Ein Tag im Leben eines Berliner Gemeindeschülers

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Ein Tag im Leben eines Berliner Gemeindeschülers
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Albrecht Decke-Cornill/Ulrich H. Schneider

Ein Tag im Leben eines Berliner Gemeindeschülers

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein Tag im Leben eines Berliner Gemeindeschülers

Impressum neobooks

Ein Tag im Leben eines Berliner Gemeindeschülers

Wir befinden uns im Jahre 1902. Karl ist acht Jahre alt. Früh am Morgen hatte er sich aus dem Bett gewälzt, das er mit seinem größeren Bruder teilen musste und auf das schon ein Schlafbursche, der um 7 Uhr von der Schicht kam, wartete. Nachdem er etwas Brot mit Zichorienbrühe verdrückt hatte, eine Art von Kaffee-Ersatz, war er zu einer Niederlassung der Meierei Bolle gegangen, um ein paar Pfennige mit Milch- und Brötchenaustragen zu verdienen. Nicht mehr ganz frisch befindet sich Karl nun, wie über 200000 Kinder der Reichshauptstadt Berlin, auf dem Weg zu einer der 258 Gemeindeschulen, wo er die dritte Klasse besucht. Seine Erscheinung muss man wohl schäbig nennen. Die meisten Kinder hier im Norden der Stadt, wo Karl mit seinen vier Geschwistern und seinen Eltern in einer Zweizimmerwohnung ohne Komfort lebt (für 29 Mark Miete im Monat, während sein Vater 82 Mark verdient), kommen aus ärmlichen Verhältnissen. Mit seinem fast kahlgeschorenen Kopf, seinen knielangen, hinten mehrfach ausgebesserten Hosen, die von breiten Trägern gehalten werden, seinem gestreiften Hemd mit abgestoßenem Kragen, seinem zu kleinen, dünnen Stoffjäckchen und den abgetretenen Schnürstiefeln unterscheidet er sich nicht von den anderen Knaben. Trotz seiner Wollstrümpfe fröstelt Karl an diesem feuchtkalten Morgen. Unterwegs trifft er andere Schuljungen, so seinen Freund Paul, der mit seinen zehn Jahren bereits zwei Klassen wiederholen musste, aber auch bezopfte Mädchen in ihren Kittelschürzen.

Karls Schule ist eine jener kasernenartigen Backsteinbauten, wie man sie seit den 70er Jahren im Einheitsstil errichtet hat, um mit der sprunghaft wachsenden Zahl schulpflichtiger Kinder Schritt zu halten. Das Gebäude steht auf einem Hinterhof und beherbergt eine Schule für Jungen und eine für Mädchen, denn die Geschlechtertrennung wird streng eingehalten.

Diese Gemeindeschulen stehen jetzt kostenlos allen Bevölkerungsschichten offen. Man meint, es könne sich nur günstig auswirken, wenn alle Kinder – ob arm oder reich – die gleiche Schulbank drücken und nach denselben Grundsätzen erzogen werden. Denn gerade der Volksschule ist seit jeher nicht nur der Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern vor allem die Charakterbildung anvertraut. Die Schüler sollen als gottesfürchtige und vaterlandsliebende, königs- und kaisertreue Untertanen die Schule verlassen, gehorsam, arbeitsam, wehrhaft. Natürlich besuchen die Kinder bessergestellter Eltern die schulgeldpflichtigen Vorklassen der höheren Schulen.

Am mürrisch blickenden Hausmeister, der im Erdgeschoß des Schulhauses wohnt, rennt Karl vorbei auf den Schulhof, wo man sich klassenweise sammelt und in Zweierreihen Aufstellung nimmt. Mit dem Klingelzeichen um 8 Uhr tritt der Klassenlehrer, Herr Gransow, aus dem Schulgebäude, mustert kritisch seine Schülerschar und führt sie durch das weiträumige Treppenhaus in das Klassenzimmer im ersten Stock.

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