechnung ohne den Wirth, Marianne nahm mit kalter, höhnischer Miene ihr Geld in Empfang, und als der arme Chevalier, seine Würde vergessend, sie mit pathetischem Tone fragte, wie sie sich entschließen könne, ihn in dieser Verlegenheit zu verlassen,, antwortete sie mit Entrüstung, ein ehrbares Frauenzimmer könne in einem solchen Hause nicht bleiben, er möge sich nur von seiner Liebsten bedienen lassen.

Dann entfernte sie sich mit majestätischem Anstand.

Dieudonné war außer sich: er begriff wohl, dass alle bösen Zungen der Stadt wetteifern würden, ihn zu verspotten und zu verhöhnen; er sah voraus, dass man mit Fingern auf ihn zeigen würde; seine bisherige ungetrübte Ruhe erschien ihm wie ein spiegelglatter See, wie ein ewig heiterer Himmel, und er fing an zu denken, dass er vielleicht etwas leichtsinnig gehandelt habe, die Kranke in sein Haus bringen zu lassen.

Vergebens ging Black von dem Bett seiner vormaligen Herrin zu dem Lehnstuhl, in welchem sein neuer Herr saß: vergebens wedelte er freundlich mit dem Schweife, leckte dem Chevalier die Hand und legte den Kopf auf dessen Knie – nichts vermochte den Chevalier seinen trüben Betrachtungen zu entreißen.

Der menschliche Geist hat Ebbe und Flut wie der Ozean.

Diese Betrachtungen bezweckten nichts Geringeres, als die Kranke samt ihrem Hunde in eine Sanitätsanstalt bringen zu lassen.

Als dieser Plan einmal in seinem Gedanken Wurzel gefasst hatte, suchte Dieudonné Alles auf, um ihn zu beschönigen; er dachte: die vornehmsten Leute gehen in die Sanitätsanstalten; er selbst würde eine solche Anstalt benutzen, wenn er krank wäre; die Pflege sei wohl nicht so uneigennützig, aber besser als zu Hause; die Gewohnheit ersetze die persönliche Zuneigung.

 

So gewannen die selbstsüchtigen Regungen immer mehr die Oberhand. Seitdem der Chevalier den Hund besaß, hatte er keinen ganz ruhigen, sorgenfreien Tag gehabt. Seit sechs Monaten war die Behaglichkeit seines früheren Lebens verschwunden; welchen Gefahren hatte er sich nicht ausgesetzt, um Black wiederzubekommen? War es doch leicht möglich, ebenfalls von der Cholera befallen zu werden, zumal wenn er im Laufe des Tages weder Haushälterin noch Krankenwärterin fand. Dann musste er selbst bei der Kranken bleiben und eine ganze Nacht die schädlichen Ausdünstungen einatmen.

Die Flut stieg immer fort, die selbstsüchtigen Gedanken folgten einander, wie die unaufhaltsam eindringenden Wellen.

»Es ist ja keineswegs unmöglich,« dachte Dieudonné, »dass Therese durch Zufall in den Besitz des Ringes gekommen ist. Wie kann man daraus schließen, dass sie die Tochter Mathildens sei? Und wäre es auch erwiesen, ist es dann die Pflicht des beleidigten Gatten, sich in Lebensgefahr zu begeben, um die Frucht des Ehebruchs zu retten?

Dieser Gedanke, dass die Kranke nicht Mathildens Tochter sei, nahm so sehr überhand, dass de: Chevalier sich entschloss, Therese zu befragen; aber sie war so schwach, dass er keine Antwort von ihr erhalten konnte.

In diesem Augenblicke fiel sein Blick auf den Toilettentisch, auf welchem alle von Dumesnil hinterlassenen kleinen Geräte aufgestellt waren. Dann dachte er in Folge eines ganz natürlichen Ideenganges an die Schatulle, in welcher sich die Toilettengegenstände befunden hatten, und insbesondere an das geheimnisvolle Paket, welches der Chevalier an Mathilde übergeben, oder falls sie nicht mehr lebte, ins Feuer werfen sollte.

Er dachte, in diesem Packet befinde sich aller Wahrscheinlichkeit nach die Lösung des Rätsels, das ihm in diesem Augenblicke so viel Kopfbrechen machte. In seiner ärgerlichen Stimmung dachte er nicht an die Bitte seines verstorbenen Freundes, sondern beschloss das Paket zu öffnen und sich Aufklärung über Therese zu verschaffen, wenn anders in den Papieren die Rede von ihr sei.

Um sich jede zwecklose Aufregung zu ersparen, hatte der Chevalier den doppelten Boden der Schatulle nicht mehr geöffnet; er hatte sich alle Mühe gegeben, an das Paket und dessen unbekannten Inhalt nicht mehr zu denken. Aber die letzten ungewöhnlichen Ereignisse hatten seinen Gedanken eine ganz andere Richtung gegeben; er überwand seine bisherige Abneigung gegen heftige Gemütsbewegungen, denn er hoffte mit Zuversicht, in dem Paket einige zur Lösung des Rätsels dienende Nachtweisungen zu finden, Dumesnil hatte den Namen Mathildens freilich nie ausgesprochen, aber es war, wie der Chevalier meinte, mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Kapitän von ihrem Schicksal etwas wusste.

Der Chevalier, dessen Aufregung immer größer wurde, ging zu dem Schrank, wo er seit seiner Rückkehr von Papeite die Schatulle aufbewahrte, nahm sie heraus, stellte das Licht auf den Kamin, setzte sich vor das Feuer, legte die Schatulle auf seinen Schoß, öffnete das erste Fach, dann das zweite und nahm das Paket mit den großen schwarzen Siegeln heraus.

Zum ersten Male bemerkte der Chevalier, dass die Siegel schwarz waren.

Er drehte das Paket hin und her und betrachtete es unschlüssig. Endlich erbrach er die Siegel.

Einige Banknoten von tausend Francs fielen aus dem Umschlage. Ein unversiegelter Brief blieb in seinen Händen. Der Chevalier las:

»Wenn deine Frau bei deiner Rückkehr nach Frankreich noch lebt, so übergib ihr das angeschlossene Paket und die Banknoten; wenn sie aber tot ist, oder wenn Du keine Hoffnung hast zu erfahren, was aus ihr geworden ist, so erinnere Dich an dein Versprechen: wirf dieses Paket ins Feuer und verwende das Geld zu wohltätigen Zwecken. Dein treuer Freund Dumesnil.«

Der Chevalier drehte das Paket eine Weile zwischen den Fingern; er war begierig zu wissen, in welchem Verhältnis Mathilde zu seinem Freunde gestanden.

Er war einige Male im Begriff, das zweite Paket zu erbrechen, wie das erste; aber er gedachte der Mahnung Dumesnil’s, und um der Versuchung nicht nachzugeben, warf er das Paket ins Feuer.

Das Paket wurde schwarz, fiel auseinander und Dieudonné bemerkte unter vielen Briefen eine blonde Haarlocke, die offenbar von Mathilden herrühren musste.

Dieser Anblick ergriff den Chevalier so tief, dass er seinen Vorsatz vergaß, mit der Hand ins Feuer griff und die Haarlocke samt dem Papier, in welche sie gewickelt war, herausholte,

Er warf das Ganze auf die Erde und trat mit dem Fuß darauf, um das Feuer, welches die Locke und das Papier schon halb verzehrt hatte, auszulöschen. Dann sammelte er sorgfältig die versengten Überreste. Auf dem Papier bemerkte er einige Zeilen von der Hand Dumesnil’s; aber es war unmöglich die Schriftzüge zu lesen, denn das Papier zerfiel in Asche, sobald es angerührt wurde. Nur ein kleines, noch nicht völlig verbranntes Stück blieb übrig.

Auf diesem Zettel entzifferte er mit einiger Mühe folgende Worte:

»Ich habe Herrn Chatier beauftragt – Ihre Tochter in eine – unter gehöriger Aufsicht —«

Diese unzusammenhängenden, vom Feuer verschont gebliebenen Worte erinnerten den Chevalier an eine Äußerung des jungen Schiffsarztes, den er nun als Doktor Robert wiedergefunden hatte. Der junge Arzt hatte gehört, dass Dumesnil am Bord des »Dauphin« mit Herrn Chatier von einem Kind gesprochen.

Dumesnil wusste also etwas von dem Geschick Mathildens, und sogar in weiter Ferne war er in Verkehr mit ihr geblieben. Warum hatte der Kapitän nie ein Wort mit seinem Freunde darüber gesprochen? Welche Rolle hatte Dumesnil in jener Katastrophe gespielt, die das Leben Dieudonné’s so tief erschüttert?

Die Phantasie des armen Dieudonné erschöpfte sich in Vermutungen. Die Rolle, die sein verstorbener Freund bei der Trennung des Chevaliers von seiner Frau gespielt, hatte von Zeit zu Zeit einigen Verdacht in dem vertrauenden Gemüte des Letzteren geweckt. Die eben gemachte Entdeckung bestärkte ihn in diesem Verdacht, und der Chevalier begann zu zweifeln, ob Dumesnil in seiner Freundschaft immer so uneigennützig gewesen sei, wie in seinen letzten Lebensjahren.

Der Chevalier musste sich selbst gestehen, dass ein trauriger Argwohn an seinem Herzen nagte.

In diesem Augenblicke bemerkte er Black, der vor dem Bett saß, aber nicht die Kranke ansah, sondern den Chevalier mit großer Aufmerksamkeit zu betrachten schien. In dem Blicke des Hundes lag zugleich Trauer und Besorgnis; Dieudonné glaubte einen demütig bittenden Ausdruck in der ganzen Haltung des armen Tieres zu erkennen; kurz, Black schien den entscheidenden Wendepunkt in dem Leben seines neuen Herrn zu ahnen.

’Der Chevalier stand auf, bückte sich und schloss das schöne, kluge Tier in seine Arme.

»Ich verzeihe Dir, Freund,« sagte er. als ob er wirklich den armen Dumesnil vor Augen gehabt hätte: »ich verzeihe Dir; ich vergesse Alles, nur nicht diese überglücklichen Jahre, die ich deiner Freundschaft verdanke. sei nicht so traurig, Bruder, wir sind ja Alle schwache Geschöpfe, und durch die Versuchung leicht zu besiegen. Wenn Du mir nur sagen könntest, ob es – die Tochter Mathildens ist.«

Black richtete sich auf und begann die herabhängende Hand der Kranken zu lecken.

»So ist es also doch wahr,« sagte er mit einer an Wahnwitz grenzenden Aufregung. »Ich will mich dieser Unglücklichen annehmen, so wie Du Dich meiner angenommen hast: ich will sie glücklich machen! Sie hat ja die Fehltritte ihrer Mutter nicht verschuldet.«

In diesem Augenblick verlangte die Kranke mit kaum vernehmbarer Stimme zu trinken. Der Chevalier ergriff hastig das auf der Nachtlampe erwärmte Glas, und ohne über die Frage nachzudenken, ob die Cholera endemisch oder ansteckend sei, richtete er mit der einen Hand den Kopf der Kranken auf und hielt ihr mit der andern das Glas an den Mund.

»Trink, Therese,« sagte er, einen Kuß auf ihre Stirn drückend; »trink, mein liebes Kind!«

IX
Wo ein Sonnenstrahl durch die Wolken bricht

Der Chevalier de la Graverie wollte die Erfüllung des Versprechens, welches er den Mann seines Freundes gegeben, keinen Augenblick aufschieben.

Er nahm an Mariannens Stelle sogleich eine neue Haushälterin an, ohne sich vor der Hand um ihre Kochkunst zu kümmern; sie war ihm als eine treffliche Krankenwärterin empfohlen worden und das genügte ihm.

Ungeachtet dieser Empfehlung, welche die neue Haushälterin zu rechtfertigen strebte, fand der Chevalier ihren Eifer in der Pflege der jungen Patientin den Umständen keineswegs angemessen; er übernahm daher selbst diese schwere Sorge. Als Therese acht oder zehn Tage später aus ihrer langen Erstarrung erwachte, verließ der Chevalier zum ersten Male das Krankenbett, um einen Blick in seinen Garten zu werfen. Er bemerkte mit Erstaunen und Bedauern, dass er vergessen hatte, seine Rosenstöcke zu beschneiden, deren üppig wuchernde Zweige der Blüte schaden mussten.

In den ersten Tagen oder vielmehr Nächten hatte der Chevalier einige Mühe gehabt, sich an das beständige Wachen und die dadurch bedingte geistige Anstrengung zu gewöhnen, aber bald fand er sogar ganz unerwartete Genüsse in diesem ermüdenden Geschäft. Sein Herz, welches noch keine tiefen Eindrücke kannte, wurde durch das lange Ringen mit dem Tode, durch die lange, angstvolle Spannung, durch die unverhofften Freuden, die plötzlich wiederkehrenden Besorgnisse unwiderstehlich gefesselt; es war gleichsam ein Zweikampf mit einer weit stärkeren Triebfeder als in einem gewöhnlichen Zweikampfe: in diesem kämpft man, um zu töten; der Chevalier hingegen suchte dem Tode ein junges Leben abzuringen; es war für ihn nicht bloß ein Ehrenpunkt, sondern eine Gewissenssache. Wenn sich der Zustand der Kranken verschlimmerte, tobte der Chevalier gegen das Geschick, er fühlte hundertfache Kraft und Entschlossenheit und wunderte sich, dass er in seiner müßigen, verträumten Jugend nicht die Lebensrettungswissenschaft studiert hatte, um die teure Kranke retten zu können.

Wenn er zuweilen erschöpft eingeschlummert war, mit welcher Hast eilte er dann an das Lager, um auf den schweren, tiefen Atem der Kranken zu lauschen! Mit welcher Freude machte er die Entdeckung, dass der bisher matte, unregelmäßige Puls Theresens ruhiger und kräftiger geworden war, dass ihre Augen wieder einigen Glanz bekamen, dass ihre Lippen die violette Farbe verloren und sich mit einem zarten Roth bedeckten. Dann fragte er sich in allen Ernste, wie es Menschen geben könne, welche die erbärmliche Befriedigung der Selbstsucht den unaussprechlichen Freuden des Herzens vorziehen können.

Dabei vergaß er ganz, dass er dieser Selbstsucht, über die er jetzt den Stab brach, eine lange Reihe von Jahren gestöhnt hatte.

Während der langen Tage, die der Chevalier de la Graverie am Bett der Kranken zubrachte und nur durch die Sorge, die er ihr zu widmen hatte, von seinen Gedanken zuweilen abgelenkt wurde, sann er über seine und Theresens Verhältnisse nach. Seine Geistesträgheit und seine Furcht vor unangenehmen Gedanken war so groß, dass er sich seit fünfzehn Jahren nie die Mühe genommen hatte, daran zu denken. Er erinnerte sich wohl, dass er seinem Bruder eine Vollmacht übergeben halte, durch welche dieser ermächtigt wurde, die Scheidung des Chevaliers von seiner Frau zu erwirken; aber es war ihm nicht klar, wie sich Mathilde hatte entschließen können, ihr Kind zu verlassen.

Der Chevalier hatte sich bis dahin nicht entschließen können, seinen älteren Bruder wiederzusehen; er wusste ja. dass diesem ein großer Teil der Schuld an seinem häuslichen Unglück zur Last fiel. Seit seiner Rückkehr nach Frankreich hatte er nur selten etwas von ihm gehört und er trug Bedenken, ihn zu fragen, was nach seiner Abreise aus Mathilden geworden sei.

Therese genas nur sehr langsam, wie es nach den furchtbaren Verheerungen, welche die Cholera im menschlichen Körper bewirkt, nur zu oft der Fall ist. Sie war noch so schwach, dass der Arzt dem Chevalier täglich dringend empfahl, ihr durchaus keine Gemütsbewegung zu machen,

Dieudonné war indes sehr ungeduldig, etwas von Therese zu erfahren. Oft hatte er eine Frage auf der Zunge, aber die Besorgnis um ihre Gesundheit legte ihm immer wieder Stillschweigen auf.

Eines Tages endlich hatte man die Kranke in den großen Armsessel gesetzt; sie saß, die würzigen Düfte des Gartens einatmend, am offenen Fenster, und der laue Westwind bewegte ihre unter dem Häubchen hervorquellenden blonden Locken.

Von Zeit zu Zeit sah sie sich nach dem Chevalier um, der hinter ihr stand und sie zärtlich betrachtete. Sie fasste seine Hand und küsste sie mit einem fast kindischen Ausdruck der Dankbarkeit; dann versank sie wieder in tiefe Gedanken und ihr Blick glitt über den von tausend Blumen prangenden Garten.

 

Der Chevalier neigte sich zu ihr.

«Woran denkst Du, Therese?« fragte er.

»Sie werden meine Antwort sehr albern finden, Herr Chevalier,« erwiderte sie; »ich denke an gar nichts und doch finde ich diese Träumerei so schön. Fragen Sie mich, was ich ansehe, so antworte ich Ihnen dasselbe: ich sehe nichts an, und gleichwohl fühle ich mich unaussprechlich wohl; es ist mir, als würde ich in eine andere Sphäre gehoben, wo Alles schön und herrlich ist.«

»Liebe Kleine!« flüsterte der Chevalier und wischte sich eine aus dem Auge quellende Träne ab.

»Ach, warum wecken Sie mich aus meinem schönen Traum?« fuhr Therese, welche diese Träne nicht bemerkte, mit tiefer Wehmut fort, »alles Glück hienieden ist ja nur ein Traum – aber dieser Traum war so süß und das Erwachen ist so traurig!«

»Hast Du Dich über etwas zu beklagen, liebes Kind? Findest Du die Pflege, die man Dir widmet nicht genügend? Sprich; Du wirst indes bemerkt haben, dass dein Glück mein höchster, mein einziger Wunsch ist.«

»Sie sind mir also gut?« fragte Therese mit reizender Natürlichkeit.

„Wenn ich Dir nicht von Herzen gut wäre, Therese, würde ich dann wohl für Dich sein, was ich bin, oder vielmehr, was ich für Dich sein möchte?«

»Aber warum sind Sie mir denn gut?«

Der Chevalier zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete:

»Weil Du mich an meine Tochter erinnerst.«

»An Ihre Tochter?« erwiderte Therese; »Sie haben sie also verloren? O, dann bedauere ich Sie; denn ich fühle, dass mich nichts mehr an diese Welt fesseln würde, wenn ich das Kind, das ich unter dem Herzen trage, verlieren müsste. Der einzige Trost in meinem Unglücke ist der Gedanke an die Liebe und Zärtlichkeit, die ich von dem kleinen Wesen in Zukunft erwarten darf,«

Es war das erste Mal, dass Therese von ihrem Zustande sprach, und sie that es mit einer Unbefangenheit, die keineswegs Schamlosigkeit war, dem Chevalier aber doch auffiel. Er hielt es für angemessen, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, und er glaubte diese Gelegenheit benützen zu können, um Therese über ihre Vergangenheit zu befragen.

»Du bist also unglücklich gewesen, armes, liebes Kind?« fragte er.

»O ja, so unglücklich, dass ich mich oft fragte, ob die Armen denselben Gott haben, wie die Reichen. Ich bin noch sehr jung, denn ich bin noch nicht neunzehn Jahre alt; aber ich glaube, dass ich alles Elend schon erduldet habe, mit welchem ein Mensch heimgesucht werden kann.« »Aber deine Familie?« „Meine Familie – wenigstens die mir bekannte – bestand aus einer armen alten Frau, die nur mit mir dulden konnte —«

»War’s deine Mutter?» fragte der Chevalier tief bewegt.

»Sie nannte mich ihre Tochter; aber jetzt, da mein Verstand reifer ist, glaube ich nicht, dass sie meine Mutter sein konnte’ sie war zu alt. Und wenn ich die Augen schließe und recht nachdenke, so sehe ich, wie im Traum, meine früheste Kindheit, die der zweiten Kindheit gar nicht ähnlich war.«

»Und was sagen Dir deine Erinnerungen über jene Kindheit?« fragte der Chevalier lebhaft. »Sprich, Therese, Du glaubst nicht, Du kannst nicht glauben, mit welcher Spannung ich deinen Mitteilungen entgegensehe; denn ich hoffe, dass Du Vertrauen genug zu mir hast, um mir Alles zu sagen, was Du weißt.«

»Ich will Ihnen von Herzen gern Alles sagen, Herr Chevalier; aber ich habe nur dunkle Erinnerungen. Ich weiß nur, dass ich nicht immer dürftig gekleidet war, wie in späteren Jahren; ich erinnere mich insbesondere, dass ich jedes Mal weinte wenn ich mit meiner Adoptivmutter an den Tuilerien vorüberging; ich wollte, wie in meiner frühesten Kindheit, gern unter den Kastanienbäumen mit dem Reif und Seil spielen.«

»Und aus deiner frühesten Kindheit ist Dir kein Gesicht mehr erinnerlich?«

»Nein, ich weiß nicht wann und wie ich aus dem Wohlstande oder Reichtum in die elende Dachstube kam, welche die Mutter Dennée bewohnte. Ich bin dort wohl zehn Jahre recht unglücklich gewesen, obschon die arme Frau mich so lieb hatte, wie man von so armen Leuten erwarten kann. Denn man mag sagen, was man will, die Not stumpft das Gefühl ab und verhärtet das Herz, Wenn man kein Brot hat, wenn der Hunger an die Tür klopft, wenn man keine Hilfe findet, keine Hoffnung mehr hat – dann ist es sehr schwer, gut und freundlich gegen Andere zu sein. Wenn daher die Arbeit fehlte, wenn wir gezwungen waren, in den Gasthäusern an der Barriere Vaugirard zu betteln, und ich mit leeren Händen nach Hause kam, so zankte sie mich aus und schlug mich wohl gar; aber ihr Zorn hörte auf, sobald sie meine Tränen sah, sie bat mich um Verzeihung und küsste mich. Dann vergaßen wir für eine kleine Weile unser Elend.«

»Warum hast Du denn deine Adoptivmutter verlassen, liebes Kind?«

»Ach! ich habe sie nicht verlassen, Gott hat sie in eine bessere Welt abberufen. Ich war fünfzehn Jahre alt, aber in den letzten Tagen ihrer Krankheit hatte sie mich so ernstlich zu Mut und Ergebung ermahnt, dass ich, nachdem ich ihr die letzte Ehre erwiesen, mutig und entschlossen in meine Verlassenheit zurückkehrte. Ungeachtet meiner Jugend ahnte ich die Gefahren, die mich erwarteten, und da ich denselben nicht trotz bieten wollte, so beschloss ich sie zu fliehen; ich suchte Schutz in einem Kloster; die Nonnen gaben mich in die Lehre. Leider wurde ich in kurzer Zeit eine sehr geschickte Arbeiterin —«

»Warum denn leider?«

Therese drückte die Hände aufs Gesicht.

»Sprich, liebes arme Kleine,« sagte der Chevalier.

»Ja, ich muss reden,« antwortete sie; »Sie sind so gütig und werden einer armen Verlassenen verzeihen. Sie sagen, dass Sie sich meiner annehmen wollen, Sie müssen daher die Wahrheit erfahren, um Ihre Adoptivtochter kennen zu lernen. Ich glaube auch, dass ich freier, unbefangener mit Ihnen reden kann, wenn Sie Alles wissen, was meinen Fehltritt vielleicht entschuldigen kann.«

»Sprich, mein Kind, und zähle auf meine Nachsicht; ich will Dir Alles ersparen, was Dir dieses Geständnis; peinlich machen kann.«

»O, Sie sollen Alles wissen,« erwiderte Therese und reichte dem Chevalier die Hand. »Mit siebzehn Jahren war ich die geschickteste Arbeiterin im Atelier geworden, und kam zu einer der ersten Weißwarenhändlerinnen in der Straße Saint’ Honoré. – Eines Tages kam ein junger Mann in Begleitung seines Vaters zu Madame Dubois – so hieß meine Prinzipalin – um verschiedene Brautgeschenke zu kaufen. Wie der Vater aussah, konnte ich nicht sagen, ich sah nur den jungen Mann. Auf den ersten Anblick hatte er nichts Auffallendes, und ich weiß in der Tat nicht, warum ich meine Augen nicht von ihm abzuwenden vermochte. Ich glaubte auch zu bemerken, dass er mich ebenfalls mit großer Aufmerksamkeit ansah. Kurz ich fühlte eine noch nie gekannte Befangenheit und hatte eine schlaflose Nacht.

»Am andern Morgen kam er wieder, unter dem Vorwand, noch etwas zu bestellen; es schien mir, dass er mich noch mehr ansah, als das erste Mal, Meine Befangenheit wurde noch größer; ich getraute mich kaum die Augen aufzuschlagen. Den folgenden Tag kam er wieder, und noch einmal wiederholte er seinen Besuch. Er war so sanft, so gut, so freundlich, dass das unklare Gefühl, welches sein erstes Erscheinen in mir geweckt, einen entschiedeneren Charakter annahm: ich sah ein, dass ich ihn liebte, und ich fühlte mich so unwiderstehlich zu ihm hingezogen dass ich an seine nahe bevorstehende Vermählung gar nicht dachte; vielleicht hatte er seiner Zukünftigen nicht nur seine Hand zugesagt, sondern auch sein Herz geschenkt. Und gleichwohl trieb mich die Neugier die glückliche Braut kennen zu lernen. Wenn die Prinzipalin abwesend war, hatte ich die Leitung des Geschäftes. Eines Tages, als sie nicht zu Hause war, legte ich einige Kleinigkeiten in meine Pappschachtel und begab mich in das Hotel, wo die Braut des von mir so leidenschaftlich geliebten Mannes wohnte.