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Meine Knie gaben nach, ich sackte zusammen. Bevor ich jedoch mit dem Rücken am Boden aufschlug, hatte Luan plötzlich seine Arme um meine Taille gelegt und hob mich hoch, als wäre ich nicht schwerer als eine Feder. Heiße Tränen brannten in meiner Kehle, doch ich wollte nicht vor ihm weinen. Nicht vor ihm.

„Es ist okay“, hörte ich seine tiefe Stimme neben meinem Ohr.„Es ist okay, Nell. Du kannst es rauslassen.“

Verwirrt blinzelte ich zu ihm auf. Als sich unsere Blicke trafen, begannen die gelben Streifen in seinen wunderschönen Augen zu leuchten. Und als er dann auch noch beide Hände an meine Wangen legte, war es endgültig um mich geschehen. Leise wimmernd neigte ich den Kopf an seine Brust und die Tränen rollten mir über die Wangen, durchnässten den Stoff seines T-Shirts an der Schulter, doch das schien ihm egal zu sein.

„Warum?“, schluchzte ich verzweifelt. „Warum mussten sie sterben?“

Er fuhr mit der Hand sachte über meinen Rücken und ließ sie dann auf meiner Taille ruhen, um mich näher an sich heranzuziehen. Doch er gab mir keine Antwort. Eine Weile standen wir einfach schweigend zusammen, ich weinte in seine Schulter und er legte das Kinn auf meinen Kopf und gab tiefe Laute von sich, die wunderschön klangen.

„Vor ein paar Tagen im Wald, weißt du noch?“, murmelte er schließlich, als meine Tränen versiegt waren. „Als du mich zum ersten Mal als Mutant gesehen hast. Ich habe die Kontrolle über mich verloren. Du hast es tatsächlich geschafft, dass ich einmal die Kontrolle verliere.“

Ich lächelte matt und löste mich von ihm. „Danke. Für gerade eben“, meine Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

Sein Blick füllte sich mit Wärme, die gleich darauf auf mich überging.

„Nein, du sollst dich nicht bedanken“, sagte er dann entschieden und ließ sich aufs Bett fallen. „Immerhin habe ich tatenlos zugesehen, wie dir Amber Notker eine Spritze in den Arm gerammt hat.“ Seine dunklen Wimpern senkten sich.

Nervös glitt ich neben ihm aufs Bett und konnte nicht verhindern, dass ich rot wurde. „Es gibt so vieles, was ich nicht verstehe.“

Luan drehte den Kopf und sah mich an. „Deshalb bin ich ja zu dir gekommen. Bevor du überwiesen wirst, will ich dir einige Fragen beantworten.“

Mein Magen zog sich zusammen, aber ich versuchte, einen klaren Kopf zu behalten. „Peroll und Dad –Lenn –, sie sind wirklich fort? Für immer?“

„Ich nehme es stark an.“

In mir zerbrach etwas. Dunkelheit legte sich über mein Herz. Erneut griff die Kälte mit aller Kraft nach meiner Seele und zerrte unbarmherzig daran. Lenn war nie mein leiblicher Vater gewesen, das hatte ich erst vor weniger als 48 Stunden erfahren, doch er hatte mich immer wie seine eigene Tochter behandelt. Ich war sein Licht gewesen, seine Hoffnung. Und er meine. Jetzt wollte mir Luan erklären, dass er tot war? Einfach so? Ohne dass ich mich von ihm oder Peroll hätte verabschieden können? Mein Magen verkrampfte sich, ich schnappte nach Luft. Ich musste mich ablenken, musste auf andere Gedanken kommen, denn wenn ich jetzt keinen klaren Kopf behielt, wusste ich nicht, wie ich den nächsten Tag überleben sollte. Der Schmerz saß tief und das hässliche Loch in meinem Herzen würde sich nie wieder füllen, aber ich konnte nicht trauern. Nicht um Lenn und nicht um Peroll. Nicht jetzt und nicht hier. Ich hasste mich für diese Entscheidung, ich hasste es, dass ich meinen Schmerz unterdrückte und versuchte, nicht mehr daran zu denken, doch es musste sein. Der Tag würde kommen, an dem ich sie beide rächen würde, und dafür musste ich stark sein – sie hätten es so gewollt.

„Warum bin ich hier? Und was wollen sie von mir?“, wollte ich wissen.

Luan massierte sich die Schläfe. „Die Red Eyes machen gemeinsame Sache mit den Black und Blue Eyes. Zusammen haben sie dieses Lager gegründet, irgendwo im Nirgendwo. Sie suchen nach Mutanten aus allen Völkern und holen sie her, um an ihnen Tests durchzuführen.“

„Was für Tests?“, unterbrach ich ihn. Er ließ die Hand sinken und ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. „Sie testen die Stärke, die Kräfte und die verschiedenen Fähigkeiten der Mutanten. Ich weiß selbst nicht wirklich, was ihr Ziel ist, aber ich glaube, sie wollen uns als Waffen benutzen.“

Mir wurde kalt.

„Mit uns, den Mutanten, können die Red Eyes so gut wie jeden Krieg gewinnen. Die Besten von uns sind zu Dingen in der Lage, von denen normale Bürger nur träumen können“, fuhr er fort.

„Und warum bist du zu uns aufs Schloss gekommen und hast dich als ein Austauschschüler der Blue Eyes ausgegeben?“

Luan spannte die Schultern an. „Ich bin der Erste, der von den Red Eyes in den Außendienst geschickt wurde. Normalerweise kommen sie, sobald ein neuer Mutant entdeckt wird, immer mit großer Mannschaft an, weil natürlich keiner freiwillig mit ihnen geht. Bei dir ist es insofern schief gelaufen, dass ich eigentlich dein Vertrauen gewinnen sollte, um dich dann ohne großes Aufsehen ins Lager zu bringen. Aber dein Vertrauen hatte ich noch nie, das weiß ich nur zu gut und dann war da dein Fieber …“ Er brach ab.

Verwirrt sah ich ihn an. „Wann hatte ich denn Fieber?“

Er schüttelte den Kopf. „An dem Tag, als du mich mit den zwei Männern auf der Lichtung gesehen hast, haben wir ausgemacht, dass du in der Nacht zurückkommst, damit ich dir einige Fragen beantworte. Ich war da … und du auch, aber … du hattest hohes Fieber. Ich wusste nicht weiter und dann habe ich dich bis zur Straße getragen, an der Amber Notker bereits wartete. Ich hatte keine Wahl.“ Seine Stimme wurde flehend. „Ich konnte dich nicht einfach zurück zum Schloss tragen und dich vor die Tür legen. Und ich hatte auch keine Ahnung, dass Amber Notker auf uns warten würde. Sie haben dich mir einfach abgenommen und ich konnte nichts tun.“

Als sich die Fäden in meinem Kopf zusammengesponnen hatte, stieg Wut in mir auf. „Du hast mich also wirklich hintergangen – uns alle.“

Luan zuckte zusammen. „Ich hatte keine –.“

,,Man hat immer eine Wahl“, schnitt ich ihm das Wort ab.,,Du wolltest dich bei mir einschleimen und mich dann ausliefern.“

Ich fühlte mich entblößt und schnaubte. „Ist ja nicht ganz nach Plan gelaufen. Und was ist mit dem Auto? Als wir es gefunden haben, bist du abgehauen. Da hattest du deine Finger auch im Spiel, oder? Du wusstest, dass es die Red Eyes waren. Du wusstest es von Anfang an!“

„Nell …“.

„Hör auf.“ Ich beugte mich vor und sah ihn mit so viel Abscheu an, wie es nur ging. „Und du weißt sicher auch, warum meine Eltern überhaupt so plötzlich weg mussten, ohne mir Bescheid zu sagen, oder?“

Seine Schultern wurden steif. „Vom Lager aus wurde bei ihnen angerufen und gesagt, dass die Gray Eyes an der Grenze großen Ärger machen. Daraufhin sind sie losgefahren, völlig überstürzt … Aber davon wusste ich wirklich nichts. Das wurde mir erst erzählt, als ich im Lager angekommen bin.“

„Ich glaube dir kein Wort“, stieß ich hervor. „Dann war keiner mehr im Schloss, und du konntest in Ruhe … deine Arbeit zu Ende bringen.“

Meine Stimme überschlug sich mehrfach, so wütend und verletzt war ich.

Ich sprang auf, rannte zur Tür, öffnete sie und sah ihn auffordernd an.

„Verschwinde“, zischte ich. Luan sah mich flehend an, so verzweifelt hatte ich ihn noch nie zuvor gesehen. „Nell, ich hatte wirklich keine Ahnung, dass sie es so weit treiben würden und deine Eltern verletzen.“

„Verschwinde“, wiederholte ich lauter. Er stand auf und kam auf mich zu.

„Bitte, Nell … ich –.“

„Ich hasse dich, Luan Moor! Und weißt du was? Am Anfang, da habe ich dir sogar vertraut. Aber du hast Recht, jetzt ist es vorbei, jetzt ist alles vorbei.“

Mit Schwung packte ich seinen Oberarm und zog ihn nach draußen. Er sah mich überrascht an. Bevor ich noch einmal dieselbe Luft wie er einatmen musste, schlug ich die Tür zu und presste mich von innen dagegen. Ich wartete, bis er versuchte, sie aufzuschieben, aber es blieb still.

Keuchend trat ich einen Schritt zurück und starrte auf die Klinke. Fast wünschte ich mir, dass er zurückkam, unterdrückte den Gedanken aber so schnell wie möglich. Meine Wut auf Luan Moor, diesen Verräter, war so groß, dass ich mich fast übergeben musste.

Ein letztes Mal spürte ich den leichten Schauder auf meinem Rücken, dann entfernte sich Luan mit steifen Schritten und vor meiner Tür war keine Seele mehr.

7

Nell

Lou kam erst spät aus dem Gemeinschaftsraum zurück und ich hatte mich bereits bettfertig gemacht. Dexter war noch einmal dagewesen und hatte mir Schlafsachen und frische Unterwäsche gebracht. Letzteres war mir ziemlich unangenehm.

Ich hatte ihn nach dem Brand in Abteil 5 gefragt, doch er hatte sich verschlossen zurückgezogen.

Leise schlich Lou an mir vorbei, weil sie dachte, ich würde schon schlafen. Doch sie täuschte sich. Ich lag zwar mit geschlossenen Augen da, aber mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Ich ging den Nachmittag mit Luan noch einmal durch und schweifte bei der Tatsache ab, dass ich weder Mittag noch Abendbrot gegessen hatte. Mit dem Gedanken versank ich schließlich in einen leichten Schlaf.

Das Geräusch einer Dusche weckte mich.

Verschlafen richtete ich mich auf und sah mich im Zimmer um. Wie erstarrt hielt ich inne, als ich den stämmigen Mann erblickte, der vor der Badezimmertür stand. Er war etwas kleiner als Dexter, hatte aber genau wie er und Carter funkelnd rote Augen, die sich in meine Brust bohrten.

„Ich bin Logan“, stellte er sich höflicherweise vor. „Der Begleiter von Louana.“

„Ah“, machte ich und stand auf, nachdem ich mir ein Handtuch geschnappt hatte und es um meinen Körper presste. Logan folgte mir mit den Augen bis zur Badezimmertür, dann streckte er einen Arm aus.

 

„Sie ist gerade duschen“, sagte er mit hochgezogenen Brauen.

Ich konnte den Typen jetzt schon nicht leiden. Aber wenigstens sorgte er sich mehr oder weniger um Lou. Mit einem steifen Lächeln entfernte ich mich rückwärts Richtung Zimmertür. Diese wurde plötzlich geöffnet und ich stieß mit dem größtenteils nackten Rücken gegen Dexters Brust. Erschrocken fuhr ich herum und sah zu ihm auf.

Er grinste. Oh mein Gott, Dexter hatte, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte, nie auch nur den Ansatz eines Lächelns zustande gebracht.

„Überrascht?“, zwinkerte er mir zu, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Mit ernsterer Miene wandte er sich an seinen Kollegen. „Wann ist Lou fertig? Nell muss sich heute schnell fertigmachen, Amber hat die Ergebnisse der Blutproben bereits und will vorankommen.“

Logan nickte und klopfte an die verschlossene Badezimmertür. „Beeilst du dich bitte?“, rief er mit tiefer Stimme, die aber bei weitem nicht an die von Dexter rankam.

Die Dusche wurde abgestellt und kurz darauf kam Lou heraus. Ich kannte keinen Menschen, der sich so schnell abtrocknen und umziehen konnte. Doch Lou sah wunderschön aus. Ihre langen, braunen Haare, die bei meiner Ankunft noch etwas fettig gewesen waren, fielen ihr locker über die Schultern. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre Augen funkelten. „Morgen!“, grüßte sie und lächelte mich an. Es war seltsam, sie so fröhlich zu sehen, an einem Ort wie diesem.

Ich umarmte sie kurz und flüsterte ihr ins Ohr: „Alles wird gut.“

Sie nickte und löste sich von mir. Ich hatte nicht vergessen, was heute für sie anstand und ich hoffte inständig, dass es gut ausgehen würde.

Lou schob sich an mir vorbei und verließ mit Logan das Zimmer.

Ich schnappte mir die weißen Sachen vom Bett und trat in das aufgewärmte Badezimmer. Die Scheiben der Dusche waren beschlagen und ich stieg eilig hinein.

Nachdem ich mich in Rekordzeit geduscht und fertiggemacht hatte, entdeckte ich ein kleines Täschchen auf dem schmalen Regal an der Wand. Verwirrt nahm ich es an mich und entdeckte einfaches Tages-Make-up, das ich eilig auftrug, weil ich nicht davon ausging, dass Lou es von zu Hause mitgebracht hatte und deshalb böse auf mich wäre, wenn ich es benutzte. Dann sah ich das Foto. Es steckte ganz unten und war zerknittert, trotzdem konnte ich die junge Frau darauf erkennen. Ich nahm das Papier ganz heraus und nahm es genauer in Augenschein. Die Frau darauf hatte kurzes braunes Haar sowie dunkelbraune Augen. Sie war hübsch. Auf der Rückseite stand: Schutzengel sind Schutzengel und Göttinnen sind Göttinnen, aber eine Mom ist Schutzengel und Göttin in einem.

Tränen brannten mir in den Augenwinkeln, als ich an meine Mom dachte. Sie fehlte mir so sehr, dass man es niemals hätte in Worten beschreiben können. Ich konnte mir denken, wer die junge Frau auf dem Foto war.

Es war Lous Mom und auch wenn ich versuchte, dagegen anzukämpfen, beneidete ich sie dafür, dass sie ein Bild von ihr hatte. Denn ich hatte nichts, was mich an meine Mom erinnerte, außer spröde Gedanken, aber die waren dunkel und neblig.

Dexter signalisierte mir mit einem groben Klopfen, dass wir aufbrechen mussten, und ich versteckte das Foto wieder in der Tasche.

Sobald ich hinter Dexter den Raum betrat, in dem ich gestern schon gewesen war, schweifte mein Blick zu Luan. Er lehnte mit der Hüfte an Amber Notkers Schreibtisch und musterte mich von oben bis unten. Dann schnellten seine Augen wieder gen Norden und blieben kurz an meinen Lippen hängen, bevor er mich eindringlich ansah. Mein Blick begann zu flackern und nur mit letzter Überwindungskraft konnte ich seinem Bann engleiten. Ich richtete meine volle Aufmerksamkeit auf die Rothaarige, die auf mich zukam.

„Die Tests von gestern sind hervorragend. Genau genommen hast du etwas in deinem Blut, was mich sehr interessiert. Deshalb würde ich jetzt gerne noch einmal Blut abnehmen, allerdings an der Stelle, an der ich dir deinen Erkennungschip eingesetzt habe. Wenn sich diese Probe als positiv herausstellt, ist so gut wie sicher, dass du M-1 in dir trägst“, erklärte sie schnell und schien aufgeregt wie ein kleines Kind an Weihnachten, das kurz davor war, das größte Geschenk auszupacken.

„Und was genau ist M-1?“, fragte ich unsicher und blickte von Amber Notker zu Luan und wieder zurück.

Sie lächelte mich breit an. „M-1 ist schlicht und einfach die Abkürzung für Muster-1. Das ist eine Blutgruppe, die nur äußerst selten auftritt.“

„Und was heißt das?“ Ich fühlte mich ziemlich vor den Kopf gestoßen, als Amber Notker eine Spritze oberhalb meiner rechten Schulter unter die Haut schob und weißes Blut zum Vorschein kam.

Meine Unterlippe begann zu zittern.

„Keine Sorge. Alle Mutanten haben weißes Blut. Lou hat es dir bestimmt noch nicht erzählt, das liegt daran, dass sie es heute erst selbst erfahren hat. Aber eine weitere Auswirkung des Mute Curse ist auch, dass das Blut rot bleibt und nicht seine tatsächliche Farbe annimmt“, sagte Amber Notker, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Wahrscheinlich konnten das alle hier.

Nachdem sie mir das Blut abgenommen hatte und es in ein kleines Gläschen umgefüllt hatte, nahm sie ein Klemmbrett und einen Stift von ihrem Schreibtisch und begann, mit der Spitze leicht gegen ihr Kinn zu tippen.

„Zu deiner Frage von gerade eben“, meinte sie. „Wie schon gesagt bin ich ziemlich sicher, dass du M-1 hast. Wenn ich es nachweisen kann, und das werde ich, kannst du sofort in Abteil 2 gebracht werden. Dexter wird dich begleiten und dort wirst du in die erste Vorbereitungsphase eingeteilt.“

Ich zog die Brauen zusammen und verstand weniger als die Hälfte von dem, was sie mittlerweile von sich gegeben hatte- und das war eine Menge.

„Dexter wird dich jetzt in den Gemeinschaftsraum bringen. Ich muss leider wieder zurück zu Lou und noch einmal ein paar Testes durchführen“, sagte sie mit leicht gekränkter Stimme und kritzelte etwas auf das Klemmbrett.

„Wie geht es Lou?“, fragte ich und sah sie eindringlich an.

Amber Notker verzog das Gesicht. „Sie wird leider nicht mit dir umziehen können. Die Spritze, die ich ihr gestern Abend gegeben habe, hat sie nicht gut aufgenommen. Durch die vielen Strahlen auf ihrer Haut fließt das Blut langsamer und ihr Herz ist bereits ins Stocken gekommen. Ich musste sie in die obere Etage verlegen und dort wird sie gerade behandelt.“

Ich riss die Augen auf. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Ich kannte Lou nicht lange, aber trotzdem hatte sich ab dem ersten Moment etwas zwischen uns geregt, eine leise Freundschaft.

Ich musste wieder an das Foto ihrer Mom denken und meine Kehle schnürte sich zu. Ich würde ihr das Foto bringen. Jetzt. Sofort.

Entschlossen sprang ich auf und rannte zur Tür, kam aber nicht weit, da Dexter seine kräftigen Arme um meine Taille schlang und mich festhielt.

„Du kannst sie später besuchen“, raunte er in seiner tiefen Stimme, die mir inzwischen fast vertraut war. „Erst gehen wir in den Gemeinschaftsraum.“

Ich biss mir auf die Lippe und nickte. Etwas anderes hätte er sowieso nicht zugelassen. Dexter ließ mich los und öffnete mir die Tür.

„Wenn ich die Ergebnisse deines Tests habe, komme ich vorbei“, rief uns Amber Notker hinterher, während wir den Raum verließen.

Dexter lief an meiner Rechten und zu meiner Linken fand sich Luan ein. Ich hob das Kinn, damit ich neben ihm nicht wie eine Zwölfjährige wirkte und blickte stur geradeaus. Luan begann zu grinsen und ich fuhr herum.

„Was ist?“ Er hob unschuldig die Arme.

Wütend funkelte ich ihn an. „Warum kommst du überhaupt mit?“

Sein rechter Mundwinkel hob sich und das arroganteste Lächeln erschien, das ich je gesehen hatte. „Weil du dich in meiner Anwesenheit wohl fühlst.“

Ich schnaubte verzweifelt und wandte mich an Dexter. „Kannst du es ihm sagen?“

Dexter wischte sich über den Mund, um ein Grinsen zu verbergen, scheiterte aber kläglich. In mir brodelte es und ich war kurz davor, zu explodieren.

„Ich denke, es wäre besser, wenn ich euch beide für ein paar Stunden allein lasse“, sagte er mit erhobenen Brauen.

„Für ein paar Stunden?“, fragte ich perplex.

Er zuckte mit den Schultern. „Wir können das Ganze auch etwas abkürzen, aber ich muss noch eine Trainingseinheit vorbereiten und hole dich dann in einer halben Stunde wieder ab.“

Ohne noch einmal in mein empörtes Gesicht zu blicken, drehte er ab und verschwand hinter der nächsten Ecke.

„Der Gemeinschaftsraum ist eine Minute von hier“, meldete sich Luan zu Wort. Ich holte tief Luft und folgte ihm mit steifen Schritten. Selbst eine Minute war schon zu viel.

Als wir durch eine halb offene Glastür in einen riesigen Raum traten, fiel mir sofort der weiße Haarschopf auf, der mir ziemlich bekannt vorkam. Mein Rücken wurde von unregelmäßigen Schaudern heimgesucht und ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Doch plötzlich ahnte ich es, als hätten sich zwei Magnete gefunden und angezogen. Immer, wenn andere Mutanten in der Nähe waren, bekam ich diese Schauder auf dem Rücken … Es musste also eine Art Verbindung zwischen uns allen geben und da hier haufenweise Mutanten rumsaßen, waren die Schauder so stark und unregelmäßig.

Luan führte mich zu einem runden Tisch, der ganz in der Nähe von Davids stand. Vorsichtig warf ich einen Blick in seine Richtung und sah, dass er nicht allein war. Ein Mädchen saß bei ihm. Sie hatte dunkelbraune Haare, die ihr leicht wellig über die schmalen Schultern fielen. Als sie den Kopf drehte und mich ansah, erkannte ich ihre Augen. Sie waren schwarz und braun. Sie trug also die Kräfte der Black und Brown Eyes in sich.

Erst, als ich mich leicht vorbeugte, merkte ich, dass sie gar nicht mich ansah, sondern Luan. Mein Magen zog sich zusammen, als ihre Augen zu schimmern begannen und sie anfing zu lächeln. Langsam sah ich Luan von der Seite an und mein Herz setzte einen Schlag aus. Er lächelte zurück Und obwohl ich diesen Typen eigentlich abgrundtief hasste, ärgerte es mich, dass er sie anlächelte, und zwar nicht arrogant, sondern offen und … sexy? Ohne zu überlegen rammte ich ihm meinen Ellenbogen in die Seite. Er zuckte kaum zusammen, wandte den Blick aber ab und als er mich ansah, verschwand sein Lächeln. Ich schluckte schwer. „Kennst du sie?“, fragte ich mit geblähten Nasenflügeln und machte eine schnelle Kopfbewegung in die Richtung des Mädchens.

„Felicity? Ja, ich kenne sie ziemlich gut“, sagte er und lehnte sich zurück. Sein Blick ruhte auf meinen Lippen, während er sprach. „Sie ist so alt wie ich, also ein Jahr älter als du. Wir sind zusammen mit meinem Bruder eingeliefert worden, als wir zehn oder elf waren.“

„Moment mal“, ich schob mir eine Strähne hinters Ohr und war froh, dass er endlich den Blick von meinen Lippen hob und mir in die Augen sah. „Du hast einen Bruder?“

Luan zuckte mit den Schultern. „Klar.“

„Klar?“, wiederholte ich. „Warum hast du mir nichts von ihm erzählt?“

„Warum hätte ich das tun sollen, du hasst mich doch.“

Darauf konnte ich nichts erwidern, denn zwei dünne Arme schoben sich in mein Sichtfeld und vor Luan. Gleich darauf wurde ich vom starken Duft eines Parfums eingehüllt und bekam kaum noch Luft, weil es so intensiv war.

„Hey“, erklang eine helle Stimme. „Ich habe dich gesucht.“

Ich beugte mich zur Seite, um etwas sehen zu können, und bereute es gleich darauf. Die bildhübsche Felicity schaute Luan tief in die Augen und ihre Lippen waren nur wenige Zentimeter von seinem Mund entfernt, der sich zu einem warmen Lächeln verzogen hatte.

„Hat sich ja gelohnt“, erwiderte er.

Einige Strähnen glitten von ihren Schultern und berührten Luans Kinn. Sein Lächeln wurde breiter, als er sie zwischen zwei Finger nahm und begann, sie einzudrehen. Mir wurde übel und bevor ich mitansehen musste, wie dieses Model ihre vollen Lippen auf seinen Mund presste, erhob ich mich und stieß den Stuhl schwungvoll nach hinten. Felicity schnellte herum und musterte mich aus ihren schimmernden Augen.

„Wer ist sie?“, wollte sie mit erhobenen Brauen wissen.

Luan seufzte und erhob sich ebenfalls. „Ein stacheliger Kaktus, der nach Aufmerksamkeit lechzt, und um es genauer zu beschreiben, die Mutante, die aus unserem hübschen Duett ein langweiliges Trio macht.“

Mir fiel die Kinnlade herunter und ich konnte ihn nur anstarren. Felicity verzog den Mund, als hätte sie auf etwas Saures gebissen.

 

Und Luan – Luan grinste.