Schattenblüten

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Skorpionschritt

Heute Morgen dachte ich: der Herbst, die violetten Büschel des Tausendgüldenkrauts, die mir auf meinem Weg ins Büro entgegenkommen, die Wiesen, plötzlich konkreter, nicht mehr verloren im metaphysischen Gesumm des Sommers, in seiner Illusion von Ewigkeit. Die Grüntöne, aufmerksamer und ausgeprägter geworden: lauschend. Die Aster, die sich am Schuppen eines Gemüsegartens vorbeugt, die Glockenblumen auf den sonnenbeschienenen Tischchen der Bar, Apollinaires giftige Herbstzeitlose, «et souviens-toi que je tʼattends» … Und die vier Kühe, vergessen in der Grasmulde zu Füssen der «schlüsselfertigen» Häuschen, scheinen unsicher zu sein, was sie tun sollen, während ihre Glocken ein unmögliches Heimweh beschwören.

Die violette Atmosphäre am Morgen; «Besser vorübergehend hier sein als ständig dort», sagt Tobia, der mit seinem Herzschrittmacher in der Brust in Richtung Mendrisio wandert, auf demselben Feldweg wie ich. Er hat den breitbeinigen Gang dessen, der früher den Pflug auf den Feldern gelenkt hat, und wenn du ihn etwas länger ansiehst, fängt er an, dir von damals zu erzählen, als er aus der Bergamasker Gegend aufbrach …

Besser vorübergehend hier, gewiss. In diesem Licht einer reifenden Frucht. Aber irgendwo verbirgt sich ein staubfarbener Skorpion zwischen den Grashalmen. Das fühle ich. Er ist immer da, auch am schönsten Morgen, ein Gedanke, der seinen Widerhaken ausstreckt, ein Gewissensbiss, der hochkommt, ein Schatten, der unter den Steinen versteckt lauert wie jenes Tier, bereit, den Stachel zu zücken, wenn die Kraft der Sonne nachlässt und den Wirren der Nacht Platz macht.

Ich warte auf den Ölwechsel. Jedesmal, wenn ich in diese Werkstatt komme, sagt der Vendeur, dass meine Haltung schwachsinnig sei, das Auto müsse ich wechseln, denn der Kilometerzähler zeigt hunderttau­send an, und die Karosserie weist mehr als eine Delle auf. Er preist die Grossartigkeit des neuen Modells an, zahlt mir ein Glas Weissen mit Campari. Sein Chef beklagt sich, dass heute alle auf den Verkehr schimpfen:

«Es wächst doch noch Gras auf den Wiesen, nicht wahr? Nie so viel Grün gesehen wie um meine Werkstatt herum.»

Hier, in der Bar, in der ich die Zeitungen durchblättere, spricht ein Privatsender über Induno Olona, über Kinderwägen, Buggies, Bonbonnieren, elektrische Insekten-Killer, Ausverkauf an der Autobahn-Ausfahrt, während draussen das Ozon über der Ebene lastet, die Benzinpumpen arbeiten und unablässig die Lastwagen rollen.

Ein Mann im Unterhemd kommt herein. Er setzt sich an einen Tisch und kommentiert das Rennen vom Sonntag, die «Gazzetta dello Sport» vor sich aufgeschlagen.

«Siebenunddreissig Sekunden», murmelt er kopfschüttelnd und bezieht sich, glaube ich, auf die Verspätung eines bestimmten Boliden, «siebenunddreissig Sekunden …».

Im Hintergrund zeigt ein grossformatiges Plakat einen sezierten menschlichen Körper, dessen verschiedene Teile mit Pfeilen und astro-mikro-kosmo­logischen Erklärungen versehen sind. Von den Scheren des Skorpions geht ein drohender Pfeil aus, der in den Genitalien des aufgeschnittenen Mannes endet.

Den Trainingsanzug über der schlaffen Brust halb geöffnet, erschöpft und fast stolpernd, aber mit noch schwarzem Haarschopf über dem aufgedunsenen Gesicht, tritt nun ein weiterer Mann mittleren Alters herein und bestellt stockend einen Espresso mit Milch, vorbei die Zeiten der Gläschen vom Roten … Dieses Gesicht habe ich schon gesehen. Ein Gesicht wie auf ländlichen Festen, das nun gläsern geworden ist. An welcher Krankheit mag er leiden?

Hinten geht die Kellnerin mit bläulich flammenden Augen in ihren engen Jeans vorbei, wie ein berauschendes Gas. Derweil wünscht die Stimme aus Induno Olona immer noch allen einen schönen Tag, und ich phantasiere ein bisschen über dieses Mädchen vom See, sie ist nicht zur Kellnerin berufen, das sieht man, macht das Spiel mit dem Klaps auf den Hintern nicht mit, vielleicht hat sie ihr Studium abgebrochen und hegt eine Art Groll in diesen zu hellen Augen, sie weckt Schuldgefühle in mir, schaut, als suchte sie etwas in dieser an die Tankstelle angebauten Vorstadtbar, als wäre ich ihr eine Antwort schuldig; aber vielleicht ist sie glücklich in ihrem Dorf, auf meinem geistigen Bildschirm sehe ich sie unter den Bogengängen eines Seedorfs, eng umschlungen mit einem jungen Mann, einem Bäcker oder Dreher oder Arbeiter in einer Plastikfabrik …

Ich blicke sie an, als wollte ich sagen: «Deine Geschichte interessiert mich», aber dann wandern meine Augen zu dem Ficus, der neben Novella 2000 auf dem Bord vor dem Schaufenster aus braunen Kügelchen herauswächst. Ich betrachte die Blätter des immergrünen Baums, und mir scheint, dass auch die Kellnerin ein bisschen von ihrer Aufmerksamkeit diesen glänzenden Schwertern widmet, die keine schmutzigen Witze erzählen, keine nutzlosen Gesten machen, nicht enttäuschen, nicht betrügen, nicht vergessen: Sie sind da und wachsen jeden Tag ein wenig, nehmen direkt unter dem astro-mikro-kosmologischen Plakat das kranke Licht des Schaufensters auf und bauen nachts die Gifte ab, verdauen die Sätze, die von den Männern im Unterhemd auf den Barhockern im Lokal gesagt wurden. Sie reinigen die Luft.

Ich habe den Mann besucht, der den Frühling ankündigte: Schon im April lehnte er sich im T-Shirt aus dem Fenster, eine Zigarette zwischen den verstümmelten Fingern, und aus seinem Trichtergrammofon schwappten Wellen von Tango und Foxtrott in die Weite hinaus, die die Gasse überfluteten, während er, Aldo, mit leicht getrübtem Auge die Gemüsegärten gegenüber betrachtete.

Es war nicht ganz leicht, die richtige Türe zu finden. Im Erdgeschoss, neben seiner EHEMALIGEN WERKSTATT, wie ein am Eingang befestigtes Schild noch anzeigt, empfängt mich eine Pappfigur, so gross wie ich selbst, eine Art Minnie, gezeichnet von Walt Disney. Dann gehe ich hinauf, und vor mir erscheint eine grosse Frau in Farbe, die mir ihre Brüste entgegenstreckt: das ist die richtige Tür. Diese riesige nackte Frau stammt von der Eisenbahn, wo er viele Jahre lang gearbeitet hat: Die Waggons machen am internationalen Bahnhof von Chiasso zur Zollkontrolle Halt, und dann werden Stichproben entnommen zur Untersuchung: Zitrusfrüchte, Lacke, Girls, verschiedene Waren. Man bedient sich. Dort in Bern öffnen sie sowieso die vierte Schublade. Denn Helvetia ist eine freigebige Mutter, die einen grossen Schrank mit Schubladen hat: Die erste ist die Schublade für den Zoll, dann kommt die der Post, dann die der Telefongesellschaft, und die vierte ist die Eisenbahnschublade.

Aldo sitzt im Halbdunkel mitten im Zimmer hinter einem glänzenden Resopaltisch und sieht sich im Fernsehen eine Zirkussendung an. Seine Arme sind auch an Silvester unbedeckt. Ich stelle meine Flasche Rotwein ab, und stockend unterhalten wir uns ein bisschen. In den Pausen hört man die Stimme des Clowns im Fernsehen und die Knaller, die von draussen hereindringen, wo ein paar Jugendliche den letzten Tag des Jahres feiern. Im Käfig, der von der Decke hängt, hockt ein Kanarienvogel, aber er singt nie.

Mir fallen die Geschichten ein, die Aldo im Sommer erzählte, als er mit den Nachbarn auf der Steinbank sass. Geschichten von Wein und Unfällen: zwei Finger vom Strom verbrannt auf einem Hochspannungsmast an der Linie Zug–Cham, wo die Züge durchbrausen und einen Feuerschweif hinter sich lassen; die Geschichte des dritten Fingers, den er bei der Eisenbahn unter einem Kran verlor.

Aldo war ein jähzorniger Trinker. Eines Abends hat er mit seinem Flobertgewehr auf den Nachbarn geschossen, weil dieser nie die Eingangstüre zumachte und ihm kalt war in der Küche im Erdgeschoss: nur einer der grossen Streits unter Nachbarn, die sich hassen wegen eines überhängenden Zweigs, eines Autos, eines Müllsacks. Ein andermal hat er sich damit begnügt, auf einen Holzstoss zu zielen, um den Rausch auszutoben.

Er zeigt mir ein Foto, auf dem man ihn im Sattel eines Motorrads sieht, mit einem Freund auf dem Rücksitz: Er trägt eine Soldatenuniform und blickt voller Stolz ins Objektiv. Gut sieht er aus, strahlend. Mit diesem Motorrad hat Aldo in Balerno ein Schaufenster zertrümmert, ist in Castello in die Schächte der Kanalisation eingedrungen, ist am Rand der Brücke gelandet … Er stürzte sich betrunken in nächtliche Streifzüge, als suchte er das Massaker, die Verstümmelung.

Seine Geschichte reicht zurück in finstere Vergangenheit. Er stammt aus einer aristokratischen, später heruntergekommenen Familie – es gibt Leute, die sich noch an die Kutsche des Vaters erinnern. Aldo war wenige Monate verheiratet: er hegte den Verdacht, seine Frau bestehle ihn, und schickte sie nach kurzer Zeit in ihr Dorf zurück. So sitzt er nun in diesem Raum allein im Halbdunkel vor dem Fernseher.

Ich weiss, dass er eben erst aus dem Krankenhaus heimgekommen ist, und frage ihn, wie es geht, ohne Bein.

«Nachts spüre ich es», sagt er.

Bis ich es sehe, in der Ecke unter dem Fenster. Es lehnt da, als wäre es ein Spazierstock. Ich hatte mir eine gerade Holzprothese ohne Einzelheiten erwartet; aber es ist ein über dem Knie abgeschnittenes, anatomisch geformtes Bein, überzogen mit einem hautfarbenen Strumpf, einem Nylonstrumpf von der Sorte, wie sie die in den Schaufenstern der grossen Kaufhäuser ausgestellten Modepuppen an den Beinen tragen.

Ich stehe da und betrachte das künstliche Bein, während Aldo umschaltet und sich nun einen Dokumentarfilm über Schlangen anschaut, während das Glockenläuten zum Jahresende über die Gemüsegärten jenseits der Gasse hallt; und im Flimmern des Fern­sehers ist mir, als sähe ich in einem Winkel des Raums etwas davonkrabbeln und sich unter dem Schrank verstecken.

Begegnungen am Ende des Sommers

Am Nachmittag, wenn die Engel auf der Fassade der Pfarrkirche den Kopf aus den Wolken aus rissigem Putz hervorstrecken, gibt es Momente, in denen man nur Alte auf den Strassen sieht. Eine Taube flattert von der Traufe auf, streift den musizierenden Engel. Wenn die Totenglocke läutet, zögert der Fuss des alten Mannes, der gerade aus dem Portikus tritt, wem gilt wohl dieser Glockenschlag? Er ist einer, der mit niemandem spricht, allein mit seiner Zigarre, und er betrachtet den Asphalt, als suchte er das Licht, das er in seinem Dorf am See sah, bevor er es für diese Pfützen verliess. Auch die hinter dem Küchenvorhang stehende Frau hat das Läuten gehört.

 

Eine weisse Taube. Oder eine gewöhnliche Taube? Für den Strassenarbeiter ist es eine gewöhnliche Taube, eine piviún. Er und der Elektriker – ein vorzüglicher Schütze, der sein Gesicht immer zu einer Grimasse verzieht, als weinte er, und zu Hause auf der Truhe und in den Schubläden der Anrichte Medaillen, Diplome, Bänder und Pokale aufbewahrt, den ganzen Plunder, den er bei kantonalen und bundesweiten Wettschiessen gewonnen hat –, sie beide stiegen nachts auf den Kirchturm hinauf: Dort oben gibt es ein Treppchen, das direkt zu den Glocken führt, und da kann man die Tauben leicht packen, noch besser, wenn der Mond scheint, man spürt ihre laue Wärme in der Hand, dreht ihnen den Hals um und wirft sie auf das Pflaster des Kirchplatzes. Ihr letzter Flug. So leistet man der Gemeinde einen Dienst, denn die Tauben verschmutzen alles, das ist bekannt, habt ihr nie die Dreckkrusten auf den Dachrinnen gesehen?

Der Alte mit der Mütze dagegen betritt die funkelnde Bar und setzt sich unter den umgedrehten Lampenkranz mit dem Spotlight darin. Er trägt die Mütze eines Kapitäns zur See, ein Stück aus seiner Sammlung. Er hat eine Leidenschaft für Militärisches: Helme, Orden, Gasmasken, Bajonette, gekreuzte goldene Schwerter auf Achselklappen. Krieg und Wein in Korbflaschen. Er liebt Soldatenfriedhöfe. Kürzlich hat er einen schönen Helm verkauft an den Jungen mit Nieten und Eisenzeug an der Jacke, den man um die Bar herumlungern sieht, nachdem er sein Monster mit niedrigem Lenker geparkt hat.

«Weisst du noch, wie wir einmal mit Nazi-Helm auf dem Kopf zum Klassentreffen gegangen sind?» fragt der am Tisch sitzende Kapitän zur See seinen Nachbarn, der ihm beim Barbera Gesellschaft leistet.

Auch Battista, einer aus der Diaspora der Bergamasker Sägewerker, kam hierher, um auf den Abend zu warten. Er trug immer Hosen, die etwas zu kurz waren über den Schuhen, und schritt leichtfüssig wie ein Walzertänzer über das Trottoir. In der Bar erzähl­te er von damals, als er die Vogelfallen, mit denen er sich in seiner Kindheit vergnügte, beiseite geräumt und den Schnellzug in die Schweiz bestiegen hatte, eine Flanellhose, drei Hemden und drei Paar Unter­hosen im Bündel. Es war ein Sonntag im Juni, St.-Ludwigs-Tag. Im Gepäcknetz lag, mit dem Strick um­wickelt, die Sense, aber der Kontrolleur wollte ihn nicht weiterreisen lassen, denn der Krieg war kaum zu Ende, und er – er war noch nicht sechzehn, auch wenn ihm allmählich ein Schnurrbärtchen wuchs, und aufs Mähen verstand er sich wirklich gut, weil er das Handwerk schon als Kind erlernt hatte, mit einer kleinen Sense, die sein Vater für ihn gemacht hatte.

Jetzt ist Battista nicht mehr da, zum letzten Mal haben wir ihn mit wächsernem, schon abwesendem Gesicht den Kirchplatz überqueren sehen. Geblieben ist Fredo, immer die Zunge zwischen den Lippen wie eine Drohung oder eine schmerzliche Erinnerung oder ein Zeichen der Begierde beim Anblick der Frauenbeine, die an seiner Bank vorübergehen auf dem Weg in die Cooperativa–Comperativa sagte seine Mama. Sein Lieblingsthema ist das Bordell von Como: fünf Lire für acht Minuten, dann läutete die Klingel. Beim ersten Mal hat­te Fredo den Ausweis gefälscht, weil er noch nicht achtzehn war, und als er das Zimmer betrat, hat er eine Frau von hundertzwanzig Kilo vor sich gesehen, mit einem Geschlecht wie ein Hechtmaul, zum Hineinfallen.

Die Frau, die nicht altern will.

Sie zieht sich rot an, weil Rot die Schmerzen lindert, trägt hochhackige Schuhe und geht oft zum Friseur, um sich Dauerwellen machen zu lassen. Am Sonntagnachmittag erliegt sie der Verführung des Tanztees im «Delizie», auch wenn die Leute sagen: «Hinten Lyzeum, vorne Museum.» Begleitet wird sie von einer Freundin, einer mit auffallenden Haaren, die nie geheiratet hat und in zweieinhalb Zimmern über dem kleinen Lebensmittelladen wohnt, manchmal sehe ich ihr geschminktes Gesicht auf der Terrasse zwischen den Geranientöpfen schweben, mit Augen, die gern sündigen würden.

Vor dem Mietshaus hackt die Pförtnerin, die kürzlich ihren Mann verloren hat, im kleinen Beet. So lebt die Vergangenheit wieder auf in Form von Strandkiefer, Rhododendron, Stachelbeerstrauch. Man braucht nur zu giessen, zu hacken, das Unkraut zu jäten. Nachts behält die Pförtnerin ihre Pflanzen im Auge, denn eines Morgens hat sie, darin verfangen, einen Nylonstrumpf gefunden. In ihrem Zimmer im Erdgeschoss hört sie sie wachsen, wenn der Verkehr schweigt. Und in windigen Nächten, in ihrem Witwenbett ausgestreckt, hört sie sie miteinander sprechen. An einem Julimorgen hat sie anstelle ihrer windgezausten Bäumchen Stimmen gehört, die von den Grünanlagen vor dem Mietshaus kommen mussten. Worte, trocken wie abgebrochene Äste, und auch eine Frauenstimme, so schien ihr. Sie hat durch den Fens­terladen gespäht. «Sag mir, wer dich rübergebracht hat, sag mir, wer dir geholfen hat …», sagte der Polizist zu einem Schatten unter den Linden, vielleicht eine Türkin, eine Flüchtlingsfrau. Sie hat gelauscht, bis die erste Helligkeit die Turteltauben geweckt hat.

Vor dem Mietshaus erscheint um eine bestimmte Zeit die Frau aus San Fermo. Sie führt Selbstgespräche und bewegt ständig den Mund, als kaute sie. Sie wirkt wie ein schmächtiges Mädchen, hat aber das Gesicht einer Alten und die Augen eines Menschen, der viel Elend durchgemacht hat. Jeden Tag geht sie über die Grenze und kommt in die Svissera, um Fussböden zu putzen. Die Wachen kennt sie alle. Die italienischen Wachen nennt sie die mocassina. Sie trägt einen geschenkten Mantel und hat nie heiraten wollen, obwohl sich ihr mehrere Gelegenheiten boten: Einmal hat sich sogar ein distinguierter Herr um sie bemüht, ein Helvetier mit Bankkonto. Das «a» von Bank spricht sie mit verkniffenem Mund aus, ein unzufriedenes «a», das gern ein «o» wäre.

Die Frau, die beschlossen hat, nicht zu altern, schaut vom Fenster aus der Pförtnerin beim Hacken zu, schaut der Frau aus San Fermo zu, die mit einem kartoffelschalenfarbenen Gesicht hierhin und dorthin hüpft und in einem Winkel einen grossen Karton mit Lumpen aufbewahrt, aus dem man manchmal noch etwas Nützliches herausfischen kann. Dann lässt sie den Vorhang sinken und macht sich zum Ausgehen fertig. Sie zieht die hochhackigen Schuhe an. Das Gesicht ist mit einer Schicht Make-up bedeckt. Sie erinnert sich an die Zeit, als sie noch jünger war – denn man kann nicht sagen, dass sie jetzt alt wäre – und den Tessiner Barbier kennen lernte, der ihr Mann werden sollte. Damals arbeitete sie als Verkäuferin in einem Stoffgeschäft in der Zentralschweiz, es gefiel ihr, alle Stoffe ordentlich in den Regalen gestapelt zu sehen und das gelbe Plastikmassband um den Hals zu tragen. Der Barbier begehrte sie, an der Schwelle jenes Ladens am Fuss der Berge. Er bewunderte sie in ihren eng anliegenden Kostümen. Bis er dann eines Tages seinen Mut zusammengenommen und ihr eine Puderdose mit Quaste geschenkt hatte.

Am Sonntagnachmittag geht sie mit ihrer Freundin mit den tizianroten Haaren ins Delizie, so bleibt sie jung. Es gab noch eine dritte Frau, die an Festtagen mit ihnen zum Tanztee ging, doch nun hat sie das Gesicht voller Narben: Eines Tages, als sie beim Heimkommen die Tür öffnete, ist das Gas explodiert. Sie ist schlagartig gealtert.

Der Mann, der seiner Tochter die Hand gibt.

«Machen wir grosse Springer beim Runtergehen?», fragt das Kind. Soll heissen: grosse Sprünge.

Sie kommen zu ihrem Haus, einer verlassenen Scheune mitten in den Weinbergen und Kastanienbäumen neben dem Weg, der zum Monte Generoso führt. Das Kind hat dem Papa mit ein bisschen Spucke die Haare gewaschen. Dann haben sie sich auf Chinesisch unterhalten, und das Kind hat eine kleine Bergnelke gepflückt, die chinesisch spricht.

«Da, diesen Moment habe ich schon gesehen. Du, wie du mich so anschaust», sagt das Kind.

«Wie meinst du das, hast du schon gesehen?»

«Ich weiss nicht, es sind Momente, die sich wiederholen.»

Das Kind hat ein weisses Schneckenhaus, eine Handvoll Brombeeren und die roten Früchte der Kornellkirsche gesammelt, Beeren, die Ende August reifen. Sie hat den Hühnern die noch grünen Trauben des Weinstocks hingeworfen. Jetzt versucht sie, auf einem Grashalm zu blasen, den sie zwischen die beiden Daumen gespannt an ihre Lippen hält.

Auch am letzten Sonntag, als ihr Vater sie an einem Tisch im Wirtshaus hinter der grünen Gazosaflasche betrachtete, hatte sie unter ihrem Chicco-dʼOro-Hütchen gelacht. Dann war sie nachdenklich geworden, hatte gesagt:

«Da, jetzt. Wir sind schon einmal so dagesessen. Die Dinge wiederholen sich.»

Der Vater legt sich neben der Scheune ins Gras und betrachtet die Halme, die sich am Spätnachmittag näher herunterbeugen. Er erinnert sich an einen Spaziergang, den er vor vielen Jahren auf diesem Weg gemacht hat. Er war mit Silvana und Renzo beim Beerensammeln. Die gleichen Beeren, die seine Tochter jetzt verwendet, um Halsketten zu machen.

«Was mag aus Silvana geworden sein?», denkt der Vater, im Gras ausgestreckt. Er war mit ihr in den alten, stillgelegten kleinen Bahnhof am Rand der Felder gegangen wie in einem amerikanischen Film; sie aber wollte lieber Beeren pflücken.

Und Renzo? Eine Medaille, mit grau gewordenem Gesicht und leicht verwegener Baskenmütze. Er sieht ihn weit weg und klein, im Spiegel der Bar, wo er ihm das letzte Mal begegnet war: da ist sein Bild, hinter den Aperitif-Flaschen, mit einem beschlagenen Lächeln. Er sieht das Haus im Dorf wieder, wo Renzo sich in Gesellschaft einer Ziehharmonika niedergelassen und wo er ihm die Geschichte des Sakristans aus dem letzen Dorf oben im Tal erzählt hatte, einem, der Die Verlobten seitenweise auswendig konnte: er war fasziniert von Einzelgängern, der Renzo. Einmal hatte er ihm seine Aufzeichnungen gezeigt. Ein Satz fällt ihm ein: «Die Natur ist keine gute Mutter.» Wo hatte Renzo es hergenommen, dieses Zitat? Aus einem Kalender? Aus einem Buch? Oder stammte der Satz von ihm selbst? Dieser Junge verstand von allem ein bisschen was und lehnte Spezialisierung ab. Aber um zu leben, muss man sich spezialisieren. Das ist es, Renzo konnte mit seinem Leben nichts anfangen. Bei der Beerdigung hatte der Pfarrer gesagt, dass ihn die schlechte Gesellschaft ruiniert habe. Eine dumme Pfaffenpredigt. Warum hatte Renzo sich bloss umgebracht? Und warum hatten er und Silvana sich nicht geliebt?

«Hilfe», schreit das Kind von ihrem Haus aus. Wie schön wäre es, diese Scheune mit dem Rosmarin davor zu besitzen und jeden Tag mit dem Vater auf diese Wiese zu kommen, um auf Grashalmen zu blasen!

Jetzt hat sich das Kind die Beeren um den Hals gelegt, eine Kette, die stärker leuchtet im letzen Sonnenlicht.

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