Buch lesen: «Baiern und Romanen»
Albrecht Greule / Peter Wiesinger
Baiern und Romanen
Zum Verhältnis der frühmittelalterlichen Ethnien aus der Sicht der Namenforschung
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ISBN 978-3-7720-8659-5 (Print)
ISBN 978-3-7720-0212-0 (ePub)
Inhalt
Vorwort
A. Probleme um Baiern und Romanen im frühmittelalterlichen Donau- und Voralpenraum zwischen Lech und Enns1. Die Baiern der Frühzeit und ihre Erforschung1.1. Der Name der Baiern1.2. Theorien zur Herkunft der Baiern vom 19. bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts1.3. Die Herkunft der Baiern nach dem Forschungsstand der 1980er Jahre1.4. Die Stellung des Bairischen innerhalb der germanischen Sprachen1.5. Herkunft und Identitätsbildung der Baiern in neuer Sicht1.6. Zusammenfassung des neueren Forschungsstandes2. Die Integrierung antik-romanischer Gewässer- und Siedlungsnamen ins Bairisch-Althochdeutsche2.1. Allgemeine linguistische Voraussetzungen2.2. Die Bedeutung der Dialektaussprachen von Namen und die bairischen Dialekte2.3. Die Namenschichten im bairischen Dialektraum2.4. Vulgärlateinische und romanische Lautentwicklungen2.5. Germanische, bairisch-althochdeutsche und bairisch-frühmittelhochdeutsche Lautentwicklungen3. Die romanisch-deutschen Mischnamen und weitere auf Romanen Bezug nehmende deutsche Siedlungsnamen3.1. Die romanisch-deutschen Mischnamen3.2. Die Walchen-Namen3.3. Die Parschalken-Namen4. Die Integrierung der antik-romanischen Gewässer- und Siedlungsnamen im Donau- und Voralpenraum4.1. Allgemeine Überlegungen4.2. Methodisches4.3. Zum anfänglichen Siedlungsraum im Donau- und Voralpenraum4.4. Germanen und Romanen im bayerischen Nordwesten um Altmühl und Donau4.5. Baiern und Romanen in der bayerischen Mitte um Freising4.6. Baiern und Romanen im Salzburger Raum4.7. Baiern und Romanen im südlichen Oberbayern5. Baiern und Romanen – ein abschließendes Essay
B. Antik-romanische Namentraditionen im Donau- und Voralpenraum zwischen Lech und Enns
1. Die tradierten antik-romanischen Gewässernamen (Karte 1) 1.1. Bayern (Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz) 1.2. Oberösterreich 1.3. Salzburg (Stadt, Flachgau und Tennengau) (Karte 3)
2. Die tradierten antik-romanischen Siedlungsnamen (Karte 2)2.1. Bayern (Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz)2.2. Oberösterreich2.2.1. Siedlungsnamen2.2.2. Waldname2.3. Salzburg (Stadt, Flachgau, Tennengau) (Karte 3)2.3.1. Siedlungsnamen2.3.2. Alm-, Berg- und Flurnamen
3. Romanisch-deutsche Mischnamen (Karte 4)3.1. Bayern (Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz)3.2. Oberösterreich3.3. Salzburg (Stadt, Flachgau)
4. Walchen-Namen (Karte 5)4.1. Bayern (Oberbayern)4.2. Oberösterreich4.3. Salzburg (Stadt, Flachgau)
5. Parschalken-Namen (Karte 5) 5.1. Bayern (Oberbayern, Niederbayern) 5.2. Oberösterreich
C. Auszuscheidende angeblich antik-romanische Gewässernamen und romanisch-deutsche Mischnamen in Altbayern
D. Karten
E. Verzeichnisse
2. Literatur
Vorwort
Seit 15 Jahren werden die seit dem Frühmittelalter Deutsch redenden Baiern von den Archäologen zu Romanen erklärt. Als Beweis dafür dienen ihnen die aus der Spätantike ins Frühmittelalter tradierten und ins Bairisch-Althochdeutsche jener Zeit integrierten wenigen Gewässer- und Siedlungsnamen sowie deutsch gebildete romanisch-deutsche Mischnamen mit einem romanischen oder biblischen Personennamen und einem deutschen Grundwort. Ferner werden zum Beweis die wenigen deutschen, auf Romanen verweisenden Walchen-Namen und die aus einer bestimmten romanischen Rechtsordnung kommenden deutschen Parschalken-Namen herangezogen. In Bezug auf Herkunft, Bildung, Bedeutung und Lautentwicklung lassen sich jedoch besonders aus der Sicht der germanistischen Sprachwissenschaft, die sowohl die deutschen und die ins Deutsche integrierten fremdsprachigen Gewässer- und Siedlungsnamen erforscht als auch die Herkunft, Struktur und Entwicklung der deutschen Sprache und hier besonders des Bairischen untersucht, solche merkwürdigen Anschauungen in keinerlei Weise bestätigen. Ebenso wenig hält eine versuchte Herleitung des Namens der Baiern aus dem Lateinischen sprachwissenschaftlicher Prüfung stand.
Es ist daher die Aufgabe der germanistischen Sprachwissenschaft und Namenkunde, das aus der Spätantike aus dem Lateinischen und seiner Weiterentwicklung zum Romanischen stammende Namengut im bairischen Sprachraum, der von 13 v.Chr. bis 476 n.Chr. die Provinzen Raetia secunda und Noricum des römischen Weltreiches bildete, zusammenzustellen und mit den angemessenen sprachwissenschaftlichen Methoden kritisch zu untersuchen. Das geschieht vor allem im Hinblick auf die Zeit, wann die einzelnen Gewässer- und Siedlungsnamen in das Bairisch-Althochdeutsche vom 6. bis zur Mitte des 11. Jhs. und inselhaft auch noch in das sich anschließende Bairisch-Frühmittelhochdeutsche der 1. Hälfte des 12. Jhs. eingegliedert wurden. Daraus lässt sich schließen, wie lange an den betreffenden Orten das Romanische ungefähr weiterlebte, ehe es schließlich ganz dem Deutschen wich.
Da das Bairische nicht auf Altbayern mit Ober- und Niederbayern und der Oberpfalz beschränkt ist, sondern auch in Österreich von Tirol im Westen bis ins Burgenland im Osten sowie in Südtirol in Italien gesprochen wird und bis 1945/46 auch noch in der damaligen Tschechoslowakei das Egerland sowie Südböhmen und Südmähren einschloss, wird in der Wissenschaft dieser staatenübergreifende sprachliche Großraum Baiern mit ai geschrieben und so auch hier. Der anfängliche Siedlungs- und Sprachraum der Baiern im Frühmittelalter beschränkte sich aber auf das Donau- und Voralpenland zwischen dem Lech im Westen und der Enns im Osten und reichte bis zur Südgrenze Bayerns als natürlicher Grenze am Alpenrand und schloss noch den Salzburger Flachgau mit Inseln im südlich anschließenden Salzachtal bis zum Paß Lueg ein. Wir beschränken unsere Untersuchung daher auf diesen anfänglichen bairischen Siedlungsraum. Obwohl die Baiern von ihren Anfängen in der 2. Hälfte des 6. Jhs. an auch bis ins Tiroler Pustertal vorstießen, steht ihr dortiges frühes inselhaftes Auftreten hier nicht zur Debatte.
Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk der germanistischen Sprachwissenschaftler und Namenforscher Albrecht Greule, Universität Regensburg, und Peter Wiesinger, Universität Wien. Die von den beiden Autoren jeweils verfassten und gekennzeichneten Kapitel wurden zwar wechselseitig gelesen, diskutiert und abgestimmt, doch verantwortet jeder Autor seinen Beitrag. Besonders zu danken haben wir dem Verleger, Herrn Dr. Gunter Narr, der sich spontan bereit erklärt hat, das Buch in sein Verlagsprogramm aufzunehmen, als er von dessen Entstehung erfahren hat. Ebenso gilt unser Dank Frau Dr. Valeska Lembke für die sorgfältige editorische Betreuung. Verschiedene Auskünfte zu einzelnen Siedlungsnamen und Orten verdanken wir Johann Auer, Dünzling; Josef Egginger, Winhöring; und Johann Schober, Adelkofen. Vor allem aber danken wir für zahlreiche urkundliche Siedlungsnamenbelege und Auskünfte Dr. Wolfgang Janka, Kommission für Bayerische Landesgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Unser aufrichtiger Dank gilt ferner Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Metzelton, Wien, der sich, als er vom Buch hörte, spontan bereit erklärte, es aus romanistischer Sicht zu lesen, und uns entsprechende, auch berücksichtigte Hinweise gab. Technische Hilfe verdanken wir Dipl. Ing. Dr. Michael Wiesinger, Graz. Die Zeichnung der Karten 1–5 besorgte im kartographischen Standard nach den Entwürfen beider Autoren Mag. Michael Schefbäck, Wien, dem wir nicht nur für die mustergültige Ausführung, sondern auch für viel Geduld herzlich danken.
Möge das Buch viele interessierte Leser erreichen und den Baiern beider beteiligten Länder vermitteln, wie die germanistische sprachwissenschaftliche und namenkundliche Fachwelt das wenige ins Deutsche übernommene antik-romanische Namenerbe beurteilt und interpretiert.
Regensburg und Wien, Albrecht Greule
im Dezember 2018 Peter Wiesinger
A. Probleme um Baiern und Romanen im frühmittelalterlichen Donau- und Voralpenraum zwischen Lech und Enns
Von Peter Wiesinger
1. Die Baiern der Frühzeit und ihre Erforschung
1.1. Der Name der Baiern
Im Gegensatz zu den Namen germanischer Stämme, die später zu Deutschen wurden, wie der Alemannen, Franken, Hessen, Thüringer und Sachsen, die bereits den Römern bekannt waren und in ihrem Schrifttum seit dem 1. Jh. n.Chr. überliefert sind, tritt der Name der Baiern1 erst zwei Generationen nach dem Untergang des römischen Weltreiches erstmals 551 in der Gotengeschichte „De origine actibusque Getarum“ des Jordanes auf. Da das Werk des Jordanes auf der verlorenen Gotengeschichte des Cassiodor basiert, der Kanzler des Gotenkönigs Theoderich (475-526) war, wird bereits dort um 525 die Nennung erfolgt sein. Obwohl Jordanes eine Kriegssituation von Theoderichs Vater Theudimir in Pannonien von 469/70 beschreibt, schildert er jedoch das Lageverhältnis der Stämme, wie es zu seiner Zeit im heutigen deutschen Süden und in der Mitte bestand. So heißt es (280, 9ff.)2:
Nam regio illa Suavorum ab oriente Baiovaros habet, ab occidente Francos, a meridie Burgundiones, a septemtrione Thoringos.
Jenes Land der Suawen hat nämlich im Osten die Baiowaren, im Westen die Franken, im Süden die Burgundionen, im Norden die Thüringer zu Nachbarn.
Da das Werk des Jordanes erst in Handschriften des 8.–12. Jhs. überliefert ist, schwanken die lateinischen Nennungen des Baiernnamens als Baibari, Baiobari, Baiovari, Baioarii, von denen Baiovari der zugrundeliegenden germanischen Namenform am nächsten kommt.
Erst eineinhalb Jahrzehnte nach Jordanes erfolgt 565 die nächste Nennung der Baiern. Sie bringt der Dichter und spätere Bischof von Poitiers Venantius Fortunatus in dem um 576 verfassten Vorwort zur Edition seiner Gedichte. Er brach im Spätsommer 565 von Ravenna aus über die Alpen zu einer Wallfahrt zum Grab des hl. Martin nach Tours in Gallien (Frankreich) auf und schreibt dazu (Pr. 4)3:
praesertim quod ego impos de Ravenna progrediens Padum, Atesim, Brintam, Plavem, Liquentiam Teliamentumque tranans, per Alpem Iuliam pendulus montanis anfractibus, Drauum Norico, Oenum Breonis, Liccam Baiuaria, Danuuium Alamania, Rhenum Germania transiens
zumal ich Dilettant, von Ravenna aufbrechend, den Po, die Etsch, die Brenta, den Piave, die Livenza und den Tagliamento durchschwamm, durch die Julischen Alpen auf schwankendem Steg, die Drau in Noricum, den Inn bei den Breonen, den Lech in Baiern, die Donau in Alemannien, den Rhein in Germanien durchschritt.
Als Variante zum Ländernamen Baiuaria (lies Baiwaria) ist auch Bauuaria (lies Bawaria) überliefert.
Im 4. Buch seines 575/76 gedichteten Versepos „De virtutibus Martini Turonensis“, der Vita des hl. Martin von Tours, nennt Venantius Fortunatus dann die umgekehrte Abfolge der Reiseroute (IV, 640ff.) mit dem Volksnamen:
Si tibi barbaricos conceditur ire per amnes,
Ut placide Rhenum transcendere passis et Histrum,
Pergis ad Augustam, quam Virdo et Licca fluentant.
Illic ossa sacrae venerabere martyris Afrae.
Si vacat ire viam, necque te Boioarius obstat,
Qua vicina sedent Breonium loca, perge per Alpem,
Ingrediens rapido qua gurgite volvitur Oenus.
Wenn du die Möglichkeit hast, die barbarischen Ströme zu queren,
also den Rhein und die Donau in Ruhe durchschreiten zu können,
machst du nach Augsburg dich auf, wo Wertach und Lech sich ergießen.
Dort verehr die Gebein der heiligen Blutzeugin Afra.
Steht es dir frei, von da weiterzuziehen, und stört dich kein Baier,
geh durch die Alpen, wo nah die Orte des Breonenstammes liegen.
und betritt sie, wo der Inn sich mit reißendem Gischt wälzt.
Der in lateinischen Varianten überlieferte Name der Baiern, im Nominativ Singular in antiker Tradition Boioarius bei Venantius Fortunatus und im Nominativ Plural variabel überliefert als Baibari, Baiobari, Baiovari, Baioarii bei Jordanes, basiert in der Zeit um 500 westgermanisch auf dem Singular *Baiawari aus (ur)germ. *Baiowarjaz und dem Plural *Baiawarja aus (ur)germ. *Baiowarjōz. Die gotischen Entsprechungen dieser Zeit wären *Baiawarjis und *Baiawarjōs.4 Es ist ein Determinativkompositum, dessen Grundwort sich zum Verbum (ur)germ. *warjan in got. warjan, altnord. verja; altsächs. und altengl. werian und ahd. wer(r)en in der Bedeutung ‚wehren, schützen, abhalten, verteidigen‘ stellt und als entsprechendes Substantiv (ur)germ. *warjaz in got. wair, altnord. ver; altsächs., altengl. und ahd. wer ‚Mann‘ lautet. Sein eigentlicher Sinn ist ‚Wehrmann, Schützer, Verteidiger‘, der Land und Leute vor Feinden schützt und Angreifer abwehrt. Das Bestimmungswort geht auf den Namen der keltischen Boier zurück, deren Siedlungsgebiet um Chr. Geb. Boiohaemum war, das 29/30 n.Chr. Velleius Paterculus in seiner „Römischen Geschichte“ (2, 109) festhält. 98 n.Chr. nennt Tacitus in seiner „Germania“ das Land dann Boihaemum (XXVIII Genitiv Boihaemi nomen). Der Name ist germanischer Herkunft und basiert auf germ. *Bai(o)haima, wobei sich der germanische Lautwandel von älterem o zu gemeingermanischem a um Chr. Geb. vollzog. Dabei ging betontes o einem unbetontem o voraus, das bald synkopiert wurde, was die beiden ältesten Überlieferungen spiegeln. Dieser Gebietsname lebt in Böhmen weiter, das bair.-mhd. Pēheim heißt und die ahd. Monophthongierung von germ. ai zu frühahd. ē vor h des 7./8. Jhs. aufweist. Dagegen ist im Stammesnamen der Diphthong bewahrt, so dass ihm kein ebenfalls Monophthongierung auslösendes w unmittelbar gefolgt sein kann. Es war vielmehr, wie die bei Jordanes überlieferten Varianten zeigen, mit dem Bindevokal -o- verschmolzen, so dass *Baioar entstand, dass dann im 8. Jh. der Lautverschiebung von B- zu P- unterlag und bair.-ahd. Peiar, Plural Peiara und abgeschwächt Peier, Peigir ergab. Insgesamt bedeutet der Baiernname also unmittelbar ‚Wehrmänner von/aus Baia‘, was immer unter Baia zu verstehen ist. Doch wird ihm in Verbindung mit Boiohaemum als angenommene Klammerform *Bai(o)[haim]warjōz kurzerhand die Bedeutung „Männer aus Böhmen“ beigelegt. Wenn auch jüngere lateinische Nennungen am o von Boi- festhalten, so handelt es sich um Schreibtradition des festverwurzelten Namens des keltischen Stammes, der den Römern als Eindringlingen in ihr Land seit dem 3. Jh. v.Chr. bekannt war. So heißt es z.B. nach Aussage des gegen 645 entstandenen 2. Teiles der „Vita Columbani“ des Jonas von Bobbio, als Eustasius († 618) sein Missionswerk bei den Baiern beginnen wollte, er zog ad Boias, qui nunc Baioarii vocantur (II, 8). So nennt die Baiern auch die frühestens Ende des 6. Jhs. entstandene Fränkische Völkertafel.
1.2. Theorien zur Herkunft der Baiern vom 19. bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts
Als der Sprachwissenschaftler und insbesondere Keltologe Kaspar Zeuß 1837 in seinem Buch „Die Deutschen und die Nachbarstämme“ erstmals den Namen der Baiern nach den Lautgesetzen der germanischen Sprachen richtig etymologisiert hatte,1 was bis heute linguistisch gegen so manche anderen Versuche allein zutreffend ist, stand für ihn fest, dass der Name der keltischen Boier auf die ihnen nachfolgenden Germanen übertragen worden ist und dass die Baiern aus Böhmen in ihre neuen Wohnsitze zu beiden Seiten der Donau eingewandert sind. In seinem folgenden Buch von 1839 „Die Herkunft der Baiern von den Markomannen gegen bisherige Mutmaßungen bewiesen“ wollte Zeuß gegenüber herrschenden anderen Meinungen seiner Zeit nachweisen, dass es die im böhmischen Becken siedelnden Markomannen waren, die um 500 nach Südwesten abzogen und in ihrem neuen Gebiet zu Baiern wurden. Damit war die sogenannte „Markomannentheorie“ geboren. Sie erwies sich allerdings, wie jüngere Forschungen zeigten, historisch als unhaltbar, denn die Markomannen waren um 80 n.Chr. den Quaden nach Südosten gefolgt und siedelten im 2. Jh. im heutigen Südmähren und nördlichen Niederösterreich, ehe sie 396 als römische Föderaten in Pannonien Wohnsitze erhielten und dann im 5. Jh. aus der Geschichte verschwanden. Aus der „Markomannentheorie“ aber entwickelte sich die sogenannte „Einwanderungs-“ oder „Landnahmetheorie“, die mit einem germanischen Einwanderungsstrom in ein so gut wie siedlungsleeres Land nach dem Abzug der romanischen Bevölkerung rechnete. Sie lebte bis über die Mitte des 20. Jhs. fort, wobei ein Herkunftsgebiet Baia in unterschiedlichen Gegenden außerhalb Böhmens über Pannonien bis ans Schwarze Meer festzumachen versucht wurde.2 Diese Ansichten können hier aber übergangen werden, weil sie für den Forschungsstand der 1980er Jahre bedeutungslos geworden waren. Daneben aber bestand die nun modifizierte Ansicht einer Einwanderung von Elbgermanen aus Böhmen fort.
1.3. Die Herkunft der Baiern nach dem Forschungsstand der 1980er Jahre
Über die Frage der Ethnogenese der Baiern – der neue Terminus statt Stammesbildung – wurde in den 1980er Jahren von den beteiligten Disziplinen der germanistischen sprachwissenschaftlichen Namenkunde, der Archäologie und der Geschichtswissenschaft ein weitgehender Kompromiss erzielt. Die Ergebnisse wurden im Jubiläumsjahr 1988 in der großen Doppelausstellung des österreichischen Bundeslandes Salzburg und des Freistaates Bayern in Mattsee und Rosenheim „Die Bajuwaren“ mit dem auf den wesentlichen Zeitraum hinweisenden Untertitel „Von Severin bis Tassilo 488–788“ präsentiert und im Ausstellungskatalog zusammengefasst. Diese äußerst erfolgreiche Doppelausstellung sahen rund 270.000 Besucher, nicht weniger als 64.000 Kataloge wurden verkauft1 und die Medien Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen und Journale vermittelten einer breiten Öffentlichkeit die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Gegenüber verschiedenen, immer wieder aufkommenden, jedoch linguistisch unhaltbaren, weil die lautgesetzlichen Entwicklungen des Germanischen nicht beachtenden Erklärungen des Baiernnamens2 ging man weiterhin von der linguistisch einzig richtigen, oben dargelegten Erklärung des Baiernnamens aus und verband sie mit der Bedeutung „Männer aus Böhmen“. Aber gegenüber der älteren „Landnahmetheorie“ änderte sich die Auffassung über die Ethnogenese. So hatte der Erlanger germanistische Sprachwissenschaftler Ernst Schwarz 1969 in seiner Abhandlung „Die Naristenfrage in namenkundlicher Sicht“ gezeigt, dass im anfänglichen bairischen Raum von Ober- und Niederbayern, Salzburg und Oberösterreich eine größere Anzahl von Gewässernamen und eine geringere von Ortsnamen indogermanisch-voreinzelsprachlicher oder keltischer Herkunft auftritt. Im selben Sinn einer romanischen Namenkontinuität ließ Schwarz ein Jahr später die Studie „Baiern und Walchen“ folgen. Die Tradierung all dieser Namen von den Römern und Romanen zu den Baiern war nur dann möglich, wenn Siedlungskontinuität und damit der Fortbestand zumindest einer geringen romanischen Bevölkerung in die bairische Frühzeit gegeben war, worauf auch noch die auf Romanen Bezug nehmenden romanisch-deutschen Mischnamen mit einem romanischen Personennamen sowie die wenigen deutschen Walchen- und Parschalken-Namen hinweisen. Es können also nicht, wie es aus der Vita Severini hervorgeht, wegen ständiger barbarischer Überfälle und Bedrängnisse nach dem Tod des Mönches Severin († 482) 488 alle Romanen nach Italien abgezogen sein, sondern es muss eine romanische Restbevölkerung geblieben sein.
Zu ähnlichen und weitergehenden Auffassungen gelangte auch die Archäologie. Besonders aussagekräftig erwiesen sich hier die neu entdeckten, zum Teil kontinuierlichen, vom 4. bis 7. Jh. belegten Gräberfelder im Bereich des Donaulimes von Neuburg über Regensburg bis Passau, wobei die zahlreichen Gräberfelder in Straubing mit dem nördlich davon gelegenen Friedenhain besonders aufschlussreiches Material lieferten. Hier zeigte sich nicht nur, dass bereits zur Römerzeit seit dem 4. Jh. Germanen als Föderaten angesiedelt wurden, sondern es gelang auch der archäologische Nachweis einer Verbindung mit Böhmen, wie sie dem Baiernnamen schon lange beigelegt worden war. Bereits 1963 hatte der tschechische Archäologe Bedřich Svoboda in seiner Studie „Zum Verhältnis frühgeschichtlicher Funde des 4. und 5. Jhs. aus Bayern und Böhmen“ auf archäologische Fundzusammenhänge aufmerksam gemacht. Nun verwiesen besonders Rainer Christlein († 1983) und dann Thomas Fischer anhand von Funden im Altmühl- und Donauraum auf eine Feinkeramik vom Typus Přešt’ovice ‒ Friedenhain, benannt nach den Hauptfundorten Přešt’ovice bei Pisek in Südböhmen und Friedenhain bei Straubing.3 Dabei handelt es sich um handgeformte dünnwandige Essschalen mit einer charakteristischen Verzierung in Form von Schrägriefen und Dellen auf dem Umbruch. Auf diese Weise konnte die langjährige Annahme einer Einwanderung von „Männern aus Böhmen“ nun archäologisch erhärtet werden. Dass diese Leute zwar namengebend, aber nur ein Teil der an der bairischen Ethnogenese beteiligten weiteren germanischen Gruppen waren, zeigten Untersuchungen weiterer Gräberfelder, besonders jener von Altenerding und München-Aubing mit Bestattungen seit der 2. Hälfte des 5. Jhs. Dort folgen in der Zeit um 500 „Gräber von Leuten verschiedenster Herkunft: Alamannen, Ostgoten, Leute aus Mitteldeutschland bzw. Böhmen und Germanen von der mittleren Donau (Langobarden)“.4 Diese zugewanderten Menschen unterschiedlicher Herkunft verschmelzen mit der verbliebenen romanischen Restbevölkerung schließlich zum Neustamm der Baiern, so dass sich die bairische Ethnogenese bodenständig im Voralpenraum südlich der Donau vollzog. Wie man sich diese Amalgamierung vorstellen kann, illustrierten in der Ausstellung von Mattsee gezeigte drei Abbildungen als Kreise, die man allerdings dem Ausstellungskatalog nicht beifügte. Der 1. Kreis zeigte für die Raetia secunda und Noricum in der 1. Hälfte des 5. Jhs. eine provinzialrömische Bevölkerung aus Romanen und Germanen als Föderaten und als dicker eindringender Pfeil den Einzug von namengebenden „Männern aus Böhmen“. Der 2. Kreis für das späte 5. und frühe 6. Jh. vermittelte in Segmenten die verschiedenen, um diese Zeit zugewanderten germanischen Bevölkerungsgruppen. Es waren zu den ca. 5 % verbliebenen Romanen ca. 25 % Alemannen, ca. 25 % Ostgoten, ca. 25 % Langobarden, ca. 10 % ostgermanische Gepiden, Heruler und Rugier und ca. 10 % Thüringer. Im 3. Kreis für das spätere 6. Jh. waren dann diese verschiedenen Gruppen zum Neustamm der Baiern verschmolzen.
In der Geschichtswissenschaft bildeten sich 1985/86 zwei unterschiedliche Standpunke. So sah 1985 der Wiener Historiker Herwig Wolfram in spekulativer Weise das Aufkommen des Baiernstammes bereits zur Zeit der Herrschaft des Königs der Ostgoten Theoderich im 1. Viertel des 6. Jhs. in Italien.5 Theoderich war es gelungen, seine Herrschaft über die Alpen in die Raetia secunda und nach Noricum auszudehnen, und er versuchte, sich gegen die von Westen andrängenden expansiven Franken und gegen die Thüringer im Norden durch Verträge abzusichern. Dabei ging es um das von ihm übernommene Machtvakuum und in der Raetia secunda und in Noricum, wo sich seit 488 nach dem Teilabzug der Romanen eine germanische Bevölkerung angesiedelt hatte. Sie erhielt nun den Namen Baiern, der wahrscheinlich in der um 525 entstandenen, doch verlorenen Gotengeschichte von Theoderichs Kanzler Cassiodor erstmals festgehalten wurde, aus der ihn dann 551 Jordanes in seine „Getica“ übernahm. So erscheinen die Baiern als „Findelkinder der Völkerwanderung“ im Rahmen der Gebietssicherungen gegenüber den nördlichen Thüringern, mit denen Theoderich 510 in engen Kontakt trat, indem er zu deren Bindung an ihn dem Thüringerkönig Hermanafrid seine Nichte Amalaberga zur Frau gab.6
Dagegen vertrat der Gießener Historiker Jörg Jarnut 1986 in seiner Studie „Die Agilolfinger und die Ethnogenese der Bayern“ einen positivistischen Standpunkt. Er geht davon aus, dass nach dem Tod Theodrichs 526 schon unter seiner Nachfolgerin Amalasvintha und erst recht nach ihrem Tod 535 die Gotenherrschaft zu schwächeln begann, so dass die expansive Politik der fränkischen Merowinger, die Theoderich noch einzudämmen verstand, neuerlich einsetzte. So gelang es ihnen, 531 das Reich der Thüringer zu stürzen und dann der Raetia secunda den ihnen nahestehenden Agilolfinger Garibald als Herzog aufzuzwingen. Obwohl Garibald erst um 555 bezeugt ist, sprechen Indizien bereits für einen viel früheren Beginn seiner Regentschaft. Das aber führte nicht nur zu einer Stammeswerdung der Baiern und Bildung eines eigenen Stammesherzogtums, sondern auch zum Aufgreifen des in den eigenen Reihen vorhandenen Namens. So korrespondieren zeitlich die Entstehung des Herzogtums und die Erstüberlieferung des Stammesnamens.
Durch das Zusammenwirken von Namenforschung, Archäologie und Geschichtswissenschaft wurde also in den 1980er Jahren eine schlüssige Erklärung der bairischen Stammesbildung und Frühgeschichte bis ins 6. Jh. erzielt. Diese Forschungsergebnisse hatten rund zwei Jahrzehnte Bestand.