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Black

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VI
Wo die bewaffnete Macht wieder Ruhe ins Haus bringt

Als der Chevalier am andern Morgen erwachte, fühlte er Schmerzen im ganzen Körper. Zum ersten Male seit vierundzwanzig Stunden sann er über die in blinder Leidenschaft begangenen Unbesonnenheit nach und dachte mit Schaudern, dass er einen Gichtanfall oder Rheumatismus davontragen könne.

Er griff sich, wie gewöhnlich, an den Puls; zum Glück fand er ihn ruhig, regelmäßig und nur wenig schneller als gewöhnlich.

Nachdem er sich über seinen Gesundheitszustand ziemlich beruhigende Gewissheit verschafft hatte, stand er auf und begann mit Black zu spielen, ohne zu bemerken, dass kein Feuer m Kamin war.

Gegen neun Uhr kam Marianne in das Zimmer ihres Herrn; ihr Gesicht war noch bissiger als gewöhnlich.

Aber die Nacht hatte guten Rat gebracht. Die schlaue Person sprach nicht mehr von Aufkündigung des Dienstes.

Der Chevalier seinerseits war so glücklich, endlich den Gegenstand seiner Wünsche zu besitzen, dass er für Großmut empfänglich war.

Ein Gedanke jedoch trübte dieses Glück. Der Chevalier dachte halb aus Besorgnis, halb mit Reue an die Wahrscheinlichkeit, dass die junge Herrin Blacks ihr Eigentum zurückfordern werde. Sein Ruf als ehrlicher Mann war dahin, wenn es in der Stadt bekannt würde, wie er sich den Hund zugeeignet. Hatte er wirklich das Recht, sich in den Besitz Blacks zu setzen, wenn auch dessen Leben bedroht war?

Endlich dachte er nicht ganz ohne bange Besorgnis an die Folgen, welche der Raub des klugen wachsamen Tieres für das Leben des armen Mädchens haben konnte, und obschon er sich mit dem Gedanken zu trösten suchte, dass er Black einem sichern Tod entrissen, so konnte er sein Gewissen in dieser Beziehung doch nicht ganz beruhigen.

Um dies wenigstens zu versuchen, siegelte er eine Banknote von fünfhundert Francs ein und adressierte sie an »Mademoiselle Therese, bei Madame Francotte.«

Dieser Banknote legte er einige Zeilen bei, durch die er ihr, ohne die Beweggründe dieser Freigebigkeit zu erklären, auch für das nächste Jahr die gleiche Summe zusicherte.

Sie war nun gegen die Not geschützt, welche der Chevalier für die gefährlichste aller Versuchungen hielt.

So wäre der Verlust des Hundes durch dieses Geschenk von tausend Francs reichlich ersetzt.

Es kam nun darauf an, sich im Besitz des Hundes zu erhalten.

Black sollte nie die Schwelle des Hauses überschreiten, er sollte dagegen den Garten zu seiner Verfügung haben. Die Mauer war so hoch, dass man die Neugier der Nachbarn nicht zu fürchten hatte.

Black sollte in dem Zimmer seines Herrn schlafen. Wenn der Chevalier genötigt wäre, sich einige Stunden zu entfernen, so sollte Black in dem Toilettenzimmer eingesperrt bleiben. Ein Vorhängeschloss mit einem geheimen Mechanismus sollte das arme Tier gegen die arglistigen Anschläge Mariannens schützen.

Die Schwatzhaftigkeit der Letzteren war die einzige düstere Wolke, welche die zu erwartenden glücklichen Tage trüben konnte. Aber schon den ersten Abend brachte der Zufall die zänkische Haushälterin in die Gewalt ihres Herrn.

Der Chevalier ging weder vor noch nach Tische aus. Er frühstückte und speiste mit seinem Liebling. Abends führte er ihn im Garten spazieren.

Während sich Dieudonné mit einem wilden Rosenstock, den er im Frühjahr oculirt hatte, beschäftigte, benutzte Black, der trotz der sorgsamsten Pflege nicht recht zufrieden schien, die offene Gartentür, um einen Weg zu suchen, auf welchem er seinem Instinkt folgen konnte.

Aber zum Unglück für seinen Fluchtplan musste er, um auf die Straße zu gelangen, an der Küche vorübergehen, aus welcher eben ein köstlicher Bratengeruch hervorging.

Black trat in die Küche, die auf den ersten Anblick leer schien.

Er suchte die Ursache des appetitlichen Geruches.

Während er suchte, blieb er plötzlich stehen, wie ein Hund, der ein Stück Wild findet, und bellte gegen einen großen Schrank, als ob er diesen des unbefugten Hehlens beschuldigen wollte.

Inzwischen kam Marianne, durch das Gebell herbeigelockt. Schon griff sie zu ihrer gewohnten Waffe; aber der Chevalier, der den Hund vermisst hatte, eilte ihm nach.

Die Haltung des Chevaliers, seine gebietende Miene machte einen so gewaltigen Eindruck auf Marianne, dass sie den Besen fallen ließ.

Black bellte immerfort den Schrank an, ohne sich um die übrigen Vorgänge zu kümmern.

Der Chevalier riss den Schrank auf, und zu seinem größten Erstaunen erblickte er einen Kürassier, der in ihm den Herrn vom Hause erkannte und ehrerbietig salutirend die Hand an seinen Helm legte.

Marianne sank auf einen Stuhl, als ob es ihr möglich gewesen wäre, in Ohnmacht zu fallen.

Der Chevalier erkannte auf den ersten Blick die ganze Situation. Aber statt sich einem unbedachtsamen Zorne zu überlassen, sann er sogleich auf den Nutzen, den er daraus ziehen könne.

Er dankte dem Hunde durch eine zärtliche Liebkosung. und rief Marianne durch einen gebieterischen Wink hinaus.

Er ging nicht weiter als auf die Hausflur. Hier stand er still und sagte ernst:

»Marianne, Du hast bei mir dreihundert Francs Lohn, und um sechshundert betrügst Du mich.«

Marianne machte einen Versuch, den Chevalier zu unterbrechen, aber dieser gebot ihr durch eine drohende Gebärde Schweigen.

»Um sechshundert betrügst Du mich,» fuhr er fort. »Ich lasse es so hingehen. Du hast also den besten Platz in der Stadt. Überdies würde außer mir Niemand die Geduld haben, dein zänkisches, bissiges Benehmen zu ertragen. Du verdienst jetzt mit Schimpf und Schande davon gejagt zu werden; aber ich will Dich nicht fortjagen —«

Marianne wollte ihren Herrn unterbrechen, um ihm zu danken.

»Warte nur,« setzte er hinzu: »ich knüpfe meine Nachsicht an gewisse Bedingungen.«

Marianne beugte ihr schuldiges Haupt, um anzudeuten, dass sie bereit sei, sich das demütigende Joch, welches er ihr auflegen wollte, gefallen zu lassen.

»Den Hund habe ich gefunden,« fuhr der Chevalier fort, »aus Gründen, die Dich nicht kümmern, will ich ihn behalten, und er soll’s gut bei mir haben. Wenn der Hund in Folge deiner Schwatzhaftigkeit bei mir gesucht wird; wenn er in Folge des Hasses, den Du gegen ihn hegst, oder durch ab» sichtliche Nachlässigkeit davonläuft, so gebe ich Dir mein Ehrenwort, dass ich Dich auf der Stelle fortjage. – Jetzt kannst Du wieder zu deinem Kürassier gehen. Ich bin Soldat gewesen,« setzte Dieudonné, sich in die Brust werfend, hinzu, »und habe keine Vorurteile gegen Militärpersonen.«

Marianne war so beschämt und der Chevalier sprach mit so viel Entschlossenheit, dass sie kein Wort erwiderte und in die Küche ging.

Der Chevalier war sehr erfreut über diesen Vorfall, der ihm vereint mit seinen übrigen Plänen den Besitz des Jagdhundes zu verbürgen schien.

Er täuschte sich nicht. Von diesem Tage an begann für Dieudonné und seinen vierfüßigen Herzensfreund ein glückliches, stillvergnügtes Leben. Das fortwährende Zusammenleben machte den Chevalier keineswegs gleichgültig oder unempfänglich für die Vorzüge des Hundes; im Gegenteil. Black wurde ihm mit jedem Tage teurer, und mit jedem Tage entdeckte er an ihm so glänzende Eigenschaften, dass seine Seelenwanderdungsgedanken immer häufiger und nachhaltiger wurden. Dann konnte er sich nicht enthalten, Black mit einer gewissen zärtlichen Rührung zu betrachten; er sprach von der Vergangenheit wie mit einem teilnehmenden Freunde und erzählte ihm vorzugsweise alle Ereignisse, an denen Dumesnil teilgenommen; ja zuweilen vergaß er sich so weit, dass er fragte, wie der Kapitän den alten Soldaten: »Denkst Du noch daran?«

Und wenn der Hund den Kopf hob und ihn mit seinen klugen, ausdrucksvollen Augen ansah, fühlte der Chevalier die dankbare Zuneigung, die er vormals seinem Freunde bewiesen hatte.

Dies dauerte ein halbes Jahr. Black musste sich als den Glücklichsten seines Geschlechtes betrachten. Von Zeit zu Zeit jedoch war er traurig und niedergeschlagen; er warf gar sehnsüchtige Blicke auf die Türen, als ob er seinem Herrn zu verstehen geben wollte, dass er ungeachtet der verflossenen Zeit und der guten Behandlung, die ihm zu Teil wurde, seine frühere Herrin noch nicht vergessen habe.

Eines Abends, es war im Frühjahre, rasierte sich der Chevalier de Graverie, um einige Besuche zu machen. Black war den ganzen Tag und schon gestern unruhiger als gewöhnlich gewesen. Plötzlich hörte Dieudonné die kreischende Stimme Mariannens, welche auf der Treppe rief:

»Herr Chevalier, zu Hilfe! Ihr Hund läuft davon!«

Dieudonné warf sein Rasirmesser weg, wischte sein halb rasiertes Gesicht ab, zog schnell einen Rock an und eilte die Treppe hinunter.

In der Haustür fand er Mariannen, die dem fortlaufendem Hunde mit aufrichtiger Bestürzung nachschaute.

»Herr Chevalier,« sagte sie jammernd, »ich schwöre Ihnen, dass ich keine Schuld habe; der Briefträger hat die Tür offen gelassen.«

»Ich habe Dich gewarnt, Marianne!« sagte der Chevalier außer sich vor Zorn. »Du bist nicht mehr in meinem Dienste. Schnüre dein Bündel und verlasse auf der Stelle mein Haus!«

Und ohne die Antwort der trostlosen Köchin abzuwarten, ohne zu bedenken, dass er in Pantoffeln und ohne Hut war, eilte er dem Flüchtlinge nach.

VII
Wo Black den Chevalier führt

Der Chevalier wusste so ziemlich, welchen Weg er zu nehmen hatte und lief daher ohne Zögern durch die Straßen der Stadt.

In der Nähe der Kathedrale bemerkte er Black etwa hundert Schritte vor sich. Er rief; aber Black, der sich verfolgt sah, lief weiter, und der Chevalier sah ihn erst unweit der Vorstadt La Grappe wieder. Er wusste, dass dort die vormalige Herrin des Hundes wohnte; nur die Hausnummer war ihm nicht bekannt.

Der Chevalier kam ihm so nahe, dass er ihn einzuholen hoffte. Aber Black, der sich in dem Straßenlabyrinthe verloren zu haben schien, eilte ihm immer in einiger Entfernung voraus; es schien fast, als ob das kluge Tier sich absichtlich nicht zu weit entfernte, um dem Chevalier nicht ganz aus den Augen zu kommen.

 

Dieudonné streckte die Hand aus, um ihn bei dem prächtigen Halsband zu fassen, das er ihm hatte machen lassen; aber Black machte einen Seitensprung und lief in ein Haus. Es war das dritte auf der linken Seite.

Der Chevalier trug kein Bedenken, ihm zu folgen und den schmalen, feuchten, dunkeln Hausgang zu betreten. Er hielt nicht einmal eine Antwort in Bereitschaft, falls ihn Black zu dem jungen Mädchen, seiner eigentlichen Herrin, führen würde.

Nach einigem Umhertappen in dem dunkeln Gange fasste der Chevalier ein Seil, welches die Stelle eines Treppengeländers vertrat.

Oben fiel ein mattes Licht durch ein kleines schmutziges Fenster. Der Chevalier begann langsam die steile Treppe zu ersteigen.

Er kam in den ersten Stock. Hier waren alle Türen geschlossen.

Der Chevalier lauschte. Man hörte kein Geräusch in den Zimmern; der Hund konnte hier also nicht geblieben sein.

Dieudonné ergriff wieder das Seil und stieg weiter hinauf.

Im zweiten Stocke lauschte er wieder. Auch hier war Alles still.

Die Treppe wurde nun immer schmäler, je höher man hinaufstieg, und wurde endlich zur Leiter, wie die mythischen Weiber, deren Leib sich nach Birgits Beschreibung in einen Fischschwanz endet.

Der Chevalier begann zu fürchten, der Hund habe einen von ihm selbst nicht bemerkten Ausgang benutzt, um aus dem Hause zu entkommen und in einen Hof zu gehen.

Aber in diesem Augenblicke hörte er über seinem Kopfe jenes klägliche, langgezogene Geheul, durch welches die Hunde, einem sehr verbreiteten Glauben zufolge, dm Tod ihres Herrn verkünden.

Diese Klagetöne in dem düsteren, dem Anscheine nach unbewohnten Hause, drangen dem Chevalier durch Mark und Bein; seine Haare sträubten sich, und er fühlte seine Stirn mit kaltem Schweiß bedeckt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Black die Tür verschlossen gefunden, und das junge Mädchen war nicht zu Hause. Der Chevalier konnte ihn daher einholen, und in dem engen Gange musste sich Black ergeben.

Dieser Gedanke gab dem Chevalier wieder Mut. Er fasste daher das Seil wieder und stieg weiter hinauf.

Er dachte dabei unwillkürlich an jenen Unglückstag, wo er sich aus Dumesnil’s Zimmer an Betttüchern hinabgelassen hatte. Die Erinnerung an dieses unglückliche Abenteuer lenkte seine Gedanken auch auf Mathilde – und er seufzte.

Als er etwa zwanzig Stufen hinaufgestiegen war, ragte er mit dem halben Körper aus einer Luke hervor.

Diese Luke führte zu einer kleinen, finsteren Dachkammer, die ebenfalls leer zu sein schien; allein es war nicht zu bezweifeln, dass Black soweit hinaufgestiegen war.

Kaum hatte der Chevalier den Fußboden der Dachkammer betreten, so kam Black auf ihn zu und liebkoste ihn so zärtlich wie noch nie.

Aber als der Chevalier die Hand ausstreckte, um ihm anzudeuten, was er zu tun habe, entfernte sich der Hund schnell und legte sich vor einem elenden Lager nieder, welches in der Dunkelheit undeutlich zu unterscheiden war.

Dieses Lager befand sich in einen« Winkel unter dem schrägen Dach, so dass es von dem durch ein schmales Fenster fallenden matten Licht nicht getroffen wurde.

Nichts regte sich in dieser Bodenkammer.

»Ist Jemand hier?« fragte der Chevalier,

Niemand antwortete, aber Black stand auf und drängte sich wieder an ihn.

In diesem Augenblicke machte Dieudonné die Bemerkung, dass die Luft mit einem scharfen durchdringenden Geruch angefüllt war. Er wurde wieder furchtsam, und wollte sich eilends entfernen. Er rief Black.

Der Hund begann wieder kläglich zu heulen und kroch unter das Bett.

Der Chevalier konnte sich nicht entschließen, Black zu verlassen. Er suchte Licht.

Ein chemisches Feuerzeug fiel ihm in die Hände.

In einem Augenblicke hatte er Feuer. Er zündete eine Lampe an, die er auf einem Stuhle bemerkte, und trat auf das Bett zu.

Auf diesem Bett sah er zu seinem Schrecken eine regungslose weibliche Gestalt. Das Gesicht des jungen Mädchens war aschgrau, die Lippen blau, ein starker Schweiß hatte das Haar an die Schläfen geklebt, die Zähne waren fest zusammengepresst, der ganze Körper schien schon kalt und starr. dass die Seele diesen dem Tode verfallenen Leib noch nicht verlassen hatte, bemerkte man nur an der zuckenden Bewegung ihrer bläulichen Augenlider und den matten Atemzügen, die aus dem durch den Schmerz verzerrten Munde drangen.

Wie entstellt die Sterbende auch war, so erkannte der Chevalier doch das junge Mädchen, das er im vorigen Herbste an einem Sonntage verfolgt, dem er Black geraubt hatte.

Er redete sie an, aber sie war zu schwach, um ihm zu antworten.

Sie verstand ihn jedoch, denn sie schlug die Augenlider auf, starrte ihn an und streckte die Hand nach ihm aus.

Der Chevalier, zum tiefsten Mitleid gerührt, in welches sich einige Reue zu mengen begann, fasste ihre Hand.

Sie war eisig kalt.

»O mein Gott!« sagte er laut wie er gewöhnlich zu tun pflegte, »ich kann doch das arme Geschöpf nicht ohne Hilfe sterben lassen! Da ich einmal ohne Hut durch die Stadt gegangen bin, um Black einzuholen, so kann ich auch in demselben Zustande den Doktor Robert holen.«

Der Chevalier kannte Herrn Robert nicht, aber er wusste, dass dieser der beliebteste Arzt in Chartres war.

»Ich bin es ihr schuldig – Ja, ja, es ist meine Pflicht,« sagte Dieudonné im lauten Selbstgespräch.

Und während er sie betrachtete, bemerkte er wieder die auffallende Ähnlichkeit zwischen diesem jungen Mädchen und Mathilden.

Er ließ die Todkranke unter der Obhut des treuen Black und stieg die Leiter schneller hinunter, als er sie heraufgestiegen war, obgleich das Ersteigen derselben leichter war als das Hinabgehen.

Der Arzt war nicht zu Hause. Der Chevalier ließ die Adresse der Sterbenden mit den nötigen Nachweisungen zurück, um den Arzt in den Stand zu sehen, die Dachkammer ohne Führer zu finden. Dann eilte er in die Vorstadt La Grappe zurück.

Er fand die Dachstube in demselben Zustande, in welchem er sie vorher verlassen hatte. Black war auf das Bett gestiegen und hatte sich auf die Füße seiner jungen Herrin ge» legt, um sie zu erwärmen.

Dieudonné, durch das Beispiel des treuen Tieres angeeifert, raffte alle Kohlen und andere Brennstoffe, die er finden konnte, zusammen und versuchte Feuer in dem kleinen Ofen zu machen.

Wir müssen gestehen, dass der arme Chevalier bei diesem Geschäft mehr guten Willen als Geschicklichkeit zeigte. Er selbst erkannte seine Unbeholfenheit, und nur das Beispiel Blacks vermochte ihn zur Nacheiferung anzufeuern.

Aber er erfüllte diese Pflicht nicht ohne Murren. Seiner Gewohnheit gemäß sagte er, mit sich selbst redend:

»Warum ist der verwünschte Hund auch fortgelaufen? Was fehlte ihm denn bei mir? Er wurde gut gefüttert und schlief auf einem weichen Wolfsfell. Fürwahr eine sonderbare Grille, sich nach dieser abscheulichen Dachkammer zu sehnen! – Ach! ich hatte wohl Recht,« setzte er seufzend hinzu, keinem lebenden Wesen meine Zuneigung zu schenken! – Du dummes Tier!« sagte er und sah Black mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an; »wir könnten jetzt ganz ruhig und vergnügt in unserem kleinen Garten lustwandeln; Du könntest Dich auf dem Rasen wälzen, und ich könnte Rosenstöcke beschneiden. – Die verwünschten Kohlen wollen nicht brennen! Wenn ich nur Jemand im Hause gefunden hätte so würde ich dieses junge Mädchen pflegen lassen. Das Geld würde mir diese Plage erspart haben; ich würde herzlich gern bezahlt haben, was man verlangt hätte. Es wäre aufs Gleiche hinausgekommen.«

»Nein, Chevalier,« sagte eine Stimme; »es wäre nicht aufs Gleiche hinausgekommen. Sie werden es sehen, wenn wir das Glück haben, die Kranke zu retten.«

»Ah! sind Sie es, Herr Doktor?« sagte Dieudonné, der sich etwas erschrocken umsah und das ernste, wohlwollende Gesicht des Arztes erkannte. »Ich kann es Ihnen wohl gestehen: es wird mir übel, wenn ich Kranke sehe, ich fürchte die Krankheiten.«

»Ihr Verdienst und Selbstbewusstsein wird um so größer sein,« erwiderte der Arzt. »Überdies gewöhnt man sich an Alles; wenn Sie erst ein Dutzend solcher Patienten wie diese behandelt hätten, würden Sie keinen andern Stand wünschen. – Aber wo ist denn die Kranke?«

»Hier,«, sagte der Chevalier auf das Bett deutend.

Der Doktor trat ans Bett; Black richtete sich auf und fing an zu bellen, als er den unbekannten Mann näher treten sah.

»Still, Black!« sagte der Chevalier, indem er den Hund durch Liebkosungen zu beruhigen suchte.

Der Doktor nahm die Lampe und hielt sie vor das Gesicht der Kranken.

»Aha! ich dachte es wohl,« sagte er; »aber ich hielt den Fall nicht für so bedenklich.«

»Was ist es denn?« fragte der Chevalier.

»Die Cholera, die wirkliche asiatische Cholera.«

Der Chevalier eilte auf die Leiter zu. Aber ehe er die Luke erreichte, schwanden seine Kräfte und er fiel auf einen Schemel.

»Was fehlt Ihnen denn, Chevalier?« fragte der Arzt.

»Die Cholera!« stammelte Dieudonné, der kaum Atem schöpfen konnte. »Die Cholera ist ansteckend!«

»Einige halten sie für endemisch, Andere für ansteckend; wir sind darüber noch nicht ganz im Klaren.«

»Was meinen Sie denn?« fragte Dieudonné!

»Ich halte sie für ansteckend.« antwortete der Doktor; »doch für jetzt haben Wir uns damit nicht zu beschäftigen.«

»Wie! wir haben uns damit nicht zu beschäftigen? Ich versichere, dass ich an nichts Anderes denke.«

Der Chevalier war in der Tat leichenblass: dicke Schweißtropfen rannen von seiner Stirn, seine Zähne klapperten.

»Was sehe ich?« sagte der Doktor erstaunt. »Sie haben an Orten, wo das gelbe Fieber ausgebrochen war, so viel Mut bewiesen, und fürchten sich vor der Cholera!«

»Das gelbe Fieber!« stammelte Dieudonné. »Woher wissen Sie, dass ich dem gelben Fieber mutig trotz geboten?«

»Ich war ja selbst Augenzeuge,« erwiderte der Doktor.

»Wann?« fragte der Chevalier bestürzt.

»Als Sie Ihren Freund, den Kapitän Dumesnil zu Papeite pflegten«.

»Sie waren da?« unterbrach ihn der Chevalier sehr erstaunt.

»Ich sehe wohl,« erwiderte der Doktor, »Sie erkennen den jungen Schiffsarzt von der Corvette »Dauphin« nicht wieder. Ich war damals sechsundzwanzig Jahre alt, jetzt bin ich einundvierzig. In vierzehn bis fünfzehn Jahren verändert sich der Mensch sehr stark; auch Sie, Chevalier, haben an Umfang zugenommen.«

»Wirklich! Sie sind’s, Doktor?« sagte der Chevalier.

»Ja, ich bin’s. Ich habe den Seedienst verlassen und habe mich in Chartres niedergelassen. Zwei Berge kommen einander nicht nahe, aber zwei Menschen finden sich gar oft wieder zusammen. So begegnen wir uns an dem Bett einer andern Kranken, die nicht viel mehr Hoffnung gibt, als der arme Kapitän Dumesnil.«

»Aber die Cholera, Doktor – die Cholera!«

»Ist eine Cousine des gelben Fiebers, der schwarzen Pest, des Vomito negro. Fürchten Sie sich vor der Cholera so wenig wie Sie sich vor dem gelben Fieber gefürchtet haben; alle diese Seuchen gehören zur Familie der tollen Hunde, welche nur die Davonlaufenden beißen. – Fassen Sie Mut, Chevalier! Das rote Band in Ihrem Knopfloch beweist, dass Sie im Feuer gewesen sind. Denken Sie zurück an Ihre schone Jugendzeit, und rücken Sie der Cholera entgegen, wie Sie einst den feindlichen Batterien entgegen rückten!«

»Glauben Sie nicht,« stammelte der alte Soldat, »dass wir uns einer ganz unnützen Gefahr aussetzen? Haben wir noch einige Hoffnung, dieses arme Mädchen zu retten?«

Der Chevalier, dessen Eigenliebe gereizt war, begann in der Mehrzahl zu sprechen.

»Ich gestehe, dass ich wenig Hoffnung habe,« erwiderte der Doktor; »die Kranke ist schon in das Stadium der Erstarrung getreten; die Nägel sind blau, die Augen sinken ein, die Hände und Füße sind kalt. Ich wette, dass die Zunge schon erstarrt ist. Aber sie lebt, der Tod muss bekämpft werden. Sie wissen, dass ich gewohnt bin, mich gegen ihn zu wehren, so lange es noch geht. – Doch wir haben schon zu viel Zeit verloren, wir müssen Hand ans Werk legen.«

Der Chevalier war in seinem Schrecken über die Cholera anfangs kaum im Stande, dem Arzt behilflich zu sein. Zum Glück führte der Doktor während der Cholera-Epidemie beständig Äther und Veratrum bei sich, die beiden Mittel, die er vorzugsweise gegen die Seuche anwandte. Der arme Dieudonné ging in der Dachkammer auf und ab, als ob er den Verstand verloren hätte; nach und nach aber verminderte sich seine Furcht, als er sah, mit welcher Ruhe und Fassung der Arzt die Kranke berührte und ihre Atemzüge belauschte.

 

Seine Zuneigung zu dem Hunde hatte die Selbstsucht, mit der er sein Herz gepanzert, schon größtenteils gebrochen; seine Ehre, die auf dem Spiele stand, und zumal sein Mitleid für die Leiden der Kranken trugen am Ende vollends den Sieg davon.

Er trat ebenfalls an das Lager der Sterbenden und war dem Doktor behilflich, einige aus der Mauer gebrochene und eilends gewärmte Ziegelsteine um den kalten, starren Körper des Mädchens zu legen.

Black schien den Zweck dieser Vorkehrungen zu begreifen, denn er sprang vom Bett, um den beiden Männern freie Hand zu lassen, und leckte dem Chevalier die Hände.

Dieses Zeichen der Dankbarkeit rührte Dieudonné tief, seine Seelenwanderdungsgedanken kamen wieder, und er sagte mit Begeisterung:

»sei nur unbesorgt, armer Dumesnil, wir werden sie retten.«

Der Doktor war mit der Kranken zu eifrig beschäftigt, als dass er den sonderbaren Worten, welche der Chevalier an den schwarzen Hund richtete, große Aufmerksamkeit hätte widmen mögen; er verstand nur den allgemeinen Sinn.

»Ja wohl, Chevalier,« sagte er, »wir wollen das Beste hoffen – die Hände und Füße werden warm – aber wenn sie davonkommt, verdankt sie es Ihnen.«

´

»Wirklich?« sagte der Chevalier erfreut.

»Allerdings. Aber Sie müssen Ihr Werk nicht unvollendet lassen; entschuldigen Sie, Chevalier, dass ich Sie in die Apotheke schicke.«

»Verfügen Sie über mich.«

»Sie werden einsehen, dass meine Gegenwart hier nötig ist.«

Der Doktor schrieb einige Zeilen mit Bleistift in sein Taschenbuch, riss ein Blatt heraus und reichte es dem Chevalier.

»Eilen Sie in die Apotheke und holen Sie die in diesem Rezept benannte Arznei.«

»Ich will Alles tun, was Sie wollen, Doktor; wenn sie nur gerettet wird!« sagte der Chevalier entschlossen und eilte davon.

In zehn Minuten kam er mit der Arznei zurück. Die heitere Miene des Doktors vergalt ihm seine Mühe reichlich.

»Es geht also besser?« sagte der Chevalier und trat an das Bett, um die Kranke genau zu betrachten, deren Gesicht wirklich etwas von seiner Leichenfarbe verloren hatte.

»Ja, Chevalier, es geht besser,« antwortete der Doktor, »und mit Gottes Hilfe hoffe ich, dass der Patient in drei Monaten eines pausbäckigen Knäbleins genesen wird, das Ihnen so ähnlich sein wird wie ein Wassertropfen dem andern.«

»Mir! mir! ein Kind, das mir ähnlich?«

»O! Sie sind ein Tausendsassa, Chevalier. Die schöne Mahauni hat in Papeite aus der Schule geschwatzt.«

»Ich schwöre Ihnen, Doktor —«

»Machen Sie bei mir nicht den Geheimniskrämer, Chevalier. Früher oder später müssen Sie mir es ja ohnehin sagen. Es ist ja mein Beruf, dem Menschen den Eintritt ins Leben zu erleichtern, so wie ich ihm beim Austritt aus demselben zu Hilfe komme.«

»Aber wie können Sie denken —«

»Dieser Ring lässt keinen Zweifel zu,« sagte der Doktor, indem er von dem Finger der Kranken einen Verlobungsring zog und dem Chevalier überreichte. »Die Neugier trieb mich, ihn während Ihrer Abwesenheit zu untersuchen. Leugnen Sie daher nicht länger, lieber Herr; Ihr Geheimnis ist in guten Händen: ein Arzt muss verschwiegener sein als ein Beichtvater.«

Der Chevalier glaubte zu träumen. Er nahm den Ring, schob den Nagel seines Daumens in eine Fuge; der Ring tat sich auf und Dieudonné las:

»Dieudonné de la Graverie – Mathilde von Florsheim.«

Er war so heftig erschüttert, dass er schluchzend auf die Knie fiel und betete.