Akrons Crowley Tarot Führer

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2006

Alle diese Episoden und noch viele andere tauchten wieder in meinen Erinnerungen auf, als ich diese einführenden Worte schrieb. Aus der Distanz von beinahe vierzig Jahren schienen mir meine Visionen aus heutiger Sicht nichts anderes als die von der kreativen Aufbruchstimmung einer gesättigten Nachkriegsgeneration in einem Wirtschaftswunderland ohne Arbeitslosigkeit getragenen spätpubertierenden Zukunftsvorstellungen gewesen zu sein, was so allerdings nicht stimmt, denn sie waren ein bewegtes Zeugnis einer Zeit, die für mich absolut authentisch war. Es könnte aber sein, dass diese kritische und distanzierte Haltung eine späte Rache an meiner jugendlichen Illusion war, die aus meiner heutigen Sicht nicht hielt, was ich mir damals versprach (das ist normal). Aber auch diese Bilder werden wieder verblassen und die post-psychedelischen Strohfeuerchen in meinem Hirn erlöschen, spätestens dann, wenn dieser Text zu Ende geschrieben ist. Die Erinnerungen werden in der Tiefe versinken, die Gedanken an die guten alten Dope-Zeiten, zu deren Beginn wir 67/​68 mehr oder weniger high auf den Matratzen lagen, die Stones, Pretty Things, Cream, Hendrix, Zappa oder Vanilla Fudge reinzogen und glaubten, am nächsten Abend wie Vodoopriester oder apokalyptische Reiter der entfesselten Masse unser okkultes Credo in die entzündeten Ohrknöchelchen zu trommeln und am darauf folgenden Morgen in einem Paradies der Liebe ohne kapitalistische Produktions- und Gesellschaftsordnung zu erwachen, wo uns der Herr mit allen Engelsscharen in der Hymne All you need is love segnen konnte, wenn wir nicht gerade zwischen den fetten Joints Liebe machten. Diese Insel der Seligen ist einer Phase der Achterbahnfahrt der Seele zwischen dem Himmel der Informationsfluten, die uns das Internet beschert hat, der Industrialisierung der Kultur, dem Spektakel der Medien und der Angst vor Terroristen und vor dem Verlust des Arbeitsplatzes gewichen. Zwischen Lichtarbeitern und Hooligans, gerechten Kriegern und Terroristen, Selbstversorgung und Hartz IV. Im Grunde ist eigentlich nichts anders als vorher, nur wussten wir das – und das war unsere Lebensqualität – damals nicht.

Was blieb vom Ganzen eigentlich übrig? Außer ein paar tollen Erinnerungen an die Haschischnebel in der Morgendämmerung rauchverhangener Zimmer, in denen die Pfeifen die ganze Nacht nicht ausgingen, an die glimmenden Aschen der Riesenjoints, die einem bei der Anfahrt an die Gigs auf den Hinterbänken des Busses in der Müdigkeit der Nacht manchmal in die Schlafsäcke fielen, an die vielen Groupies und die verfickten Matratzen junger Rebellen, die den ersten Gruppensex ihres Lebens zelebrierten, oder die Aktionen auf der Straße, die ein neues Freiheitsgefühl vermittelten. Eigentlich nichts, ein paar zerfledderte Platten, vergilbte Fotos, Posters und Presseartikel von unseren Geisterbeschwörungen im Bayerischen Wald. Nichts als nur Nostalgie – wenn … ja wenn da nicht jener Oktobertag im Jahre 1989 gewesen wäre, an dem mich Ursi, meine große Liebe, von der ich damals seit drei Jahren getrennt war, obwohl sie zu der Zeit wieder in meinem Haus wohnte, beschwor, sie zu begleiten. Sie wollte einen Tarotvortrag von Hajo Banzhaf besuchen, der 1986 sein viel beachtetes Erstlingswerk (Das Tarot-Handbuch) und 1988 den Bestseller Das Arbeitsbuch zum Tarot herausgebracht hatte, mit denen er in den Buchhandlungen auf Tarot-Tour war.


Ursi mit Papagei Hugine im Blick, 4. Februar 1993

1989 (Der Geist klopft an)

Als wir die Buchhandlung Rösslitor in St. Gallen betraten, stand Banzhaf wie ein Wellenbrecher auf dem obersten Podest der Treppe, die links in den Vortragssaal und rechts in die Esoterikabteilung führte. Ich sprach ihn an, denn es war kaum möglich, an ihm vorbeizukommen, ohne ihm auf die Zehen zu treten, und siehe da, plötzlich klopfte der Geist an. Hajo wusste sofort, wer ich war, obwohl wir uns noch niemals im Leben begegnet waren, denn, wie das Schicksal so spielt, er war, wie man heute sagt, »Scout« beim Hugendubel-Verlag, der Manuskripte prüfte und Empfehlungen abgab, und er hatte gerade mein zweites Buch, Im Licht der Sonne, zur Publikation empfohlen. Ich kannte wohl die Empfehlung, nur wusste ich nicht, dass sie von ihm geschrieben war. Nach seinem anderthalbstündigen Vortrag sind wir dann zu viert, Hajo, Ursi, ich und Chris Schmid, der Leiter der Esoterikabteilung, ein alter Kumpel aus den Siebziger Jahren, der mich damals mit dem I Ging bekannt machte, in ein gediegenes Restaurant eingekehrt und fachsimpelten über den Esoterikmarkt. Chris gehörte mit zur halluzinogenen Clique, nennen wir sie einmal unsere 68-er-Pot-ist-fun-Abteilung, die damals die ersten bewusstseinserweiternden Drogen ausprobierte, und er war einer, der nicht nur fast alle esoterischen Bücher kannte, sondern auch Trends erspürte und sich mit fernöstlichen Techniken auseinandersetzte. Und ich kann mich noch gut entsinnen, wie Hajo – der ja keine Erfahrung mit halluzinogenen Drogen hatte – große Augen machte, als ihm Chris mit völlig ernster Miene von einem fehlenden Tag in seinem Leben erzählte, den er auf einem Horrortrip 1968 verloren habe. Hajo dachte wohl, Chris habe einen »an der Klatsche«, und wir mussten alle herzlich lachen, als sich Ursi einmischte und munter erzählte, dass ihr einmal eine ganze Teilpersönlichkeit in einem LSD-Erlebnis abhanden gekommen war. Dafür habe sie eine bessere (zukünftige) Erinnerung erhalten.

Was ich sagen will: Es war eine spontane, verrückte, fröhliche Stimmung, die uns im Laufe des späteren Abends überkam, wie das Echo des Geistes, der irgendwie in mein Leben griff, so beiläufig und doch zupackend, denn schon ein paar Tage später rief mich Hajo an und fragte mich, ob ich nicht das Buch zum Crowley-Tarot übernehmen wolle. Fred Weber vom Urania-Verlag habe ihm ein Angebot gemacht, denn es gäbe außer Gerd Zieglers Taschenbuch trotz großem Potential kein richtiges Standardwerk auf dem Markt. Auf meine Frage, warum er das nicht selbst in die Hand nehmen würde, meinte er nur, dass er sich das nicht zutraue, Crowley wäre ihm irgendwie nicht ganz geheuer. Da schlug ich ihm ohne nachzudenken vor, wir könnten es ja zusammen schreiben. Als ich kurz darauf in den Verlagskatalogen im Rösslitor wühlte, um zu sehen, wie weit sich die Popularitätskurve Meister Therions in meiner magischen Abstinenz entwickelt hatte, war ich ziemlich überrascht. Es waren mehr als ein Dutzend übersetzter Werke im Handel, die in den Listen auftauchten, und auch wenn sie in spezialisierten kleinen Häusern geführt wurden, so waren es doch mehr, als ich erwartet hatte. Der größte Verlag war Urania, damals noch in Sauerlach bei München, in dem neben dem Buch Thoth auch TAROT – Spiegel der Seele gelistet war, ein Buch über die Tarotkarten von Gerd Ziegler, das 1989 schon einen Absatz von beinahe 50 000 Exemplaren hatte. Chris erzählte mir, dass einige von Crowleys Gedankenansätzen auch in den Büchern von Ron Hubbard zu finden wären12, dem umstrittenen Gründer der Dianetik und der Scientology, die man aber nicht über den Buchhandel beziehen könne. Aus heutiger Sicht ist das nicht weiter verwunderlich, da Hubbard nach dem Krieg sehr stark in die Agape-Lodge in Los Angeles eingebunden war.13

Kurz und gut: Banzhaf und ich machten 1991 das Buch (Der Crowley-Tarot, Hugendubel, München, 1991), das sich in der Folge nicht nur recht erfolgreich entwickelte, sondern aus dessen Ansätzen auch viele weitere Bücher entstanden.14 In den beiden letzten Jahren schloss sich der Kreis dann in einem letzten, weniger fröhlichen Kapitel, das mich mit der dunkleren Seite der Schicksalsabläufe konfrontierte, die mich – auch wenn sie immer noch ein bisschen nachwirken – mit der wahren Esoterik aber letzten Endes viel tiefer in Verbindung brachten, als es ein Dutzend selbst geschriebener Bücher hätte bewirken können.


Akron im Garten von H. R. Giger, 1993

Der Traum ist das gespiegelte Bild der Wahrheit in der Seele des Menschen; der Mensch ist der Rahmen und das Bild ist die Seele selbst. Wenn du das Bild im Rahmen bewegst, kannst du bis an die Enden dieser Welt reisen - oder darüber hinaus, wie es auch die alten Mystiker taten. Sie verschwanden in der Eiseskälte der Leere, nachdem sie ihre Wahrnehmung über den Rahmen hinausschoben.


Hohepriesterin (1991) von Ursi Cadonau im Foyer der AGMüller Urania (Ausschnitt aus dem dreiteiligen Entwurf Magier-Hohepriesterin-Weltenschlange)

2004 – 2005 Eine Seele nimmt Abschied15

Ich hatte den Akron-Tarot Ursi gewidmet, nicht nur, weil sie mich 1989 in den Buchladen lotste (ich scheue normalerweise öffentliche Veranstaltungen), sondern weil sie mir in unserer gemeinsamen Zeit 1976 – 1986 ihre ganze Kraft und Liebe schenkte und ich ihr dafür einfach Danke sagen wollte. Doch gerade, als ich das Buch vom Tisch hatte, eine Stunde nach Abgabe der letzten Korrekturen, bekam ich anfangs August 2004 plötzlich heftige Darmkrämpfe, ein Blinddarmdurchbruch, der sich – da ich eine Narkose-Allergie hatte, wie sich im Nachhinein herausstellte – auf dem Operationstisch zum Alptraum eines kurzzeitigen Herzstillstandes mit Wasser in der Lunge ausweitete. Warum ich das hier erzähle? Ich tue das, weil sich in dieser Zeit einige merkwürdige Dinge zutrugen, die mit der Entstehung dieses Buches in Zusammenhang standen. In einem tieferen Sinn hatte das Ganze mit einem Akt des Loslassens zu tun.

 

Zwei Monate später brachte ich Ursi das ihr gewidmete Deck vorbei. Sie hatte ein kleines, idyllisches Atelier für Glasmalereien und Kunstverglasungen gerade an der Hauptstraße zwischen Teufen und Bühler im Appenzellerland, von dem aus man beinahe auf die ehemalige Abtei Thelema in Stein hinüberschauen konnte. Sie freute sich über das Buch und wir hatten einen netten Nachmittag. Ein paar Tage später rief sie mich an und teile mir gefasst mit, ihr Freund wäre nach meinem Besuch gestorben. Irgendwie war das ein seltsames Zeichen. So nahm ich den Kontakt zu ihr wieder auf, begann sie regelmäßig anzurufen und lud sie in der letzten Adventswoche zum Weihnachtsmarkt nach Konstanz an den Bodensee ein. Es war ein wunderschöner Ausflug zusammen mit Lussia und Simon und wir waren uns wieder vertraut wie in alten Zeiten, aber beim Verzehren einer Curry-Wurst bekam sie einen Würgeanfall und erbrach sich auf den Tisch. Ich machte mir meine Gedanken und dachte an eine Magenreizung oder Speiseröhrenentzündung. Am Heiligen Abend unternahmen wir mit der Grenzgängerin und Silbersurferin Illuma eine nächtliche, vom Vollmond beleuchtete Wanderung in die Appenzeller Alpen zum Seealpsee, und auf einmal kam in mir da oben an der Kapelle ein wehmütiges Gefühl an unsere gemeinsame Zeit auf, eine unglaublich tiefe Melancholie, wahrscheinlich ein verdrängtes Schuldgefühl, und plötzlich musste ich die Sache aufgreifen und unsere ganze Beziehung rekapitulieren. Das war ein sehr schmerzhafter, aber gleichzeitig auch sehr befreiender Aspekt. Ich wusste zwar nicht, ob sie mein Reden verstand, aber es war von der Stimmung und vom Empfinden her mein schönstes Weihnachtsfest, das ich da oben mit ihr im tief verschneiten Wald, am zugefrorenen See auf über 1100 Metern erleben durfte. Ursi machte Räucherungen und steckte zusammen mit Illuma einige Dutzend Kerzen in den Schnee, eine richtige Lichterkette oder -straße, die um das Holzkirchlein erstrahlte, und ich konnte nicht ahnen, dass ich im folgenden Jahr am Weihnachtsabend wieder mit ihr dort oben sein würde, wenn auch in einem anderen physischen Zustand: mit einer kupfernen Urne, die ihre Asche enthielt.

Der Schatten des Ego im Spiegel des Lichts


Ursula Cadonau, Baphomet, 1992,

Es ist Gottes Sehnsucht nach seinem Geschöpf, das uns unsere Sehnsucht in Gott realisieren lässt!

Aussendung des Heiligen Geistes, 1974, Alte Kirche, Romanshorn

Der nächste Kontakt war an ihrem Geburtstag am 3. Februar 2005. Ich ging mit Lussia, meiner jahrelangen Begleiterin und Medizinfrau, hin, der auffiel, dass Ursi viel Gewicht verloren hatte. Sie hatte ein schlechtes Gefühl und bat mich, der Sache nachzugehen. Vielleicht ist es wichtig zu wissen, dass Ursi ein Mensch war, der nur sehr selten klagte; ich habe sie zeit ihres Lebens niemals über physisches Leid jammern oder sich gar beschweren hören. Sie fraß alles in sich hinein. Jedenfalls musste ich mit Engelszungen auf sie einreden, um sie überhaupt zum Besuch bei einem Arzt zu bewegen. Der verschrieb ihr anfänglich Tabletten gegen Sodbrennen, die sie tapfer schluckte; aber irgendwie schien mir das alles eine Farce zu sein und ich drängte auf einen Untersuch beim Spezialisten. Das war zu der Zeit, als Silvie Bachmann vom Urania Verlag bei mir vorstellig wurde. Sie erzählte mir von einem neuen, vom O.T.O. in New York angeregten Crowley-Tarot-Deck in unverzerrtem Format und mit exakt auf das Original abgestimmten Farben16, das in Kürze erscheinen sollte, und sie fände es toll, wenn ich dazu ein Buch schriebe. Noch einen Crowley-Tarot? Das hieße ja seinem eigenen Bestseller Konkurrenz zu machen. Also erbat ich mir Bedenkzeit, und genau in diese Phase platzte die Bombe: Der Spezialist überwies Ursi zur genauen Abklärung in die Klinik. Die Diagnose war brutal: Speiseröhrenkrebs im fortgeschrittenen Ausmaß von zwölf Zentimetern mit Metastasen im ganzen Körper.


Türmlihuus

Was wollte mir das sagen? Ursi war in der Buchhandlung dabei, als sich der erste Crowley-Tarot im Geist abzeichnete, und Ursi war auch jetzt wieder da. Sie stand nach beinahe zwei Jahrzehnten wie aus dem Nichts wieder in meinem Leben, aber nur – die Diagnose war ein Todesurteil, das war uns schon klar -, um unsere gemeinsame Reise zu Ende zu bringen, als sich mir die Möglichkeit einer völlig freien Neubearbeitung dieser alten Vorlage anbot. Dieses erste Buch über die Tarotkarten von Crowley hatte mir 1991 die Tore zu allen mir wichtigen Werken geöffnet – sollte diese erneute Auseinandersetzung sie nun wieder schließen? Fast schien es mir so. Ich besuchte Ursi im Spital und fuhr mit ihr in die alte Kirche von Romanshorn, die auf einem kleinen Hügel direkt am Bodensee thronte und für die sie in den 70er Jahren ein wunderschönes großes Glasfenster für ihren Lehrmeister angefertigt hatte. In der Kirche daneben gab es einen kleinen Marienraum, in dem Menschen in schwerer Bedrängnis ihre Sorgen und Wünsche in ein offen aufgelegtes Buch schreiben konnten. Wir gingen dahin und ich sagte ihr, dass ich mich freuen würde, wenn sie wieder »nach Hause« käme; ich würde sie unterstützen, egal, ob sie sich für oder gegen eine Therapie entscheiden würde, die in meinen Augen sinnlos war und das Leiden nur verlängerte. Ihr fiel im wörtlichen Sinne ein Stein vom Herzen, und da merkte ich, dass sie viel mehr Angst hatte, als sie nach außen zugab, und dass es ein alter und tiefer Wunsch war, wieder in das kleine, verwunschene Schlösschen am Ruhberg zurückzukehren.

Damit schloss sich der Kreis mit Crowley und mit Ursi. Ich war bereit, mich der Herausforderung zu stellen und nochmals einen Crowley-Tarot zu schreiben, aber diesmal ganz anders als damals mit Hajo, als wir uns professionell nach den Bedürfnissen des Marktes ausrichteten und ich viele Themen unterschlug, die mir – auch wenn sie sich nicht unbedingt vorteilhaft auf die Verkaufszahlen auswirken – wichtig waren. Nun konnte ich das nachholen. Es sollte ein persönliches Bekenntnis werden, ein Nachschlagewerk natürlich auch, vielleicht auch eine unmittelbare Reflexion zwischen (meiner Vorstellung von) Crowley und mir. Aber damit war es nicht getan. Innerhalb der Entstehung fühlte ich mich plötzlich gezwungen, mich tiefer und ausführlicher mit der Person des alten Zauberers auseinanderzusetzen, als es für ein herkömliches Kartenlegewerk normalerweise üblich ist, und den Thoth Tarot als seine letzte Schrift vor dem Hintergrund seines ganzen Werkes »abzuhandeln«. Das Ganze wurde immer komplexer und persönlicher, und da es letztlich auch zu einer Aufarbeitung und Reflexion meiner magischen Vergangenheit und meiner Beziehung zu Ursi wurde, habe ich mir erlaubt, mit meinem Sermon nicht hinter dem Berg zu halten und alle persönlichen Gedanken einzustreuen, die den Zusammenhang erleuchten, vor welchem Hintergrund dieses Buch entstanden ist. Das ist die Asche auf dem Haupt des Künstlers: Letztlich ist alles, mit dem er sich beschäftigt, immer auch Teil seiner eigenen Projektion.


Ursi und Charles in Meersburg am Bodensee, 17. 8. 1980

Kommen wir zum Schluss. Ursi kehrte im April zu mir ins Haus zurück und hat bis sechs Wochen vor ihrem Tod gearbeitet. Daneben machte sie Bestrahlungen, um den Krebs ein wenig einzudämmen, was im Sinne einer besseren Lebensqualität für eine beschränkte Zeit auch gelang. Es war ein schöner Sommer mit einem letzten Urlaub anfangs August mit Illuma am kroatischen Strand, da wo die Krähen, wie sie lustig schrieb, kroah statt kraah schreien. In ihrer letzten Karte teilte sie weiter mit, dass sie geweint habe, als sie das Meer, das sie so sehr liebte, noch einmal sehen durfte. Das erste, was sie tat, war das Salzwasser zu kosten, um es auch glauben zu können. Nach ihrer Rückkehr verschlechterte sich ihr Zustand zusehends. Die Wucherung in den Gelenken erschwerte ihr das Gehen; sie musste täglich ins zehn Kilometer entfernte Geschäft gefahren werden. Ende September verengte der Krebs die Speiseröhre so sehr, dass sie nicht mehr schlucken konnte, und so entschloss sie sich, ein Implantat einzusetzen, eine ambulante Operation, von der sie sich nicht mehr erholen sollte. Das letzte Zusammentreffen mit alten Freunden bei uns im Restaurant Landscheide am 3. Oktober war vom erstaunlich detaillierten Träumen in alten Erinnerungen bestimmt. Sie konnte sich minutiös an alle Einzelheiten dreißig Jahre zurückliegender Erlebnisse erinnern. Es war der Sonntagabend vor der Operation, und ich fragte sie, ob wir die Sache nicht abblasen sollten, denn obwohl ich ihr zu diesem Eingriff riet, überkam mich plötzlich ein unangenehmes Gefühl. Sie selbst war auch unsicher, mischte aber die (Crowley-)Karten und kam zu einem klaren Ja.17 Danach ging es rasend schnell; ihr Gedächtnis wurde von Tag zu Tag schwächer. Am Ende wog sie fünfunddreißig Kilo und erkannte uns nur noch, wenn wir ganz nahe bei ihr waren und unsere Hände auf ihren Körper legten. Es war keine leichte Zeit. Die notwendige medizinische Betreuung auch zu Hause bekommen zu können, erwies sich als schwierig, denn in der Schweiz ist es beinahe schon verboten, Patienten in diesem Zustand in den eigenen vier Wänden zu pflegen. Man redete uns von allen Seiten ein, sie ins Spital einzuweisen, aber erstens gab es nichts zu betreuen, was wir nicht selber hätten tun können, und zweitens war es Ursis großer Wunsch, nach ihrer zwanzigjährigen Odyssee daheim zu sterben. Dabei waren Lussia und in den letzten Tagen auch Illuma der entscheidende Faktor; ohne ihre Hilfe hätte sich Ursis letzte Bitte nicht erfüllen können. Doch die Götter im Himmel waren uns wohlgesonnen und hielten ihre segensreichen Hände über uns, und es lief trotz der psychischen Schwere alles erstaunlich leicht und gut. Auch der Zeitpunkt ihres Heimgangs war von einer glücklichen Fügung bestimmt.

Es war der Tag, nachdem ich mit der Großen Arkana, der letzten Karte Universum fertig war und eine kurze Verschnaufpause einlegte. Die Sonne glühte und vertrieb den Nebel an diesem zwanzig Grad warmen Herbsttag, und es war für mich ein großes Geschenk, dass ich zugegen sein durfte, denn meist schlüpfen die Seelen aus dem Körper, wenn sie sich einen Moment unbeobachtet fühlen. Lussia und Simon, Illuma und ich lagen um sie versammelt im großen Bett und hielten sie in den Armen. Sie ging behütet im Kreis ihrer Freunde heim; ich hatte meinen Kopf an ihrem Kopf und war etwas verwundert, dass der letzte Atemzug kein Ausschnaufen, sondern ein Einatmen war. Sie ist am 8. November 2005 um 12.35 Uhr gestorben.

In der Todesanzeige konnte man lesen:

Trotzdem gibt es keinen Weg zurück, es gibt nur diesen Weg nach vorn,

um zu erfahren, was man gewonnen hat für den Umstand, dass man

die menschlichen Bilder seiner Sehnsüchte für immer verloren hat:

Nämlich die Freiheit der Ewigkeit immer neuer Horizonte und die

unerschütterliche Freude am Ende des Leidens als eine Quelle

 

des unerschöpflichen Anfangs.


Säntis, Herbst 2007: Abschied von Ursi im Freundeskreis

Seealpsee, rechts im Hintergrund der Säntis

The Attampted Beauty of Nightmar