Und tot bist Du!

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Und tot bist Du!
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Agatha Cross

Und tot bist Du!

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel „Wie alles begann“

2.Kapitel „Der Jäger“

3. Kapitel „Oh wie schaurig ist es übers Moor zu gehen“

4. Kapitel „Die Jagd beginnt“

5. Kapitel „Dunkle Schatten der Angst“

6. Kapitel „tua culpa“ (Deine Schuld)

7. Kapitel „Angst essen Seele auf“

8. Kapitel „Der Jäger nimmt die Fährte auf“

9. Kapitel „Asche zu Asche, Staub zu Staub“

10. Kapitel „Eine Spur verdichtet sich“

11. Kapitel „Lieb Moor magst ruhig sein“

12. Kapitel „Schlussakkord“

Impressum neobooks

1. Kapitel „Wie alles begann“

Es war September. Die Sonne hatte ihre Kraft noch nicht verloren. Die Menschen in dem kleinen Dorf Owl Mallow waren mit ihrer Gartenarbeit beschäftigt oder nutzten die noch verbleibenden schönen Sonnenstunden des Samstag Nachmittags und saßen auf Ihren Terrassen. Sogar Hummeln waren noch unterwegs. Die Vögel zwitscherten, von irgendwoher hörte man Kühe auf der Weide und vom Spielplatz an der Schule einige Kinder lärmen. Alles wirkte so friedlich, wie man sich eine Idylle auf dem Land vorstellt. Bis……….

Der alte Mann stützte seinen Kopf in beide Hände und wiegte ihn hin und her. Lautes Hundegebell bohrte sich wie ein Dolch in seine Gedanken. Er hasste diesen Hund. Laut klaffend rannte der kleine braunweiße Corgi seiner Nachbarin, Mrs. Lynch, den Gartenzaun entlang.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Sein Gesicht hatte mittlerweile eine gefährlich dunkelrote Färbung angenommen. Je länger das laute Gebell anhielt, desto mehr schäumte er vor Wut.

„Dieser Köter muss weg! Ich werde noch wahnsinnig!“ Er bekam vor Aufregung kaum noch Luft. Keuchend rannte er zur Küchentür, die zum Garten führte.

„Halt endlich Dein Maul, Du Mistvieh!“ brüllte er, seine Stimme überschlug sich fast vor Wut. Davon völlig unbeeindruckt lief der Hund weiter am Zaun entlang. Sein Gebell hatte jetzt eine quälend hohe Tonlage erreicht.

Der Mann nahm den erstbesten Gegenstand, den er finden konnte – einen Holzscheit, der vor dem alten Küchenofen lag - und warf ihn mit aller Kraft. Ein lautes Aufjaulen verschaffte ihm eine tiefe Befriedigung. Das Bellen verstummte schlagartig. Er atmete auf – endlich Stille.

Er ging in die Küche zurück, holte eine Flasche Whiskey aus dem Küchenschrank und trank in hastigen Zügen. Jeden Tag dasselbe. Immer wieder nervte ihn dieser Hund bis zur Weißglut. Wie oft hatte er der Lynch schon gesagt, sie solle dafür sorgen, dass der Köter diese ewige Bellerei lassen solle. Da läutete die Türklingel.

„Was ist denn nun schon wieder. Hat man denn hier nie seine Ruhe!“ Er öffnete. Wie eine Furie schoss Mrs. Lynch auf ihn zu.

„Sind Sie verrückt geworden?? Wie können Sie es wagen, meinen Bonny so zu verletzen!“

Die Haare wirr im Gesicht, Tränen liefen ihr in Strömen die Wangen herunter und das Makeup war verwischt, was ihr einen merkwürdigen Ausdruck verlieh. Vorwurfsvoll hielt sie ihm den aus einer klaffenden Wunde an der Seite blutenden Hund hin.

„Sie verdammter Idiot! Dafür bezahlen Sie! Ich werde Sie anzeigen!“

Er wirkte fast erstaunt. Was führte sich denn die Frau nur so auf? Sicher, der Hund blutete. Aber so schlimm konnte es wohl nicht sein.

„Mein Gott, Sie haben Bonny umgebracht! Er bewegt sich nicht mehr!“ kreischte sie und drückte den leblosen Hund an sich und taumelte auf ihn zu.

Er hastete in die Küche zurück, ohne die verzweifelte Frau weiter zu beachten. Mrs. Lynch stürzte hinter ihm her. Den toten Hund auf dem Arm und wild schluchzend. In diesem Moment stieg eine eiskalte Wut in ihm hoch. Eine riesige Welle unbeschreiblichen Hasses überkam ihn.

Er drehte sich langsam zu ihr um. Sein Gesicht war nur noch eine vor Wut entstellte Fratze. Die Frau wich entsetzt zurück.

„Lassen Sie mich in Ruhe!“ rief sie voller Angst und wich einen weiteren Schritt zurück.

„Was soll das! Warum sehen Sie mich so an! Sie sind doch schuld an allem!“

Irgendetwas in ihrem Innern sagte ihr, dass sie so schnell wie möglich aus dem Haus raus musste. Der Mann war ja nicht klar bei Verstand! Sie versuchte aus dem Raum zu flüchten. Er packte sie am Arm und riss sie zu sich herum. Der tote Hund fiel ihr aus den Armen.

Die aufgestaute Aggression des Mannes entlud sich mit geballter Wucht. Warum er plötzlich das kleine Beil in der Hand hielt, konnte er später nicht mehr sagen. Es war eben da. Mit voller Wucht schlug er unvermittelt zu.

Die Frau sank gurgelnd zu Boden, den Hund unter sich begrabend. Er schlug erneut zu. Immer und immer wieder. Blut spritzte ihm ins Gesicht und auf seine Kleidung. Eine große Lache Blut ergoss sich langsam aber stetig über den schwarz-weiß gefliesten Küchenfußboden.

Einen Moment später lehnte er sich schweratmend gegen die Tür, das Beil entglitt seiner Hand und fiel mit einem unwirklich klingenden metallischen Klirren auf den Boden.

Wie lange er so stand wusste er nicht. Irgendwann kam er wieder zu Sinnen. Plötzlich wurde ihm schwindelig. Langsam rutschte er mit dem Rücken an der Tür hinunter auf den kalten Boden. Schweißperlen glitzerten in seinem Gesicht und es dauerte Ewigkeiten, bis er begriff, was gerade geschehen war. Was sollte er jetzt nur tun?

„Ruhig“, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Dann sah er, dass er voller Blut war. Er ging zur Spüle und wusch sich minutenlang die Hände, Arme und das Gesicht. Dann ging er ins Schlafzimmer und wechselte rasch die Kleidung. Er würde die Sachen später im Gartengrill verbrennen.

Hatte die Alte von nebenan etwas gemerkt? Er ging zur Haustür, öffnete sie und sah nach rechts auf das Haus seiner Nachbarin. Ein altes kleines unscheinbares Häuschen ohne jeglichen Charme mit verwildertem Garten. Dort war scheinbar alles ruhig. Die dunklen Holzfensterläden waren geschlossen, um die späte Septembersonne abzuhalten.

Die Alte, so nannte er sie immer für sich, hörte sowieso kaum noch etwas. Sie war wesentlich älter als er, er schätzte sie auf mindestens 85 Jahre. Eine widerliche Person, immer neugierig, und ständig lästerte sie über ihn, vor allem seit seine Linda nicht mehr da war.

Er kehrte in die Küche zurück und trank gierig einen großen Schluck aus der Flasche. Seine zitternden Hände beruhigten sich langsam. Wo sollte er nur mit den toten Körpern hin? Wie sollte das bloß weitergehen?

Erst musste er etwas finden, worin er die Lynch und ihren Hund einwickeln konnte. Aber was dann? Dann fiel ihm der Keller ein. Ja, das würde gehen.

„Das Blut. Oh Gott, soviel Blut! Ich spüle es einfach weg“, dachte er in aufkeimender Panik.

In der Mitte der Küche befand sich ein Bodenabfluss. So hatten sie es früher auch in seiner Schlachterei getan.

Er wankte durch den Flur in Richtung Hintertür zum Garten, um in die Garage zu gelangen. Auf seinem Weg dorthin kam er an Lindas Foto vorbei. Er sah es liebevoll an und streichelte sanft mit seinen riesigen Händen über das Bild seiner geliebten Frau.

Doch plötzlich stieg ungeheurer Zorn in ihm hoch.

„Du bist schuld! Du hast mich hier allein gelassen!“ schrie er und warf das Bild krachend an die Wand.

Im selben Moment bereute er es auch schon. Er nahm das Bild vom Boden auf, das Glas war zersplittert. Er legte es auf die Kommode, Lindas Gesicht nach unten. Er wollte nicht, dass sie sah, was er getan hatte.

Dann ging er in den Garten und von da aus in die Garage. Dort lag noch die große Plastikfolie, in der der schöne Teppich im Wohnzimmer geliefert wurde, den sie sich kurz vor Lindas Tod gekauft hatten. Sie hatte ihn sich so sehr gewünscht. Sie wollte das Zimmer gemütlicher einrichten. Im Winter sollte er die Bodenkälte abhalten.

Drei Jahre was es jetzt her. Linda wurde plötzlich sehr krank. Krebs, keine Heilung möglich, so lautete das vernichtende Urteil der Ärzte. Eines Morgens fand er sie im Bad. Neben ihr lagen zwei Röhrchen Schlaftabletten.

Irgendetwas ging damals in seinem Kopf kaputt. So hatte es sein Hausarzt, Dr. Edwards, ihm erklärt. Und oft diese Erinnerungslücken. Das geht vorbei, hatte der Doktor gesagt.

Aber es ging nicht vorbei. Im Gegenteil. Es wurde immer schlimmer. Die Badewanne lief über und er konnte sich nicht daran erinnern, das Wasser angestellt zu haben. Zumal er ohnehin lieber duschte. Er wachte auf der Couch im Wohnzimmer auf. Aber er war sich sicher, sich in sein Bett gelegt zu haben.

 

Er schüttelte heftig den Kopf, um die Gedanken abzuschütteln.

„Charles, reiß´ Dich zusammen“, mahnte er sich selbst.

Er ging in die Ecke des Gartens zur grossen Eisentonne, in der sie früher ihre Gartenabfälle verbrannt hatten und entfernte die hölzerne Abdeckung. Dann nahm er die blutige Kleidung, legte sie hinein, goss etwas Brennspiritus darüber und warf ein brennendes Streichholz darauf. Fast hätte ihm die Stichflamme das frische Hemd versengt. Er konnte gerade noch rechtzeitig zurückweichen. Gedankenverloren stocherte er in der Glut herum und wartet darauf, dass das Feuer alles vernichtete.

Dann holte er die Folie, ging zurück ins Haus und breitete sie auf dem Wohnzimmerboden aus. Er ging durch den Flur an Lindas Foto vorbei in die Küche. Dort lag die Leiche der Frau, unter ihr der Hund.

„Endlich sind sie ruhig“, dachte er und ein irres Grinsen lag auf seinem Gesicht.

Ohne Skrupel fasste er die Tote unter den Armen, schleppte sie ins Wohnzimmer und legte sie unsanft auf die Folie. Dann holte er den Hund und warf ihn verächtlich auf den Bauch der Frau.

Hämisch lächelnd sagte er: „Und tot bist Du!“

Er wickelte die Körper sorgfältig ein und verklebte die Folie mit Klebeband. Dann verfrachtete er das Paket zur Kellertreppe und ließ es hinunterrutschen.

„Ich komme gleich wieder und kümmere mich um euch beiden Hübschen!“ rief er fast gutgelaunt. Er grinste immer noch.

„Ich muss nur noch eben sauber machen.“

Er ging durch den Flur in die Küche. Dabei kam er an dem großen antiken Spiegel vorbei, den Linda so geliebt hatte.

Er sah hinein und wich erschreckt vor seinem Spiegelbild zurück. Von dem einst so stattlichen Mann war nur noch ein alter, gebrochener Mann von 70 Jahren übriggeblieben, der kaum noch Haare und ein aufgedunsenes Gesicht hatte, was eine durch übermäßigen starken Alkoholkonsum ungesund rote Farbe aufwies. Ohne den Alkohol, den er häufig und oft in großen Mengen trank, war die Einsamkeit einfach nicht zu ertragen.

Die einst so stolze aufrechte Haltung war seit Lindas Tod gewichen, und er ging nur noch gebeugt, als ob die Last der letzten Jahre ihn zu erdrücken drohte. Er starrte mit leeren Augen in den Spiegel. Irgendwann riss er sich los und ging in die Küche, um die Spuren der Tat zu beseitigen.

Er ließ Wasser in einen großen Putzeimer laufen, nahm einen alten Aufnehmer und begann hastig die Schränke abzuwischen. Dann schüttete er immer wieder Wasser auf den Boden und schrubbte den Fußboden mit kräftigen Zügen sauber. „Fast wie früher in der Schlachterei“, sagte er sich. Mit einem Abzieher lenkte er die rote Brühe in den Ausguss. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis auch der letzte Rest verschwunden war.

Zufrieden sah er sich um. Es sah alles wieder sauber aus. Als er in den Flur kam, sah er die blutige Schleifspur, die die Leiche hinterlassen hatte. Er fluchte laut. Er holte erneut Eimer und Aufnehmer und wischte alles weg. Niemand würde merken, was hier geschehen war. Dann ging er in Keller.

Er zog das grausige Paket in die hinterste Ecke und deckte es mit alten Kartoffelsäcken zu. Man wusste ja nie. Lieber erst einmal dafür sorgen, dass nichts sichtbar war. Durch die kleinen vergitterten Kellerfenster konnte man nicht in den Keller sehen. Das beruhigte ihn sehr. Jetzt war alles gut.

Dann stieg er die Kellertreppe wieder hinauf, schaltete das Licht aus, schloss die Kellertür, ging in die Küche und schüttete sich ein Glas Whiskey ein. Genüsslich trank er ihn in großen Schlucken. Ein Gefühl von Befreiung und Zufriedenheit durchströmte ihn. Nie wieder würde dieser Hund nerven. Und die Lynch auch nicht. Es hatte alles wieder seine Ordnung.

„Siehst du Linda. War doch alles gut so. Jetzt herrscht endlich wieder Ruhe“, und prostete ihr zu, so als säße sie auf dem Stuhl ihm gegenüber. In dem Moment fiel das Bild im Flur von der Kommode herunter.

Er erschrak sich fast zu Tode. Vorsichtig ging er dem Geräusch nach. Als er sah, dass das Bild seiner verstorbenen Frau auf dem Boden lag, wurde ihm heiß und kalt. Natürlich wäre sie nicht damit einverstanden gewesen, was er getan hatte. Er nahm das Bild auf und legte es wieder mit dem Gesicht nach unten auf die Kommode zurück. Scham trieb ihm die Röte ins Gesicht. Es war jetzt nicht mehr zu ändern.

Plötzlich überkam ihn eine ungeheure Müdigkeit. Er wollte nur noch schlafen. Er schlurfte in sein Schlafzimmer und legte sich auf sein Bett. Wehmütig sah er nach rechts, wo seine Linda immer gelegen hatte. Zärtlich strich er über ihr Kopfkissen. Manchmal roch er sie noch. Tränen liefen über seine Wangen. Er war so allein, so einsam ohne sie.

Der nächste Morgen graute, als der alte Mann erwachte. Das Bett neben ihm war leer, wie jeden Morgen. Ihn fröstelte. Er warf die Bettdecke zurück und zog seine Hausschuhe an. Lustlos schlurfte er in die Küche. Hunger hatte er wieder nicht.

Er ging zum Küchenschrank und nahm sich eine Flasche Whiskey heraus. Gierig setzte er die Flasche an und trank. Bald fühlte er die Wärme. Mit der Flasche in der Hand ging er ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.

Auf seinem Lieblingssender BBC liefen nur die verschiedenen Regionalprogramme. Er konnte sich ohnehin nicht richtig darauf konzentrieren. Gedanken an den gestrigen Tag schlichen sich ein.

Ein Film spulte sich in seinem inneren Auge ab. Die Tat selbst bereute er nicht. Im Gegenteil. Auch jetzt empfand er immer noch das Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit, dass der Hund nicht mehr bellte und die Lynch nicht mehr keifen konnte.

Nur die Fahrt vor ein paar Tagen ins Moor und die Rückfahrt gingen ihm immer wieder durch den Sinn. Es hatte derart gestürmt, dass ihm beinahe ein Ast auf sein Auto gefallen wäre. Das war wirklich knapp gewesen. Eigentlich fast schade, dass er nicht vor den Baum gefahren war. Dann hätte alles jetzt ein Ende. Und er wäre wieder bei seiner Linda.

Die nächsten Tage spielten sich immer auf dieselbe Art und Weise ab. Er sah stundenlang fern, trank viel, aß nur wenig.

Aber einmal am Tag ging er zur Kellertür und lauschte, als ob er erwartete, dass die Toten wieder auferstehen würden. Es blieb still. Es war überhaupt sehr still im Haus, bis auf den Fernseher. Niemand besuchte ihn, niemand rief ihn an.

Wer auch. Kinder hatten sie nicht. Die Nachbarn mieden ihn seit Lindas Tod. Auch die wenigen Freunde hatten sich abgewandt. Jeden Abend, wenn er sich schlafen legte, hoffte er, dass es kein Erwachen gab. Aus einem sich ihm nicht erschließen wollenden Grund musste er weiter sein einsames Leben führen. Also lebte er sein Leben.

2.Kapitel „Der Jäger“

Das Wetter war umgeschlagen. Der Herbst hielt mit aller Macht Einzug. Alles wirkte nur noch grau und ungemütlich. Der Wind blies kalt um die Häuserecken von Devonhall und die sonst so belebte kleine Fußgängerzone war fast menschenleer.

DI Peter Ashton von der Polizeistation in Devonhall quälte sich durch den Stadtverkehr. Natürlich sprangen sämtliche Ampeln auf rot. Wie immer, wenn man es eilig hat. Der Parkplatz direkt vor dem Bahnhof war überfüllt. Er musste eine Weile warten, bis endlich eine Lücke frei wurde. Die Zeit brannte ihm langsam unter den Nägeln.

DI Tom Barns stand unschlüssig auf dem Bahnsteig 2 des kleinen Bahnhofs. Eigentlich sollte jemand da sein, der ihn abholte. Sein neuer Kollege, hatte ihn gestern extra deswegen in London angerufen.

Er prüfte sein Handy. Keim Empfang, auch das noch. Das fing ja gut an.

„Hallo Mr. Barns. Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Aber die Parkplatzsuche gestaltete sich als äußerst schwierig“, ertönte es plötzlich hinter ihm.

Barns drehte sich um. Peter Ashton lächelte etwas unbeholfen und strich seine braunen Haare, die ihm der Wind ins Gesicht blies, zurück. Barns musterte den knapp vierzigjährigen Kollegen, der in einem sehr teuer aussehenden dunkelblauen Anzug mit dezenter Krawatte vor ihm stand kurz und brummte nur.

„Ach Du lieber Himmel“, dachte Ashton. „Das fängt ja gut an.“

Zumal er vorgewarnt wurde, das Barns sehr speziell sein sollte. Aus London von der Metropolitan Police strafversetzt, weil er letztes Jahr zu seinem fünfundfünfzigsten Geburtstag den Wagen seiner früheren Frau aus Wut über deren Unterhaltsvorstellungen in dem totschicken Friseursalon an der Kensington High Street in London geparkt hatte. Die Angelegenheit hatte damals viel Wirbel ausgelöst.

„Folgen Sie mir bitte unauffällig“, versuchte Ashton den Fehlstart zu berichtigen.

Aus dem Augenwinkel heraus betrachtete er seinen neuen Chef und Kollegen von der Seite. Ein nicht unattraktiver Mann für sein Alter. Wache Augen, dunkle Haare, die Schläfen bereits ergraut. Aber dieser Trenchcoat. Erinnerte ihn irgendwie an Columbo.

Barns sah in wortlos an und zuckte nur mit den Schultern. Die beiden Männer gingen schweigend aus dem Bahnhof zum Auto, das auf dem Vorplatz ganz am Ende stand.

Ashton öffnete die Tür eines Bentley Corniche, Baujahr 1972.

„Ist das etwa unser Dienstwagen?“ fragte Barns mit finsterem Gesicht. Er konnte es nicht fassen, dass ein junger Beamter ein derart teures Auto fuhr.

Ashton zog die linke Augenbraue hoch.

„Das ist mein Privatwagen. Wie Sie sehen, Sir, ist der Wagen ein Oldtimer. Ich fahre grundsätzlich keinen Dienstwagen“, verkündete er stolz und näselte dabei vornehm.

„Auch das noch“, dachte Barns und stieg ein. „Wer es sich leisten kann“, sagte er laut.

Die Fahrt verlief ohne viele Worte. Ashton überlegte verzweifelt, worüber er mit seinem Vorgesetzten reden sollte. Barns sah aus dem Fenster.

„Provinz“ dachte er, „nicht mein London.“ Innerlich seufzte er tief.

„Wo wohnen Sie denn in Devonhall?“, versuchte Ashton das Gespräch zu beginnen.

„St. Michael`s Inn“, kam es lakonisch zurück. ?

„Nicht schlecht. Wird aber teuer mit der Zeit. Sie sollten so schnell wie möglich eine Wohnung suchen.“

Barns antwortete nicht und starrte weiter aus dem Fenster.

„Na dann eben nicht“, dachte Ashton. Er hatte es nur gut gemeint. Nach einer Weile bogen sie auf den Behördenparkplatz ein. Ashton parkte den Wagen.

„Dort müssen wir hin.“

Er deutete auf ein düster wirkendes Behördenbau. Die beiden Männer betraten das Gebäude und fuhren mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Dort befanden sich die Räumlichkeiten der Abteilung für Kapitalverbrechen.

Mit den Worten: „Ich darf vorgehen, Sir“, übernahm Ashton die Führung durch die Büroetage.

„Ich melde uns schnell bei Ms. Ellis an. Das ist die Sekretärin von Chief Superintendent Reed.“

Ashton klopfte an einer Tür.

„Immer hereinspaziert“, klang es von drinnen fröhlich.

„Mr. Barns wäre jetzt da“, Ashton grinste.

Die kleine, zierliche blonde Frau lächelte ihn an.

„Der Chief hat jetzt noch keine Zeit. Ich melde mich, wenn er frei ist.“

„Sehr schön. Wir erwarten dann Ihren Anruf“, entgegnete Ashton höflich.

Er ging eiligen Schrittes den Flur entlang bis er auf der rechten Seite eine Tür öffnete.

„Hier befinden sich unsere Räumlichkeiten, Sir“, Ashton winkte einladend.

Barns betrat das sehr kleine Büro. Zur Ausstattung gehörten lediglich zwei kleine aber moderne Schreibtische nebst PC und Telefonen. An der linken Wand standen Aktenschränke.

„Ach du lieber Himmel“, dachte Barns.

„Da hat man ja keine Luft zum Atmen“, sagte er laut.

„Sparmaßnahmen. Größere Büros sind nun mal nicht möglich. Man gewöhnt sich daran.“

Ashton lächelte etwas verlegen.

„Sie sind aus London wohl was anderes gewohnt, Sir?“

Statt einer Antwort ging Barns mit den Händen in den Hosentaschen zum Fenster, öffnete es, um frische Luft hineinzulassen. Sein Blick fiel auf den Behördenparkplatz, der mit Autos gut gefüllt war.

Mit Wehmut dachte er an sein Londoner Büro. Von dort aus sah man auf die Themse und konnte die vorbeifahrenden Schiffe und Containerriesen beobachten.

„Der Chief ist übrigens sehr nett. Sie werden angenehm überrascht sein, Sir“, sagte Ashton.

Barns sah weiter aus dem Fenster ohne zu antworten. Seine Laune wurde immer schlechter.

Es klopfte sanft an der Tür. Ms. Ellis streckte den Kopf zur Tür herein.

„Der Chief wäre jetzt frei.“

Barns und Ashton folgten ihr zum Büro des Leiters der Abteilung für Kapitalverbrachen. Barns hatte schon viel über ihn gehört. Streng aber gerecht. Seine Mitarbeiter mochten ihn.

 

Die Sekretärin kündigte Barns bei ihrem Chef an.

„Na, denn mal herein mit ihm“, ertönte eine tiefe sonore Stimme aus dem rustikal eingerichteten Büro.

Barns betrat das Büro mit einem flauen Gefühl in der Magengegend. Ihm war es peinlich, dass der neue Chef natürlich wusste, warum er strafversetzt worden war.

Barns sah einen Mittfünfziger mit brauner Strickjacke und Ellbogenflicken aus Leder hinter dem großen Schreibtisch sitzen.

Die Brille auf der Nasenspitze und in der linken Hand eine Tasse mit heißem Tee.

„Ihre Anreise war gut?“ fragte Michael Reed freundlich.

„Ging so, Sir“, antwortete Barns. Mit den Worten: „Nehmen Sie doch Platz“, deutete der Chief auf eine kleine Sitzgruppe vor dem Fenster.

Barns wählte einen Sessel, der bequemer war als er aussah.

„Nun nehmen Sie das mit Ihrer Versetzung mal nicht so schwer. Ich weiß, dass Sie ein guter Ermittler sind. Sie werden sich hier schon einleben. Und Ashton ist ein wirklich netter Kerl. Sie haben sich vielleicht schon über sein Auto gewundert.“ Barns nickte.

„Sie müssen wissen, dass Ashton aus einem altem Adelsgeschlecht in Uptown Shire stammt. Seine Eltern sind die Viscounts of Uptown Shire. Und unser Ashton ist ein leibhaftiger Earl. Sehr zum Leidwesen seines Vaters ist er zur Polizei gegangen.“

Das erklärte seinen schicken Anzug und die vornehm näselnde Ausdrucksweise. Barns mochte den Adel nicht besonders.

„Aber keine Sorge. Ashton ist ein guter Polizist. Ihm fehlt nur ein wenig Erfahrung.“

Barns sah seinem Gegenüber fest in die Augen.

„Wir werden sehen. Ich gebe mir Mühe, Sir.“

„Ihr Dienstbeginn ist ja erst morgen. Jetzt fahren Sie erst einmal in Ihr Hotel und ruhen sich etwas aus. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“

Michael Reed erhob sich von seinem Sessel und reichte Barns die Hand zum Abschied. Der nickte kurz und verließ innerlich aufatmend das Büro.

Ashton saß wartend im Vorzimmer.

„Die Höhle des Löwen gut überstanden, Sir?“ fragte er schelmisch lächelnd.

Barns antworte nur kurz, dass er jetzt in sein Hotel fahren möchte und ob Ashton hin dort hinbringen könne.

„Na klar. Und morgen früh hole ich Sie um halb acht wieder ab.“

Dann verließen sie das Gebäude und fuhren zum St. Michael`s Inn in der Uptownstreet. Barns schien keine Augen für die Gegend zu haben. Missmutig sah er aus dem Autofenster. Ashton hielt in der schmalen Straße vor dem Haupteingang des Hotels.

„Bis morgen dann, Sir.“

„Bis morgen“, sagte Barns und stieg aus.

In der Hotellobby angekommen, ging er zur Rezeption.

„Zimmer 208 bitte“.

Die freundliche Dame hinter dem Tresen händigte ihm den Schlüssel aus.

„Ihre Koffer sind schon angekommen. Wir haben sie bereits auf Ihr Zimmer gebracht.“

Barns dankte ihr, reservierte sich einen Tisch für das Abendessen und fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock. In seinem Zimmer angekommen, sah er sich um. Der Raum war nicht zu klein, gediegen eingerichtet und sauber. Der Ausblick aber war wieder enttäuschend, Häuser und Straße.

Er ließ sich müde auf sein Bett fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte missmutig minutenlang an die Decke. Dass ihm das passieren musste. Er, der Spitzenermittler , die Bulldogge, in London. Und alles nur wegen dieser blödsinnigen Parkaktion.

Aber es war im Moment nicht zu ändern. Wenn genügend Wasser die Themse hinuntergeflossen war, würde man schon weiter sehen.

Seufzend erhob er sich und begann seine Koffer auszupacken. Der Kleiderschrank war natürlich zu klein. Also ließ er einige Kleidungsstücke im Koffer, den er auf den Schrank schob.

Das Bad war einigermaßen großzügig und hatte sogar eine Badewanne. Plötzlich verspürte er Hunger. Das Hotel verfügte über ein gutes Restaurant, so stand es wenigstens im Reiseführer.

Er hatte zum Glück einen Tisch bestellt, denn das Restaurant, mittlerweile ein Geheimtipp in Devonhall, war schon fast bis zum letzten Platz besetzt.

Barns bestellte sich einen Sunday roast mit Yorkshirepudding, das wirklich sehr gut war. Er hielt sich aber nicht lange mit dem Dinner auf und ging zurück auf sein Zimmer. Dort zog er sich aus, legte sich hin und schaltete den Fernseher ein. Es dauerte nicht lange und er fiel in einen unruhigen und nicht gerade erholsamen Schlaf.

Um sechs Uhr am nächsten Morgen klingelte das Telefon.

„Sie wollten geweckt werden“, ertönte die computergesteuerte Weckstimme des Hotels.

Barns wälzte sich aus seinem Bett. Er fühlte sich wie gerädert. Er erledigte seine Morgentoilette und ging hinunter in den Frühstücksraum, um zu frühstücken. Nach der ersten Tasse eines starken Tees mit Milch verbesserte sich seine Laune zusehend und er genoss sein reichhaltiges Frühstück.

„Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Morgen, Sir“.

Ashton war gekommen, um ihn abzuholen.

„Guten Morgen, Ashton. Wir können sofort los.“

Barns betrachtete seinen Kollegen missmutig. Wieder wie aus dem Ei gepellt. Sein eigener Anzug war von der Stange und hatte schon bessere Zeiten gesehen. Für das Londoner East End hatte es immer gereicht.

Ashton lenkte den Bentley durch die vollgestopften Straßen. Immer wieder musste er bremsen, weil andere Autofahrer oder Radfahrer ihn bedrängten.

„Verflucht noch eins“, schimpfte er. „Jeden Morgen dasselbe Theater!“

In London war das auch nicht anders.

„Stell dich nicht so an, typisch Adel. Immer glauben die,dass jeder denen Platz machen muss“, dachte Barns.

Endlich fuhren sie auf den Behördenparkplatz und fanden mit Glück noch eine freie Lücke. Sie fuhren wieder mit dem Fahrstuhl in ihr Büro.

Dort angekommen, nahm Barns an dem freien Schreibtisch Platz, schaltete den PC ein und ordnete seine Bürountensilien. Ashton hatte sich ebenfalls an seinem Arbeitsplatz niedergelassen.

„Müssten wir nicht über die aktuellen Fälle sprechen?“ begann Barns das Gespräch.

„Da gibt es zur Zeit nicht viel. Die Verbrecher machen scheinbar Urlaub. Eigentlich haben wir nur zwei Fälle: eine alte Frau mit blutender Kopfwunde in ihrer Wohnung und eine Tablettenvergiftung, junger Mann, 28 Jahre alt. Beides sieht nicht nach Mord aus. Leider“, seufzte Ashton.

„Na, das ist ja wirklich sehr überschaubar.“

„Bei Ihnen in London war wohl mehr los, denke ich mir.“

„Und ob. Über Langeweile konnten wir nun wirklich nicht klagen. Hoffentlich geschieht bald etwas. Nur am Schreibtisch hocken ist nichts für mich.“

Ashton schmunzelte. Sein neuer Chef sprach mit starkem Cockney Akzent, typisch für das Londoner East End.

„Wird schon werden. Immer mit der Ruhe.“

Der restliche Tag verlief ruhig, ohne besondere Vorkommnisse. Ashton führte Burns durchs Haus und stellte ihn den Kollegen vor. Dann zeigte er ihm die nett eingerichtete Kantine.

„Das Essen ist eben Kantinenessen. Na ja, wer es mag“, Ashton lächelte und zog wieder eine Augenbraue hoch.

„Ich mag kein Kantinenessen. Wo kann man denn hier in der Nähe was bekommen?“

„Nur in der City selbst. Aber dafür haben wir eigentlich keine Zeit. So schlimm ist die Kantine nun auch wieder nicht. Und besser als einen knurrenden Magen zu haben.“

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