Amerikanische Satiren

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AMERIKANISCHE VERKEHRSORDNUNG

Autofahrer in Europa würden diese amerikanische Verkehrsregelung schätzen und darauf pochen, dass sie auch bei ihnen eingeführt werden sollte. In Europa ist alles so furchtbar hierarchisch geordnet, mit Vorfahrtsstraße und Nebenstraße. Die einen haben halt Vorfahrt, die anderen müssen warten. Wenn kein Schild zu sehen ist, gilt einfach, dass derjenige, der von rechts kommt, zuerst fahren darf.

Aber in Amerika ist man viel freundlicher und demokratischer. Der Verkehr muss ja nicht so strikt reglementiert sein, und so kommt es zu der verblüffenden Situation, dass in zahllosen Nachbarschaften die Autofahrer an Kreuzungen gelangen, wo nicht zwei, sondern vier Stoppschilder stehen. Schön eins für jede Straße. Das ist super gut, denn somit muss zunächst einmal jeder stehen bleiben, muss sich umschauen, dem anderen zunicken, ein paar Zeichen austauschen, dann kurz nachdenken, schließlich vorsichtig losfahren, und schon, rums, haben sich alle vier Autos schön in der Mitte getroffen, ein kräftiger Materialschaden. Hm, wer hatte also Vorfahrt? Wer hätte die Lage bestimmen sollen? Macht doch alles nichts, denn nun kommen die Rechtsanwälte zum Zuge und werden gut an den Verhandlungen verdienen. Die Autoversicherungen sind auch nicht die Gedeppten, denn sie versuchen natürlich, jeden einzelnen Fahrer für fehlerhaftes Fahrverhalten schuldig zu erklären. So dreht sich das Karussell.

Aber was soll man denn machen an dieser Kreuzung? Natürlich bleibt man stehen, wartet, versucht dann, sich zu orientieren, fragt sich, wie man sich entscheiden soll, und genau dann, wenn man sich endlich entschieden hat und losfährt, machen die anderes das ebenfalls. Das Resultat ist dann so wie oben beschrieben. Ich aber bin Fahrradfahrer, und weiß wirklich nicht, wie ich mich verhalten soll. Da stehe ich also an der Kreuzung, der Autofahrer auf der anderen Seite rührt sich nicht, ich winke heftig, er solle fahren, aber weil seine Autoscheiben dunkel gefärbt sind, kann ich ihn nicht sehen. Also entscheide ich mich endlich, die Vorfahrt zu nehmen, nur hat er wohl meine Zeichen missverstanden und fährt ebenfalls los. Meine Güte, wieviele Fast-Unfälle habe ich da schon erlebt.

So kann man also Demokratie auch praktizieren; am Ende fährt dann am besten wohl keiner mehr. Man sollte aussteigen, sich kennenlernen, ein wenig plaudern, dann einfach umdrehen und eine andere Kreuzung suchen, wo niemand mich gefährden könnte. Vielleicht sollte man in der Zukunft kleine eingepackte Geschenke mit sich führen, um den Verkehrspartner, der bei der Kreuzung sich auch nicht weiterzufahren getraut, etwas bei der Begegnung zu überreichen und ihn oder sie freundlich zu stimmen. Man könnte ja dadurch das Recht eingeräumt bekommen, als erster zu fahren. Nur, nach all den Bemühungen, an der Kreuzung das soziale Geflecht auseinander zu wirren, ist dann so viel Zeit verstrichen, dass ich dann sowieso nicht mehr weiterfahren muss, habe ich ja meinen Termin schon längst verpasst. Es geht also gleich wieder nach Hause, wo ich mir über einen Kaffee Gedanken darüber machen kann, warum amerikanische Kreuzungen solch ein Problem darstellen. Ein Philosoph sollte sich dieser Aufgabe mal annehmen.

ANGST VOR DER DUNKELHEIT

Ohne Zweifel, in Amerika hat man Angst vor der Dunkelheit. Nachts darf es nicht richtig dunkel werden. Vielleicht steckt dies ganz tief in der amerikanischen Psyche, Flucht aus der alten, dunklen Welt? Ich bin mir da nicht so ganz sicher, ich weiß nur, dass es überall das gleiche Phänomen ist: Fußballstadien schalten ihre Flutlichter irgendwann mal früh morgens aus, nur nicht nachts. Stromkosten – ignorieren wir mal. Shopping Malls sind ein Lichtermeer, und man kann richtig darin baden, so viele Lampen scheinen überall. Interessant ist aber für mich insbesondere, wie die Situation bei der Arbeit aussieht. Abends, wenn ich noch einmal zum Büro zurückkehre und wirklich genau sagen kann, dass kein anderer mehr da ist, begrüßen mich freundlich lächelnd alle Rechner-Monitoren, hell strahlend; die Flurlampen werden nie gelöscht, manche Büros sind herrlich ausgeleuchtet, die ganze Nacht. Was soll’s aber auch? Stromrechnungen werden erst später bezahlt, und der Strom kommt sowieso aus der Steckdose, da braucht man nicht weiter nachzudenken.

Ich in meiner sturen deutschen Art gehe dann von Rechner zu Rechner, von Lichtschalter zu Lichtschalter und schalte alles systematisch, ordnungsliebend, aus. Spare ich nicht damit auch etwas Strom? Ich glaube schon, aber keiner achtet darauf. Amerika, du hast es wirklich besser, bei dir geht das Licht nie aus.

ARMUT, WIRKLICH?

Tagtäglich beobachte ich mit großen Sorgen, wie die Armut in den USA um sich greift. Mir war schon immer bewusst gewesen, dass es viele arme Menschen auch in dem superreichen Amerika gibt, aber dass sie sich so offen auf der Straße zeigen würde, wie es heute immer mehr der Fall ist, war mir bislang nicht bewusst. Ich meine noch nicht einmal die vielen Obdachlosen, die Bedürftigen oder verarmte Frauen, die dringend einen Unterschlupf brauchen. Davon gibt es genügend in jeder Stadt, an vielen Straßenecken, an Bushaltestellen, an Bahnhöfen usw. Das ist alles schlimm und sehr traurig, aber heutzutage fällt mir die Armut sogar im Alltag auf, in Geschäften, auf Banken, in den Schulen, auf der Universität, überall. Was aber meine ich damit, woran denke ich? Nun, die Situation macht sich gerade bei jungen Menschen erschreckend bemerkbar. Immer mehr Jugendliche haben offensichtlich noch nicht einmal Geld genug, um sich anständige Kleidung zu kaufen. Verlumpt und zerrissen sehen sie aus, so als ob sie gerade einen Kampf mit einer wilden Katze ausgestanden hätten. Ausgebleichte Hosen mit riesigen Löchern, Rissen, Flicken – nein, selbst in den ärmsten Ländern Afrikas würde man nicht auf ein solches Elend stoßen. Ich bin aber trotzdem auf meine jungen Mitbürgerinnen und Mitbürger stolz, denn obwohl sie so jämmerlich einherschreiten, schaut ihre Armut ihnen nicht aus den Augen. Erstaunlich selbstbewusst bewegen sie sich in der Öffentlichkeit, missachten ihr eigenes Aussehen und kümmern sich nicht um die mitleidigen Blicke oder die Verachtung derjenigen, die noch anständige Kleidung tragen. Tja, es geht bergab mit den USA, ganz rapide. Oder sollte es sich um eine neue Mode handeln?

Nie im Leben, die Situation bei uns ist schrecklich erbärmlich geworden. Die armen Frauen können es sich offensichtlich nicht mehr leisten, ordentliche Hosen zu kaufen und müssen sich mit den zerlumpten Jeans zufrieden geben. Nur, wieso fahren sie dann so teure Autos? Wieso gehen sie in die eleganten Restaurants, obwohl sie doch offensichtlich kein Geld mehr dafür haben, um sich anständig zu kleiden? Lebe ich denn auf dem Mond, oder sind sie alle verrückt geworden?

BEIM BESUCH IM KUNSTMUSEUM

Neulich überredete mich meine Frau, an einem freien Samstag mal wieder das Kunstmuseum aufzusuchen und sich die neuesten Werke anzuschauen. Wir sind kunstbeflissen, wir wissen die Bemühungen der modernen Künstler zu schätzen, nach neuen Medien, Ausdrucksformen, Statements, Klangbildern und theoretischen Reflexionen zu suchen. Daher passt es natürlich, dass das Museum in der ehemaligen Garage einer Feuerwehr eingerichtet ist. Hoher Raum, riesige Fenster, man fühlt sich fast klein, aber eben postmodern. Es war heiß draußen, mehr als 40 Grad Celsius, Kühlung gab es nur im Museum, also nichts wie rein, und der Eintritt war sogar kostenlos. Für Intellektuelle wie uns gehört es einfach dazu, ein öffentliches Bekenntnis zu den Bemühungen der heutigen Künstler abzulegen, die die Welt der sinnlichen Wahrnehmung mittels ihrer provokativ-abstrakten Gestalt-Figurationen innovativ zu durchdringen versuchen und den Menschen unserer Zeit katalysatorisch-epistemologische Erfahrungen vermitteln, wenn man auf unglaublich eindrucksvoll monochrome Farbflächen starrt und sich dabei selbst zu begreifen beginnt. Der Prozess dieses Austausches zwischen Kunst und der menschlichen Ratio, diese transformative Revolution bei der Betrachtung der großen, wie unberührt wirkenden Leinwände ist immer noch ungemein erfrischend für den Geist, für die eigene Suche nach Sinnkonstruktion und für das durstig-ästhetische Empfinden.

Geschickt hatte man riesige Werke in den Museumsraum verfrachtet, die uns wegen ihrer Größe davon abhielten, unbedacht und viel zu rasch durch diese bedeutungsstiftende Landschaft zu eilen, ohne in tiefer Betrachtung die rationalistische und aufklärerische Botschaft solcher Happenings in ihrer postmodernen Version zu verarbeiten und zu internalisieren. Wir gehören ja genauso zu diesen monumentalen Schöpfungen wie diese uns eine existentielle Grundlage bieten, die mit dem heutigen Leben korrespondiert. Ja, so etwas ist ein ästhetisches und intellektuelles Erlebnis sondergleichen. Zehn Minuten hielt uns die graue Fläche auf der rechten Seite des Betonbaus gefesselt, bevor wir uns davon zögerlich lösten und uns dem blau-schwarzen Monument aus Gipsmasse zuwandten, das aus der genialen Hand seines Schöpfers geflossen war, der sich damit einwandfrei auf der Höhe der Zeit befand und eigentlich schon futuristische Signale vermittelte. Ein unberührter Holzklotz daneben rief durchdringend die Erinnerung an die Vorformen der modernen Kunst wach, in seiner Rauheit und seinem Widerstand eine Herausforderung sondergleichen. Die Natur selbst als ästhetisches Erleben.

Natürlich tritt sogar bei uns irgendwann einmal etwas Ermüdung ein, weswegen unsere Blicke auch in andere Richtungen zu schweifen begannen. Ich wechselte daher meine Perspektive, konzentrierte mich auf die dezent im Hintergrund entwickelte konstruktive Raumgestaltung und entdeckte bei diesem Prozess sukzessiv faszinierende Alternativformulierungen. Die geometrische Ausprägung eines Türrahmens in seiner herausfordernden Normalität beeindruckte mich ungemein, waren ja sogar die Winkel exakt bemessen, das Holz sauber geschnitten und das Werk präzise gemäß der Anweisungen des Künstlers ausgeführt worden. Die weiße, ganz ungetrübte Patina, die den Rahmen fast in die Wand versinken ließ, determinierte zusätzlich die sinnstiftende Manifestation des künstlerischen Willens, ganz eingebunden in Sein und Zeit. Heidegger hätte hier freundlich gelächelt.

 

Noch beeindruckender wirkte auf mich eine rote, ebenfalls geometrisch gestaltete Schalterkonstruktion aus Plastik oder Metall daneben, die in ihrer Schlichtheit ein großes innovatives Reflexionsvermögen spiegelte. Fein ziseliert waren programmatisch die Worte darauf angebracht: fire alarm. Bewusst hatte der Künstler Abstand davon genommen, einen internen Reim einzuflechten, um uns nicht in einen trügerischen Wohlklang davontrudeln zu lassen. Der triumphale Ausklang ergab sich aber schließlich, als sich mein Blicke in die Tiefe verlor, wo ein flurähnlicher Gang, der sicherlich als Metapher für den Geburtskanal dienen sollte, in einer anderen Tür zum Abschluss kam, auf der in großen Lettern aufgezeichnet war: TOILETTE.

Verwunderlich fand ich nur, dass bei diesen letzteren Kunstwerken die Etikettierung fehlte; selbst ein Preisschild war nicht angebracht worden. Wahrscheinlich bestand die Absicht darin anzuzeigen, dass abstrakte Kunst eben nicht mehr kommerziell vertrieben, sondern existentiell zum Einsatz gelangen sollte. Ja, das war ein Erlebnis, ein Happening feinster Art, Kunstwerke bewundern zu dürfen, die sich von ihrer längst überholten, traditionellen Funktion, ästhetisch oder epistemologisch Welt-Verständnis zu offerieren, befreit und endlich zur reinen Materialität zurückgefunden hatten.

Ich fand es aber etwas konsternierend, dass ich später ganz ähnliche Ausgüsse höchsten Kunstempfindens abstrakt-transformativer Art auch beim örtlichen Baumarkt entdeckte, völlig zweckentfremdet zwar, dort aber in einer satirischen Gestaltung mit einem Preisschild versehen und ohne Identifizierung des Künstlers. Wie entsetzlich, der Name des kreativ Schaffenden war durch einen Firmennamen ersetzt worden! Trotzdem, die Freude war groß bei mir, denn die Maserung des Holzes war noch genau sichtbar geblieben, und so strich ich versonnen mit dem Finger über die glatte Fläche, die auf sich selbst verwies und keine Ansprüche mehr an uns hegte, weil sie selbstgenügsam geworden das Schöne an sich im sozialen Geflecht widerspiegelte. Selbst im Bauhof gibt es jetzt also Kunst – faszinierend, dass diese sich nun sogar im kommerziellen Bereich verbreitet. Vielleicht sollten wir größere Museen errichten und von dort jegliche Farben verbannen. Am besten käme mir jedoch vor, eine nackte Betonmauer zu errichten, in die sich meine Augen endgültig verlieren würden, wobei die Transformation des Identitätskorpus initiiert werden könnte. Man müsste nur Eintrittsgeld zum Baumarkt fordern, und schon hätten wir eine elegante Lösung für unser uralten Fragen gefunden.

BUDDHISTISCHE ERLEUCHTUNG

Zu meiner eigenen Belehrung nahm ich an einer buddhistischen Veranstaltung teil. Man zeigte uns einen Film über die tibetanischen Jogis und ihre innere Kraft, sich mittels Meditation ganz auf ihre Spiritualität zu konzentrieren und eine höhere Daseinsstufe zu erreichen. Mir ist erst anschließend bewusst geworden, wie viel an Erleuchtung ich dabei selbst gewonnen hatte, mitten in der Nacht. Zunächst, kaum war ich in den Raum eingetreten, wurde ich davor gewarnt, Wertsachen im Vorraum zurückzulassen. Gut, ich nahm meinen Rucksack sowieso mit mir rein, aber wegen meiner Winterjacke machte ich mir doch fast ein wenig Sorgen. Aber sie hing später immer noch am Haken, und so konnte ich beruhigt anschließend mit dem Rad nach Hause fahren.

Es war freilich schon etwas spät geworden, es war also dunkel draußen, und die Sterne funkelten über mir. Machte ja nichts, denn ich brauchte ja nur mein Licht anzustellen. Wie gewohnt suchte ich, während ich schon losfuhr, nach dem Scheinwerfer, auf den ich bloß zu drücken brauchte. Ich suchte und suchte, mein Finger entdeckte aber nichts. In der Tat, das Licht war nicht mehr da. Vielleicht war es abgefallen, als ich das Rad geparkt hatte? Zurück also, die Parkstelle abgesucht – war ja nur ein Geländer gewesen -, doch dort war nichts zu sehen. Und dann bemerkte ich, dass auch mein Rücklicht fehlte. Jemand hatte also einfach alles abgeräumt, während ich den Film über diese alten Meister aus Tibet genossen hatte und ihre Lehren zu verinnerlichen suchte. Jetzt aber war ich gezwungen, in der Dunkelheit den Weg nach Hause zu finden. Wunderbar, und vielen Dank an Unbekannt.

So also hatte ich meine Erleuchtung gefunden, indem ich jemandem unfreiwillig meine beiden Scheinwerfer opfern musste. Hoffentlich ist er damit glücklich geworden; sie waren sowieso schon alt, aber mir fehlen sie jetzt doch empfindlich. Ob der Dieb lange diese Lichter benutzen kann, ist fraglich. Welche Lehre also habe ich daraus ziehen müssen? Ganz einfach, indem es bei mir dunkel wurde, ging bei mir zugleich ein Licht auf. Es wäre zwar sehr zu empfehlen, mit Scheinwerfern in der Nacht zu fahren, aber ich kam auch so gut nach Hause. Ärgerlich alles, aber verzeihen will ich dem Halunken doch. Wer so erbärmlich ist und einem Radfahrer die Lichter klaut, dem ist kaum noch zu helfen. Ich aber muss mich jetzt im Dunklen selber zurecht finden, eine Lektion für das Leben. Wie wurde uns im Film gesagt, unsere größten Feinde sind unsere besten Lehrer. Am nächsten Tag besorgte ich mir neue Fahrradlampen.

DES AMERIKANERS LIEBSTES KIND

Nein, von Kindern soll hier nicht die Rede sein. Auch nicht von Haustieren oder Hobbys. Vielmehr geht es darum, was viele Amerikaner so begeistert, was ihnen so stark am Herzen liegt, dass sie all ihre anderen sozialen, religiösen, philosophischen oder persönlichen Anliegen beiseite lassen, um sich diesem liebsten Kind zu widmen. Jeder konservative Politiker kennt dieses nur zu gut, und jeder überschlägt sich heute geradezu dabei, als Unterstützer, Befürworter, Verteidiger oder Vorkämpfer dieses Kindes aufzutreten. Man kann noch so ein großer Schweinehund sein, Frauen, Kinder oder Männer sexuell belästigt, finanziell dem Staat geschadet, gelogen, betrogen haben, ach, was auch immer, solange man nur dieses liebste Kind hätschelt und tätschelt, sorgsam pflegt, stets im Munde führt, ein Loblied darauf singt, kräftig über die Gegner wettert, die es aus der Hand jedes braven Amerikaners zu nehmen wagen könnten, und schon wird man gewählt. Geradezu ein Zaubermittel; und da können sich die Ausländer noch so die Augen reiben und fragen, was das denn alles soll. Es bleibt dabei, das liebste Kind wird stets umhegt und als die große Ikone des freien Amerikas hingestellt. Nur nicht daran rühren.

Wie denn, könnte man sich fragen, was für ein Kind mag das denn wohl sein? Nach so vielen Umschweifen, bitte mal mit der Katze aus dem Sack! Also, ganz einfach, glänzendes Metall, locker in der Hand liegend, Schnellfeuerwaffe, oder schweres halbautomatisches Gewehr, mit dem man einen Elefanten umlegen könnte und ein Rhinozeros zugleich. Man hört diese beeindruckenden Geschichten immer wieder: tatkräftige Großmutter verteidigt ihr Haus gegen Einbrecher, zückt ihre Waffe und ballert los. Die Diebe sind heilfroh, noch lebend davongekommen zu sein. Für die Zeitungen ein gefundenes Fressen, fett gedruckte Schlagzeilen. Und was die alte Frau schafft, das steht jeder anderen Frau in Amerika auch zu. Die Männer müssen sich natürlich als die Verteidiger der Familie noch besser rüsten und dürfen ein ganzes Arsenal besitzen; es könnten ja die Russen kommen, und da muss man gewappnet sein. Die National Rifle Association (NRA) ist mittlerweile zum Staat im Staate geworden, und wenn nur irgendjemand es wagen sollte, das Recht des Amerikaners auf freien Waffenbesitz in Frage zu ziehen, tobt sogleich ein politisches Unwetter sondergleichen. Da sollen übrigens die Russen schon lange an deren Türen geklopft haben.

Schon interessant, wenn man ein Auto kaufen will, oder eine größere Maschine, wird extrem viel an bürokratischem Kram verlangt, Formulare müssen ausgefüllt werden, Versicherung muss vorliegen, vom Führerschein ganz zu schweigen. Bei Waffen handelt es sich offensichtlich um etwas ganz anderes. Überall laufen diese großen Waffenmessen, und man kann sich dort ganz einfach mit allem Möglichen versehen, was so die heutige Industrie anzubieten vermag. Ob man nun Schwerverbrecher ist oder geistig geschädigter Mensch, interessiert doch niemanden. Geld über den Tresen schieben, hier hast du deine Waffe, und das Magazin gleich dazu – haben die denn alle einen Schuss weg – pun not intended, or is it? Frei ist die Welt, und in den USA noch freier. Gut, da hat ein Verrückter wieder einmal massenweise Menschen über den Haufen geschossen, die Überlebenden sind entsetzt, klagen, trauern, kritisieren, organisieren öffentliche Veranstaltungen – dies darf nie wieder passieren, mit uns nicht! –, aber das verändert doch nichts an dem Recht des Amerikaners, eine Waffe zu besitzen. Wir als freie Menschen sind nicht geisteskrank, nicht psychisch geschädigt, nicht von Verfolgungswahn geplagt, sehen keine Gespenster, und wer sollte mich dann daran hindern, Ballermann und Söhne zu spielen.

So herrlich ist das in den USA, jeder ist dazu aufgerufen, die Freiheit zu verteidigen, sich selbst zu verteidigen, die Gesellschaft zu verteidigen, vor allem gegen all die Bösen draußen, die ja dort auf den Waffenmessen ebenfalls kräftig zulangen oder Waffen in den dunklen Gassen kaufen, Schmuggelware. Fast läuft schon Krieg auf den Straßen, und je mehr Waffen in die Hände der Verbrecher gelangen, desto mehr müssen wir uns selber welche zulegen. Kein demokratischer Politiker darf uns da das Spiel verderben, oh nein, wir sind doch nicht so schwach wie die Europäer.

Und schon wieder kommt es in einem Restaurant, in einer Grundschule, in einem Krankenhaus, in einem Geschäft zu einem Blutbad von völlig unschuldigen Menschen, oftmals Kindern, aber das gehört wohl dazu. Und was geht das denn die bewaffneten Amerikaner an? Wir verteidigen ja nur Hof und Herd, wie im alten Stil. Gell, da brüstet ihr euch alle, beruft euch auf die Second Amendment, und die hat noch niemand so richtig gelesen – “a regulated militia”, steht da, “security of a free State”, nicht aber “every American is entitled to carry a weapon”, sondern: “the right of the people to keep and bear arms”, als Konsekutivsatz, bezogen auf die “militia”. Naja, was soll’s, selbst das Höchste Gericht hat sich für das Recht auf den freien, ungezügelten Gebrauch von Waffen entschieden, weil der Nebensatz so nebulös daherkommt, und so läuft das Karussell des Blutvergießens in den USA weiter, jedes Jahr an die 39 000 Morde. Das geht mir irgendwie nicht in den Kopf, und dann kriege ich vielleicht eines Tages, unversehens, völlig unschuldig meiner Arbeit nachgehend, genau so eine Kugel in diesen empfindlichen Körperteil, und dann ist es aus mit meiner sarkastischen Stimme. Mausetot werde ich dann sein, und die NRA pfeift dann so ihr Lied darauf … Tja, diese neunmalklugen Europäer! Eine Waffe hätte er besitzen sollen zur Selbstverteidigung, und dann, und dann, na, nicht auszudenken!

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