Das Tour-Tagebuch des frommen Chaoten

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Sonntag, 12. September

Anne, Gerald und ich machten uns heute Nachmittag auf zum Seniorenstift, um Angels beim Tanzen zuzuschauen. Riefen vorher noch mal an, um uns zu erkundigen, ob das geht. Die verantwortliche Person meinte, das sei kein Problem. Ihre alten Damen und Herren sähen gern mal neue Gesichter, sagte sie uns, aber wir müssten darauf gefasst sein, dass sie ein bisschen komisch reden und sich benehmen würden, da etliche von ihnen schon ziemlich abständig seien.

»Wie Tante Felicity im ›Eight Bells‹«, sagte Anne, als ich ihr davon erzählte.

Die Erinnerung an unsere früheren Ausflüge ins Eight-Bells-Wohnheim für Matrosenwitwen machte mich ein bisschen nervös. Die gute Tante Felicity, inzwischen längst dahingeschieden, behauptete immer stocksteif, ich sei vor einigen Jahren gestorben, und wenn Anne und ich sie besuchten, schien sie mein Aussehen als endgültige Bestätigung dieser fest verwurzelten Überzeugung aufzufassen. Einmal, als ich selbst im Zimmer stand, sogar direkt vor ihr, gab sie Anne den dringenden Rat, mich kremieren zu lassen, bevor ich anfinge zu stinken.

Clay House, das Seniorenstift, machte innen einen angenehm freundlichen und heiteren Eindruck, obwohl einige der alten Leutchen, denen wir heute begegnet sind, mich ein bisschen traurig gemacht haben. Gleich jenseits der sorgfältig verschlossenen Eingangstür stießen wir auf eine Dame mit rosigen Wangen, die wohl Ende achtzig, Anfang neunzig sein musste. Unterm Arm hielt sie einen ebenso antik aussehenden Teddybären an sich geklammert.

»Hallo«, sagte sie in freundlichem, etwas nervösem Tonfall.

»Ich heiße Elizabeth. Ich warte hier auf meine Mami und meinen Papi. Sie kommen bald, um mich abzuholen.«

»Oh, das ist aber schön«, sagte Anne. »Aber wollen Sie nicht erst noch beim Tanzen zuschauen, Elizabeth?«

Wie ein kleines Kind nahm Elizabeth Annes Hand und wir gingen einen langen, breiten Korridor entlang zu einem sonnendurchfluteten, rechteckigen Aufenthaltsraum, in dem zwanzig oder dreißig Heimbewohner auf ringsum an den Wänden aufgestellten Lehnstühlen saßen. An einer Seite des Raums, in der Nähe einer Durchreiche zu einer kleinen Küche, kniete Angels auf dem Boden und hantierte mit einem tragbaren CDSpieler. Als wir hereinkamen, blickte sie auf und sah uns. Sie winkte, wurde ein bisschen rot und lächelte; dann kümmerte sie sich weiter um ihre Musik.

Wenige Minuten später stand Mrs. Banyon, die Dame, mit der ich telefoniert hatte, auf und klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Nun, meine Damen und Herren«, sagte sie schwungvoll, »heute Nachmittag haben wir etwas ganz Besonderes. Angels Twitten ist hier und wird für uns tanzen – Sie erinnern sich doch alle an Angels, nicht? Sie hat uns schon einmal besucht.« Ihre Frage rief zustimmendes Gemurmel und hier und da ein Lächeln von einigen der betagten Heimbewohner hervor, doch etliche fuhren einfach fort, auf ihrem Stuhl zu schaukeln oder vor sich hin zu starren oder zu schlafen, während ein gebückt gehender Mann, in dessen Gesicht sich tiefe Unmutsfalten eingegraben hatten, einen Ausfall zur Tür machte und dabei mürrisch vor sich hin knötterte, er hasse »dieses blöde Rumgehopse«. Zwei Pfleger geleiteten ihn sanft zurück zu seinem Platz. Sie gingen sehr freundlich mit ihm um, aber ich konnte nicht umhin, Mitleid mit dem alten Mann zu empfinden.

»Und außerdem«, fuhr Mrs. Banyon fort, »haben wir noch drei weitere Gäste unter uns – Adrian, Anne und Gerald Plass, Freunde von Angels, die wir sehr herzlich hier begrüßen wollen.«

Wieder Gemurmel, Lächeln und hier und da ein Brummen. Dann war Angels mit ihrer Tanzdarbietung an der Reihe.

Inzwischen graute mir davor. Ich war richtig sauer auf Anne, weil sie von der Tournee gesprochen hatte, bevor wir Angels überhaupt hatten tanzen sehen. Falls ihr »künstlerischer Ausdruck«, wie ich vermutete und fürchtete, sich als eher gekünstelt und schlecht erweisen sollte, würde es scheußlich peinlich für uns alle werden. Irgendwie mussten wir es dann hinkriegen, nicht mehr von der Tournee zu sprechen, und sie würde natürlich genau wissen, warum nicht, und die Situation würde auf der ganzen Linie angespannt und unangenehm sein. Als die Musik begann und Angels ihre Ausgangsposition in der Mitte des Raums einnahm, war mir das Herz schwer.

Sie war fantastisch.

Das erste Musikstück, zu dem sie tanzte, war ein Orchesterstück im Staccato mit einem Chor, dessen vereinte Stimmen die Funktion eines zusätzlichen Musikinstruments zu haben schienen. Das Stück hatte einen drängenden, jagenden Rhythmus und einen leicht hysterischen Unterton, der einen aufregenden, fast gefährlichen Eindruck hinterließ. Angels begann mit langsamen, forschenden Bewegungen, als ob sie umhertastete und nach der Quelle der Musik suchte, wurde dann schneller und bewegte sich nach außen und wieder zurück in die Mitte, als ob sie sich ganz allmählich bewusst würde, dass diese Quelle in ihr selbst war. Jede Bewegung, langsam oder schnell, war so konzentriert und zielgerichtet, dass mir der Atem wegblieb und ich einen fast schmerzhaften Drang verspürte, Anteil zu haben an dem, was mit der Tänzerin geschah. Es war eine Geschichte. Es war voller Intelligenz, voller Kraft und voller Gefühl.

Keine Ahnung, was in den Köpfen der alten Leute vor sich ging, die ringsum in dem Raum saßen, aber es bestand kein Zweifel, dass die meisten von ihnen zumindest fasziniert und gefesselt waren von dem, was sie sahen und hörten. Auf dem Stuhl neben mir hatte Elizabeth während des ganzen Tanzes reglos gesessen, doch sobald er endete, drehte sie sich inmitten des dünnen Applauses zu mir um und bedeutete mir mit dem Finger, mein Ohr dicht vor ihren Mund zu halten.

»Mein Papi ist Doktor«, sagte sie, »und er kommt bald nach Hause.«

Angels bot noch drei weitere Tänze dar, jeder davon ebenso intensiv und faszinierend wie der erste. Ich nehme an, da sie ja wusste, dass wir kommen würden, hatte sie ihre besten Tänze ausgesucht, aber das hätte jeder andere genauso gemacht, ich auch. Als wir uns hinterher an dem Tee und dem Kuchen ergötzten, der durch die Durchreiche serviert wurde, sagten wir ihr, wie großartig wir sie gefunden hatten. Sie wurde wieder rot und machte ein sehr erfreutes Gesicht.

Nachdem wir allen zum Abschied gewunken hatten, kehrten wir durch den Korridor zurück zur Eingangstür, immer noch begleitet von unserer neuen Freundin und ihrem Teddybären. Als Mrs. Banyon uns die Tür aufhielt und dabei Elizabeth behutsam daran hinderte, mit uns hinauszugehen, schaute die alte Dame hinauf in Annes Gesicht und wiederholte, was sie bei unserer Ankunft zu uns gesagt hatte.

»Mein Name ist Elizabeth. Ich warte auf meine Mami und meinen Papi. Sie kommen bald und holen mich ab.«

Anne schaute in das müde alte Gesicht, kreuz und quer durchzogen von feinen Linien wie altes Porzellan, und auf den gebrechlichen Körper, der so leicht und substanzlos war, dass man kaum glauben konnte, dass er noch Leben enthielt.

»Das wird schön, Elizabeth«, sagte sie, »und Sie haben ganz bestimmt recht. Sie werden sehr bald kommen und Sie abholen.«

* * *

Bin enorm erleichtert, dass Angels so eine großartige Tänzerin ist. Anne, Gerald und ich verbrachten den Nachmittag zum Teil damit, darüber zu sprechen, wie sehr ihre Darbietung unsere geplanten Abende bereichern würde.

»Und noch etwas«, sagte Anne, »das eine oder andere von Zaks Bildern passt hervorragend zu den Tänzen. Ich sehe es schon vor mir! Ich kann es gar nicht erwarten.«

»Ganz zu schweigen davon, dass Leonard völlig aus dem Häuschen sein wird«, sagte Gerald, »dass er seine Angebetete mitnehmen kann, statt sie zurückzulassen. Die beiden sind total verschossen ineinander, stimmt’s?«

Fragte Anne, wieso sie so sicher gewesen war, dass wir keine Enttäuschung erleben würden.

Sie sagte: »Weiß ich nicht genau, nur hatte ich das Gefühl, hinter dem ganzen bedeutungslosen Gerede einem erwachsenen Menschen zu begegnen, als ich Angels kennenlernte. Das Problem ist nur, dass irgendetwas in dem Teil von ihr, der sich mit der Welt auseinandersetzen muss, offenbar durch Dinge, die uns eigentlich nichts angehen, ein bisschen durcheinandergeraten ist. Man muss schon genau hinhören, um heraushören zu können, was für ein Mensch sie im Herzen ist. Als sie mit diesen ganzen Sprüchen anfing, was das Tanzen ihr bedeutet, habe ich gar nicht so sehr auf die Worte gehört, sondern beobachtet, was in ihren Augen vor sich ging.«

Ich nickte. Sogar mir war so ein gewisses Leuchten in Angels’ Augen aufgefallen, als sie vom Tanzen sprach.

»Ich denke«, fuhr Anne fort, »die Wahrheit ist, dass ich spüren konnte, wie ein echter Tanz in ihr mitschwang. Hört sich das sehr albern an?«

»Überhaupt nicht. Aber ich wundere mich immer noch darüber, dass du gleich am ersten Abend etwas von der Tournee gesagt hast. Ehrlich gesagt, ich war ein bisschen sauer. Ich meine, wir hatten noch keine Gelegenheit gehabt, darüber zu reden, und es hätte dazu führen können, dass Leonard und Angels furchtbar verletzt und enttäuscht gewesen wären. War das nicht ein bisschen riskant?«

»Ich habe gewusst, dass du sauer warst, Liebling, aber …«

»Woher willst du gewusst haben, dass ich sauer war? Ich dachte, das hätte ich für mich behalten.«

Anne und Gerald brachen in Gelächter aus.

»Ach, Schatz, so etwas könntest du beim besten Willen nicht für dich behalten. Wenn du sauer bist, legst du immer den Kopf schief und presst deine Lippen zusammen und ziehst die Mundwinkel nach unten …«

»Und du schnaufst durch die Nase«, fügte Gerald hinzu.

»Das ist ja ein reizendes Bild, das ihr zwei da von mir malt. Wie ein Walross, das schlechte Laune hat. Aber wir kommen vom Thema ab. Ich hatte dich gefragt, Anne, wieso du es riskiert hast, Angels gegenüber die Tournee zu erwähnen, bevor wir sie hatten tanzen sehen?«

 

»Na ja«, sagte Anne zögernd, »auf die Gefahr hin, dass sich das wieder ziemlich albern anhört, ich glaube, ich habe es getan, weil es Momente gibt – nicht so oft, aber hin und wieder –, wo man einfach mal einen Umriss in die Luft zeichnen muss, damit Gott ihn ausmalen und in ein richtiges Bild verwandeln kann. Das glaube ich wirklich. Aber du hast recht, es ist riskant, und falls sich herausstellt, dass ich mich geirrt habe, hättest du wirklich allen Grund zu deiner Walrossnummer.«

»Ich frage mich«, sagte ich, »ob wir dieses Bild mit dem Walross vielleicht wieder vergessen könnten.«

»Kein Problem, Paps«, sagte Gerald und grinste mich an, wie er es immer getan hat, schon seit er ein Dreikäsehoch war, »du brauchst nur nie wieder sauer zu sein.«

Rief nach dem Tee bei Barry an, um zu fragen, ob es okay wäre, noch eine weitere Person mitzunehmen, und als Angels und Leonard heute Abend vorbeikamen, sagten Anne und ich ihr noch einmal, wie sehr uns ihr Tanz gefallen hatte, und fragten sie, ob sie nicht Lust hätte, mit uns auf die Tournee zu kommen und jeden Abend zwei oder drei Tänze zum Programm beizusteuern. Habe selten gesehen, wie Freude, Furcht und Begeisterung einander so im Kreis herum jagten, wie sie es in Angels’ Gesicht taten, als wir das sagten. Thynn konnte fast nur noch lallen vor Freude bei dem Gedanken, dass sein Schatz uns begleiten würde, aber er bekam, wen wundert’s, fast augenblicklich einen seiner crescendoartig anschwellenden Panikanfälle.

»Das ist ja toll!«, sagte er. »Das hätte ich nie gedacht, dass wir auf der Tournee zusammen sein könnten! Moment! Wartet mal, was ist denn mit den Hotels und so? Die sind doch alle ausgebucht. Da sind bestimmt keine Zimmer mehr frei. Und im selben Zimmer schlafen können wir nicht, weil ich doch Christ bin, so ein Pech! Nun kann sie doch nicht mitkommen.

Moment mal! Sie kann doch mein Zimmer haben und ich komme nicht mit. Nein, das hilft auch nichts; dann wären wir ja auf der Tournee nicht zusammen, und ich habe ihr doch nur mein Zimmer angeboten, damit sie mit auf die Tournee kann, damit wir auf der Tournee zusammen sind, und wenn ich nicht mitkomme, hat es ja keinen Sinn, auf mein Zimmer zu verzichten, weil wir ja nicht …«

»Mein lieber Leonard«, unterbrach Anne, die sehr gut wusste, dass solche Tiraden bis in alle Ewigkeit weitergehen können oder zumindest so lange, bis Leonard platzt oder vor Erschöpfung in Ohnmacht fällt. »Es ist bestimmt gar kein Problem, ein zusätzliches Zimmer zu buchen, und wenn doch, finden wir garantiert eine Lösung. Schlimmstenfalls kann sich Gerald in unserem Zimmer ein Feldbett aufstellen lassen oder so. Stimmt doch, Gerald?«

»Na klar«, sagte Gerald lächelnd, »und für ein mitreisendes Kind gibt es ja auch meistens Ermäßigung, oder? Allerdings muss Paps dann versprechen, mir eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, wie in den alten Zeiten.«

»Adrian«, warf Angels mit sorgenvoll gerunzelter Stirn ein, »ich würde wirklich gern mitkommen. Ich werde sicher ganz schrecklich nervös sein, aber es wäre toll, mit Leonard und euch allen zusammen zu sein und mal ein paar richtige Tänze zeigen zu können.« Sie wurde rot. »Ich meine – das soll natürlich nicht heißen, dass das im Clay House keine richtigen Tänze waren. Aber – na ja, ihr wisst schon … Das Einzige, was mir Sorgen macht, ist – nun ja, ihr seid alle Christen und die Abende werden sich um lauter christliche Sachen drehen und es ist nun einmal so, dass ich kein Christ bin.«

Fragend sah sie Anne und mich mit ihren großen, hellbraunen Augen an.

»Seid ihr sicher, dass ihr jemanden wie mich dabeihaben wollt? Wird das – wird das die Sache nicht irgendwie verderben?«

Manchmal ist es, als ob Anne und ich genau im selben Augenblick dasselbe erkennen. Nicht oft. Nur manchmal. Diesmal war es so.

Ich sagte: »Angels, ich bin ganz sicher, dass Gott möchte, dass Sie mit uns kommen, ob Sie an ihn glauben oder nicht.«

»Sie tanzen wie ein Engel«, sagte Anne, »und Gott hat schon immer Engel benutzt, um den Leuten Botschaften zu überbringen. Sie sind genau das, was er braucht und was wir brauchen. Ich bin so froh, dass Sie mitkommen.«

Den Rest des Abends verbrachte Anne am Telefon, und als wir ins Bett gingen, hatte sie die Unterbringungsfrage geklärt.

»Und das«, sagte Anne, während sie ihr Nachtlicht ausschaltete, »ohne dass du dem kleinen Gerald Gutenachtgeschichten vorlesen musst.«

Warum empfand ich einen kleinen Stich der Trauer, als sie das sagte?

Mittwoch, 15. September

Versprach Leonard, mich heute Abend im Gemeindesaal mit ihm zu treffen, um die Aufstellung und Bedienung des Projektors und der Leinwand zu üben. Er hatte die Sachen im Laufe des Tages bei einem Laden in der Stadt namens »Sights & Sounds« abgeholt und heute Abend war unsere einzige Gelegenheit, sie auszupacken und einen Blick darauf zu werfen, bevor am Freitag die Tournee beginnt.

Als ich ankam, stand Thynn in einer Ecke des Saals, presste die Hände gegen die Schläfen und starrte gebannt auf einen großen, quadratischen Metallrahmen, der mitten im Saal auf dem Boden lag und an dem an einigen Stellen eine große Bahn eines naturweißen, leinenähnlichen Materials befestigt war.

Ging vorsichtig auf Leonard zu und fragte ihn, was los sei.

»Also, ich habe dieses längliche Metalldingens zu einem Quadrat gemacht«, sagte er mit bebender, kaum hörbarer, traumatisierter Stimme, den Blick immer noch starr in die Mitte des Saals gerichtet. »Es wollte sich irgendwie nicht zu einem Quadrat machen lassen, weißt du. Es hat mich gebissen und gekniffen und versucht, sich wieder länglich zu machen, aber ich habe mit ihm gekämpft und es angeschrien und mich damit auf dem Boden gewälzt, und am Ende hat es nachgegeben. Jetzt ist es ein Quadrat. Schau!« Er gab ein kleines, irres Lachen von sich und deutete mit wedelndem Arm auf das Ding. »Es ist ein Quadrat. Das habe ich gemacht! Ich war es, der das lange, gerade Metalldingens zu einem Quadrat gemacht hat.«

»Sehr schön, wunderbar!«, sagte ich, so freundlich und aufmunternd ich konnte. »Gut gemacht, Leonard. Du hast recht, es ist ein großes Quadrat, genau wie es sein sollte, und jetzt müssen wir nur noch das Leinwandtuch befestigen, indem wir es auf all diese Metallknöpfe am Innenrand draufdrücken.«

»Habe ich schon versucht«, sagte Thynn, wandte mir seinen Blick zu und verdrehte die Augen wie eine Figur aus einem jener melodramatischen alten Stummfilme, die der Hölle einen Besuch abgestattet haben und für immer davon gezeichnet sein werden. »Ich habe es versucht, Adrian, aber dieses Monster von einer Leinwand – es hat es auf mich abgesehen. Es will mich zum Wahnsinn treiben und am Ende umbringen.«

Er drehte den Kopf und schaute auf die Uhr über der Durchreiche.

»Ich bin extra früher gekommen, weißt du, weil ich mal gucken wollte, ob ich alles fertig kriege, bevor du kommst. Ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um dieses lange Metalldingens zum Quadrat zu machen, und seitdem versuche ich, das Tuch zu befestigen.«

Argwöhnisch tat er einen Schritt auf die Mitte des Saals zu.

»Es sah ganz einfach aus, weißt du. Ich habe zuerst eine Ecke befestigt – das war gar kein Problem – und dann habe ich einfach an einer Seite weitergemacht und einen Knopf nach dem anderen hineingedrückt. Eine ganze Seite habe ich geschafft. Hat richtig Spaß gemacht. Ich war ganz happy. Und dann habe ich eine andere Seite gemacht. Ich dachte, das läuft ja alles wie am Schnürchen. Aber als ich mit der dritten Seite anfing, ging es plötzlich nicht mehr. Die Leinwand ließ sich nicht weit genug dehnen, und als ich auf die Knie gegangen bin und kräftig gezogen habe, ist die ganze erste Seite wieder abgegangen, und als ich dann die dritte Seite bis zum Ende zugeknöpft hatte, reichte die erste Seite nicht mehr bis an die Knöpfe. Ich habe wieder kräftig gezogen und dann ging die zweite Seite ab. Da bin ich wie verrückt auf dem Tuch herumgesprungen und habe es angeschrien und eine Frau kam herein, um den Saal zu putzen, und lief schreiend wieder hinaus.«

»Meine Güte! Und was hast du dann gemacht?«

»Na ja, dann habe ich beschlossen, erst mal tief durchzuatmen und es noch einmal zu versuchen. Ich habe mich an das Tuch angeschlichen wie eine Rothaut, Adrian, und nur einen Knopf zugedrückt und bin dann ganz beiläufig zur Tür hinausgegangen, als wollte ich nach Hause. Dann bin ich unerwartet wieder hereingekommen und habe noch einen Knopf zugemacht. Dann noch einen und dann noch einen, bis ich wieder zwei ganze Seiten zu hatte. Dann bin ich ganz plötzlich über die dritte Seite hergefallen, habe mich mit Gebrüll auf sie gestürzt und so fest an dem Tuch gezogen, wie ich nur konnte, um dieses Ding über den Knopf zu kriegen.«

»Und?«

Leonard drehte sich zu mir um, packte mich mit beiden Händen am Revers und redete fieberhaft auf mich ein.

»Sie sind alle abgegangen. Alle, Adrian. Sie gingen alle auf einmal auf und das Tuch gab so ein komisches, lachendes Geräusch von sich und sprang in die Luft, wickelte sich um meinen Kopf und versuchte, mich totzupeitschen und zu ersticken. Aber ich konnte mich irgendwie befreien und seitdem stehe ich hier in dieser Ecke und warte auf dich, damit wir es gemeinsam erwürgen können, falls es noch mehr Ärger macht.«

»Leonard«, sagte ich und löste behutsam seine Hände von meiner Jacke, »diese Leinwand ist ein lebloser Gegenstand. Sie hat kein Gehirn. Es ist nur eine Frage der richtigen Technik, um das Tuch zu befestigen. Das ist sicher knifflig, weil es sehr straff gespannt werden muss, weißt du. Sonst wären die Dias nicht richtig scharf.«

Thynn schüttelte langsam und zynisch den Kopf und sah mich an wie ein Mann, der mit knapper Not der Verfolgung einer wilden, angeblich ausgestorbenen Kreatur entkommen ist und nun Mühe hat, den Menschen daheim in der Zivilisation plausibel zu machen, was ihm passiert ist.

»Na, dann versuch du es mal«, sagte er. »Ich gehe nicht mehr in die Nähe dieses Dings. Es hasst mich.«

Während Thynn aus sicherem Abstand zuschaute, ging ich auf das Monster in der Mitte des Saals zu und musterte es einen Augenblick lang. Zufällig kannte ich den Trick, wie man die Leinwand an dem Rahmen befestigte, weil ich das schon einmal für eine Gemeindeveranstaltung gemacht hatte. Im Grunde war es geradezu lächerlich einfach, wenn man wusste, wie. Einen Moment lang liebäugelte ich mit dem inneren Anblick meiner selbst, wie ich mit links etwas erledigte, was Leonard nicht zustande gebracht hatte. Eigentlich lachhaft, die ganze Sache, wenn man bedenkt, wie chronisch unfähig ich zu allen praktischen Dingen bin.

Lass Leonard das machen.

Ulkig, wie einem manchmal so kleine Dinge in den Kopf kommen, nicht wahr? Kleine Eingebungen, die einerseits von Gott stammen, andererseits aber auch nur ein Haufen Blödsinn sein können, wie zum Beispiel bei jener denkwürdigen Gelegenheit, als ich dachte, Gott hätte mir vielleicht gesagt, ich solle mir einen Laubfrosch kaufen und ihn Kaiser Wilhelm nennen. Ich dachte schon, die Geschichte würde mich bis ans Grab verfolgen. Wenn ich es recht bedenke, kann es durchaus noch so weit kommen. Die anderen wärmen diese Sache immer noch jedes Mal auf, wenn sie finden, dass ich mal wieder auf den Teppich geholt werden müsste.

Lass Leonard das machen.

»Weißt du was, Leonard? Wie wär’s, du versuchst mal, die Knöpfe an zwei diagonalen Ecken festzumachen und dann von da aus weiterzuarbeiten?«

»Meinst du, das funktioniert?«

»Einen Versuch wäre es wert.«

Wie ein Jäger beim Anpirschen an einen waidwunden Büffel tastete er sich behutsam bis zu der Leinwand vor und löste, ein Auge zugekniffen, die beiden Knöpfe, die nach seiner letzten Attacke noch gehalten hatten. Wenige Minuten später hatte Leonard mit für seine Verhältnisse beängstigender Leichtigkeit alle Knöpfe befestigt und die Leinwand fest in den Rahmen eingespannt.

»Na so was«, sagte Thynn, als er zurücktrat und die Stätte seines Triumphes begutachtete, »das war der richtige Trick! Ich glaube, während der Tournee sollte lieber ich mich um solche Dinge kümmern, Adrian. Man braucht ein bisschen Fingerspitzengefühl dafür. Am besten überlässt du das mir.« Schließlich fügte er frotzelnd hinzu, »wollen wir ja nicht, dass etwas kaputtgeht, oder?«

Spielte mit dem Gedanken, einen Teil der Saalbestuhlung auf seinem Schädel zu zerschlagen, beschloss aber dann, diese Segnung für mich zu behalten …

 
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