Buch lesen: «Ekiden»

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»Vor meiner Erleuchtung hackte ich Holz und trug Wasser. Nach meiner Erleuchtung hackte ich Holz und trug Wasser.«

Zen-Sprichwort

IMPRESSUM

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

Adharanand Finn: The Way of the Runner: A Journey Into the Fabled World of Japanese Running

im Verlag Faber & Faber, Bloomsbury House,

74-77Great Russell Street, London WC1B 3DA

Alle Rechte vorbehalten

©Adharanand Finn, 2015

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2021

© egoth verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise,

nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Rechteinhabers.

ISBN: 978-3-903183-33-9

ISBN E-Book: 978-3-903183-89-6

Übersetzung aus dem Englischen: Alison Flint Steiner und Robert Steiner

Lektorat: Dr. Rosemarie Konrad

Cover: DI (FH) Ing. Clemens Toscani

Grafische Gestaltung und Satz: DI (FH) Ing. Clemens Toscani

Umschlagillustration Rückseite: Shutterstock

Printed in the EU

Gesamtherstellung:

egoth Verlag GmbH

Untere Weißgerberstr. 63/12

1030 Wien

Österreich

ADHARANAND FINN

EKIDEN
DER
WEG
DES
LÄUFERS

EINE REISE IN DIE OBSESSIVE WELT DES JAPANISCHEN LAUFSPORTS

Aus dem Englischen von Alison Flint Steiner und Robert Steiner


Inhalt

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

DANKSAGUNG

DER AUTOR

PROLOG

Es ist Februar 2001. Ich stehe an einer Schulhofmauer in Hongo, einer Kleinstadt im Westen der japanischen Hauptinsel Honshu. Ich bin verkatert.

Am Vorabend hatte mich mein Bruder, der an dieser Schule als Lehrer arbeitet, vom Flughafen abgeholt, nachdem ich von London angekommen war, und mich direkt zu einem – wie er es nannte – Nacktfest mitgenommen. Das ganze Fest drehte sich nur darum, so viel Sake wie möglich zu trinken und nur mit einem Mawashi, einem Gürtel, wie ihn die Sumoringer tragen, bekleidet, mit etwa 200 gleichgesinnten Männern in der nächtlichen Kälte herumzustehen und zu versuchen, ein langes Stück Stoff zu erhaschen. Während wir alle darum kämpften, des Stoffes habhaft zu werden, schütteten Priester kaltes Wasser über uns. Dieses 200 Mann starke Gedränge tritt, zieht und drängt sich stundenlang in der Dunkelheit herum, bis einer der Recken dankenswerterweise das Stück Stoff triumphierend in die Luft hält und über eine Treppe in einem Schrein verschwindet.

Am nächsten Morgen erscheint ein Bild dieses Scharmützels in einer japanischen Tageszeitung, auf dem meine blasse Rückseite in der Mitte zu sehen ist. Ich weiß, dass ich es bin, denn in meinem recht angetrunkenen Zustand hatte ich jemanden gebeten, mir das Wort „Flash“ in großen Lettern auf den Rücken zu schreiben. Aus irgendeinem Grund hatte ich gedacht, ich wäre Flash Gordon. Ein Mann, der sich auf einem weit entfernten Planeten seinen Weg durch die Menge von Gegnern bahnt. Nach nicht einmal vier Stunden Schlaf ist mein Bruder schon wieder munter.

„Ich laufe einen Ekiden“, sagt er. „Willst du auch?“

Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ein Ekiden ist, doch Laufen ist im Moment das Letzte, an das ich an diesem Morgen denke. Ja, ich war einmal ein begeisterter Läufer, doch nach vielen Jahren hinter dem Schreibtisch eines Londoner Verlags bin ich verweichlicht und auch deutlich rundlicher als früher. Die Tage, an denen ich gerne lief, liegen hinter mir.

„Nein“, antworte ich und kratze mich im Nacken.

Stattdessen positioniert er mich vor seiner Schule, drückt mir einen Regenmantel in die Hand, der mich vor dem leichten Nieselregen schützen soll, und gesellt sich zu seinem Team. Wie sich herausstellt, ist ein Ekiden ein Langstreckenstaffellauf. Jede Stadt in Japan scheint so einen Ekiden zu veranstalten, und die Menschen beteiligen sich alle in irgendeiner Form daran. Wenn sie nicht selbst laufen, dann bieten sie sich als Streckenposten an oder kommen zumindest zum Wettkampf, um die Teilnehmer lautstark anzufeuern.

Ich stehe an der Mauer und nicke und verbeuge mich, während die Leute unter ihren Regenschirmen an mir vorbeigehen. Die Veranstalter und Offiziellen tragen passende gelbe Regenmäntel. Im Schulhof hinter mir versammeln sich alle. Durch das Gittertor beobachte ich, wie die Athleten in ihren Shorts und Sporttrikots auf dem nassen Schotter den Hof hinauf- und hinuntersprinten und sich auf das Rennen vorbereiten. Viele von ihnen scheinen Schüler der Mittelschule zu sein, doch es nehmen auch Männer und Frauen aller Altersklassen daran teil. Dann stellen sie sich auf, und als der Startschuss ertönt, ergießen sie sich wie ein Fluss aus dem Schulhof auf die Straßen der Stadt.

Langsam dringt der Regen durch meine dünnen Schuhe, und meine Füße werden ganz kalt, während ich auf der leeren Straße warte. Die Startläufer tragen ein Band, genannt Tasuki, das sie im Laufe des Rennens an ihre Teamkameraden weitergeben müssen, ähnlich dem Stab bei Staffelläufen in der Leichtathletik. Irgendwann sollte das Feld wieder an mir vorbeikommen, darunter auch mein Bruder.

Bis dahin vertreibe ich mir die Zeit damit, auf und ab zu marschieren, um mich warmzuhalten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht ein älteres Ehepaar unter zwei zusammenpassenden Regenschirmen und blickt gelegentlich die Straße hinauf. Es dauert fast eine Stunde, bis die Läufer auftauchen. Sie bewegen sich die Straße entlang, angefeuert von den Menschen am Straßenrand. Als mein Bruder dann auftaucht, überragt er mit seinen gut 1,92 Metern alle um ihn herum. Sein Gesicht ist rot, und der Regen läuft ihm in die Augen, doch er grinst mich an, als er an mir vorbeigaloppiert.

„Weiter so, Vinny“, rufe ich und wünsche mir plötzlich, selbst mitzulaufen. Es sieht so aus, als würde es Spaß machen. Zumindest mehr Spaß, als hier mit meinen kalten Händen, die ich in die Achselhöhlen gepackt habe, herumzustehen. Ich verspüre dieses Verlangen, meine Jacke wegzuwerfen und einfach loszulaufen. Es ist ein Gefühl, das ich oft habe, wenn ich bei einem Rennen zusehe und nicht selbst mitlaufe. Dann frage ich mich immer, warum ich eigentlich nicht selbst laufe. Dieser Wettkampf hier ist eine so freundliche, gemeinschaftliche Veranstaltung, an der sich die ganze Stadt beteiligt, dass ich mich irgendwie ausgeschlossen fühle, während ich nur so an der Mauer lehne.

Erst viele Jahre später soll ich erneut die Chance bekommen, einem Team beizutreten und bei einem Ekiden in Japan mitzumachen. Doch da bin ich vorbereitet, gut 13 Kilo leichter und ganz erpicht darauf, loszulaufen.

1

Ich betrete das an der Themse liegende Tower Hotel in London durch eine Drehtür. Es ist ein warmer Morgen im April 2013, nur wenige Tage vor dem London Marathon. Meine Beine fühlen sich frisch an. Ich bin bereit für das Rennen und kann die leicht knisternde Atmosphäre im Hotel der Eliteathleten bereits spüren.

Gleich beim Eingang, neben einer geschwungenen Marmortreppe, steht eine Gruppe von Leuten, tief ins Gespräch vertieft. Eine Person erkenne ich. Es ist Steve Cram, mein Laufidol aus Kindheitstagen. Er ist nun natürlich deutlich älter, seine Haare sind kürzer und glatter als zu seiner Glanzzeit, doch es ist derselbe Mann, dem ich vor so vielen Jahren im Fernsehen dabei zusah, wie er auf der Jagd nach neuen Weltrekorden in seinem gelben Trikot auf der Laufbahn dahinflog. Ich gehe weiter in die Lobby.

Als ich so dastehe, spazieren mehrere Läuferinnen und Läufer an mir vorbei. Unter anderem zwei Kenianerinnen in übergroßen Anoraks. Ihre streichholzdünnen Beine sehen aus, als würden sie unter dem Gewicht der Anoraks nachgeben. Sie sprechen so leise miteinander, dass man sie fast nicht hören kann. An der Rezeption unterhalten sich gerade zwei Holländer laut lachend mit einem Mann mit Sonnenbrillen und Kapuze über dem Kopf. Erst als ich seine Stimme höre, erkenne ich, dass es sich um Mo Farah handelt.

Es hat sich einiges verändert, seit ich vor zwölf Jahren verkatert an der Schulhofmauer in Japan stand. Irgendwann hatte ich wieder mit dem Laufen begonnen. Behutsam zuerst. Meinen ersten 10K lief ich dann in 47 Minuten. Für die nächsten beiden Jahre war das auch meine Bestmarke. Doch Schritt für Schritt ging ich mit mehr Ernst an die Sache heran, wurde Mitglied in einem Laufverein und ging auf immer längere Läufe. Dann übersiedelte ich kurzerhand nach Kenia, um dort zusammen mit den großen Läufern der Kalenjin im Rift Valley zu trainieren. Der Grund dafür war einerseits, meinen eigenen Laufstil zu verbessern, doch vielmehr war es die Mission, das Geheimnis rund um diese großartigen Langstreckenläufer zu enträtseln und zu verstehen. Ich wollte herausfinden, wer sie waren, was sie taten und was sie bewegte. Als ich wieder zurück nach England kam, schrieb ich das Buch Im Land des Laufens: Meine Zeit in Kenia.

In ein paar Tagen würde es wieder zum großen Duell zwischen einer Gruppe Kenianern und Äthiopiern kommen, die beide einen der renommiertesten Stadtmarathons der Welt für sich entscheiden wollten. Ich würde auch mitlaufen, irgendwo in der Masse der schwitzenden Menschen, die sich in einem ewig langen Schlauch hinter ihnen entlangziehen würden. Ich hoffte darauf, meine bisherige Bestzeit von 2:50 Stunden zu unterbieten. Dafür hatte ich hart trainiert, meine Ernährung umgestellt und mir die richtige Ausrüstung besorgt. Doch während ich heute in der Lobby des Tower Hotels stehe, interessiere ich mich weder für mich noch für die Kenianer. Heute halte ich Ausschau nach den Japanern.


Etwas passiert gerade in Japan. Für Außenstehende ist es leicht zu übersehen. Fast jedes große Straßenrennen der Welt wird von einer endlos scheinenden Abfolge von superschnellen Kenianern oder Äthiopiern gewonnen. Niemand anderer scheint eine Chance zu haben.

Doch auf einer kleinen Inselgruppe in Ostasien ergeben sie sich zumindest nicht kampflos. 2013, in dem Jahr, in dem diese Geschichte spielt, kamen nur sechs der 100 schnellsten Marathonläufer nicht aus Afrika. Fünf dieser sechs stammten aus Japan.1

Bei den Frauen kamen 2013 elf der Top-100-Marathonläuferinnen aus Japan. Und wieder war es deutlich die dritthöchste Zahl hinter Kenia und Äthiopien.

Im gleichen Jahr, ein Jahr nach den Olympischen Spielen 2012 in London, hatte es kein einziger britischer Läufer geschafft, einen Marathon in unter 2:15 Stunden zu beenden. In den Vereinigten Staaten blieben zwölf Athleten unter dieser Zeit. Doch in Japan, einem Land, das weniger als halb so viele Einwohner wie die USA hat, lag die Zahl viermal höher. Dort hatten 52 japanische Männer einen Marathon in unter 2:15 absolviert.

Im Halbmarathon ist Japan sogar noch stärker. Bei einem Halbmarathon in Ageo, einer Kleinstadt nördlich von Tokio, versammelten sich am Morgen des 17. November 2013 Hunderte Studenten in der Hoffnung, ihre Trainer vor dem wichtigen Hakone Ekiden im kommenden Jänner zu beeindrucken. Obwohl Ageo eines der wichtigsten Ausscheidungsrennen für Teams ist, blieben viele der besten Universitätsläufer sowie beinahe alle der Hunderten professionellen japanischen Straßenläufer dem Rennen fern. Sieht man sich aber die etwas unscharfen YouTube-Videos2 vom Ende des Rennens an, so entdeckt man etwas ganz Besonderes.

Der Gewinner, der sich um eine Nasenlänge in einem Sprintfinish gegen vier andere Athleten durchsetzt, überquert die Ziellinie in 62:36 Minuten. Das ist ziemlich schnell, doch das eigentlich Interessante passiert erst danach. Wenn man sich eines der Spitzenrennen irgendwo auf der Welt ansieht, kommen die ersten paar Läufer mit einem recht großen Vorsprung ins Ziel. Oft ist der Vorsprung so gewaltig, dass sie sogar Zeit haben, sich umzuziehen, Interviews zu geben, etwas zu trinken und ein kurzes Warm-down zu machen, bevor die nächsten Läufer im Ziel eintrudeln. Hier ist das genaue Gegenteil der Fall. Die Läufer kommen unentwegt, einer nach dem anderen, ins Ziel. Sie kommen hintereinander, in großen Gruppen, drehen sich um und verbeugen sich vor der Strecke, einige fallen vor Erschöpfung auf die Knie. Alle blicken sofort auf ihre Uhren. Und sie alle laufen, so schnell sie können.

Am Ende kamen an jenem Morgen 18 Läufer in unter 63 Minuten ins Ziel. Und das in einem einzigen Rennen. Nur ein einziger britischer Läufer hatte es 2013 geschafft, einen Halbmarathon so schnell zu laufen. Nur 21 US-Athleten schafften dies in jenem Jahr.

Der Student, der abgeschlagen als Hundertster das Ziel in Ageo erreichte, hatte noch immer eine Zeit von 64:49 Minuten. 2013 wäre er damit an der achten Stelle in ganz Großbritannien gelegen. In vielen anderen Ländern Europas wäre er damit nationaler Rekordhalter gewesen. Das ist ein Beweis für einen unglaublich großen Pool an Talenten im Laufsport.

Also, irgendetwas geht in Japan vor sich. Meine Mission ist es, herauszufinden, was das ist. Nicht nur der Autor in mir ist neugierig, auch der Läufer. Nach meinen sechs Monaten in Kenia kam ich zurück nach England und brach alle meine persönlichen Bestzeiten, vom 5K bis hin zum Marathon. Sechs Monate lang befand ich mich auf einem langen, unterhaltsamen Höhenflug und schaffte zehn persönliche Rekorde hintereinander.

Doch in den letzten beiden Jahren wurde ich nicht mehr schneller. Jetzt bin ich beinahe 40 und frage mich, ob es das gewesen sein soll. Habe ich meinen Zenit überschritten? Ist es nun an der Zeit, diesen Nervenkitzel, meine persönlichen Bestzeiten zu jagen, diesen Kick, meine Grenzen zu überschreiten, aufzugeben und mich stattdessen auf eine ruhigere Reise, bei der ich mich einfach nur am Laufen erfreue, zu begeben? Irgendwie freue ich mich auf diese Tage, wenn das Laufen mehr zum Hobby wird, weniger verkrampft und obsessiv, wenn es Spaß macht, mein Herz klopfen zu hören, und ich mich an der kühlen, frischen Luft in meinem Gesicht erfreuen kann, ohne mich um Trainingspläne, Tapering und Stoppuhren zu sorgen.

Doch dieses ehrgeizige Monster in mir will noch ein letztes großes Hurra. 2:55 Stunden können doch sicher nicht meine letzte Marathonzeit sein, oder? 78 Minuten für einen Halbmarathon? Ja, das ist schon okay, doch ich bin sicher, dass ich schneller sein kann. Ich habe viel gelernt in Kenia, doch vielleicht werde ich in Japan neue Dinge lernen. Vielleicht kann ich etwas von diesem Schwarm talentierter Halbmarathonläufer aus diesem verschwommenen YouTube-Clip lernen, etwas, das mich noch diesen einen Schritt weiterbringt. Meine Reise, um dies herauszufinden, nimmt ihren Anfang hier, im Tower Hotel in London.


Ein Mann kommt auf mich zu. Seine weißen Zähne strahlen durch die ganze Lobby. Es ist Brendan Reilly. Alle, mit denen ich über den Laufsport in Japan gesprochen habe, erwähnten seinen Namen. Er scheint Dreh- und Angelpunkt für alles zu sein, das Tor zwischen der abgeschotteten Laufszene Japans und dem Rest der Welt. Reilly hatte ein Treffen mit mir und dem renommierten japanischen Lauftrainer, Tadasu Kawano, organisiert. Kawano trainiert das Otsuka Pharmaceutical Ekiden-Team, das in Tokushima auf der Insel Shikoku beheimatet ist. Zwei seiner Athleten würden in ein paar Tagen den London Marathon laufen.

„Hallo! Wie geht’s?“, sagt Reilly und gibt mir einen kräftigen, amerikanischen Händedruck.

Dann bringt er mich zu einem Tisch im Hotelcafé, und wir setzen uns. Kawano ist bereits da und wartet. Er ist schon etwas älter. Sein Oberkörper ist leicht zur Seite geneigt, und er sieht müde aus. Als ich mich setze, nickt er mir zur Begrüßung zu.

Hajimemashite“, sage ich in meinem besten Japanisch. Es freut mich, Sie kennenzulernen.

Ah, hajimemashite“, antwortet er, so als ob das Ganze ein Spiel wäre. Das war es dann aber auch schon mit meinen Japanisch-Kenntnissen, und wir wechseln wieder zu Englisch, wobei Reilly als Dolmetscher fungiert.

„Ich würde gerne bei einem Ekiden-Team mitmachen. Können Sie mir dabei helfen?“, frage ich.

Japan ist das einzige Land, das Langstreckenläufern einen Gehalt bietet, wenn sie bei einem Team sind. Große Firmen wie Honda, Konica, Minolta und Toyota unterhalten Teams mit professionellen Straßenläufern, die miteinander leben und trainieren und gemeinsam Ekiden-Rennen bestreiten. Mein Plan ist es, bei einem solchen Team einzusteigen. Natürlich nicht als Läufer für Wettkämpfe, dafür wäre ich zu langsam, nein, ich will mich in so ein Team einleben, wie ein Kriegsberichterstatter, der mit der Truppe lebt und mit ihr unterwegs ist. Das scheint mir ein guter Weg zu sein, um nahe genug an die Athleten heranzukommen, zu verstehen, wie alles abläuft, und den Geheimnissen des japanischen Laufsports auf die Schliche zu kommen. Doch ein Team zu finden, das mich aufnimmt, entpuppt sich als schwieriger, als ich gedacht hatte.

Ich hatte gelesen, dass diese Konzernläufer umjubelte Sportstars in Japan sind. Tatsächlich erkannte ich das erste Mal, welchen Stellenwert das Laufen in Japan hat, nachdem ich in den USA einen Artikel Reillys im Running Times Magazine gelesen hatte.

Dort schrieb er: „Wenn Sie in den meisten Städten Japans mit einem Taxifahrer oder einem Sushikoch plaudern, werden Sie bemerken, dass Yuko Arimori, Naoko Takahashi und Mizuki Noguchi nationale Ikonen sind, selbst für diejenigen, die mit Laufen nicht viel am Hut haben. Und die Angestellten der Firmensponsoren von Langstreckenteams sind genauso leidenschaftlich wie Fußballanhänger. Die Zuschauerränge bei den landesweiten Ekiden-Meisterschaften sind ein bunter Regenbogen aus Konzernlogos und -farben, wobei die Angestellten – in den Farben ihres jeweiligen Unternehmens – ihre Läufer lautstark unterstützen.“

Dann fährt er fort: „Die Einschaltquoten bei Liveübertragungen von Ekiden-Events in Japan, die mit genauso vielen Expertenanalysen und technischen Mitteln wie bei der NFL in den USA ausgestrahlt werden, erreichen schwindelerregende Höhen. Während die Quoten für Übertragungen von Marathonrennen in den USA selten einmal die Ein-Prozent-Marke überschreiten, wäre eine TV-Quote von zehn Prozent in Japan für einen Ekiden oder einen Marathon eine herbe Enttäuschung; einige Athleten und Events bringen es sogar auf Super-Bowl-ähnliche Marktanteile von 40 Prozent und mehr.“

Eines dieser Ekiden-Werkteams ist Otsuka Pharmaceuticals, und ich sitze gerade dem Trainer persönlich gegenüber. Ich hege die Hoffnung, dass er mich einlädt, nach Japan zu kommen, und mich in sein Team aufnimmt. Er nickt, als ich ihn danach frage, doch es ist kein Kopfnicken, das mich dazu veranlassen würde, seine Hand zu schütteln und meine Ankunft in Japan mit ihm zu besprechen. Es ist mehr ein Nicken, bei dem man sich nicht festlegt, ein Nicken, das sagt, lass uns erst einmal sehen, wie es aussieht. Er sagt, er kenne Leute, die mir bei meinen Recherchen helfen können. Auch Reilly kennt einige Leute. Ich stehe schon seit Monaten deswegen in E-Mail-Kontakt mit ihm. Er sagt immer wieder, dass es kein Problem sei, etwas zu arrangieren, und es nur davon abhänge, das richtige Team auszusuchen. Doch die Ekiden-Saison ist nicht mehr weit, und bis jetzt hat sich noch nichts Konkretes ergeben.

Schließlich verlasse ich Reilly und Kawano mit kaum mehr als zwei weiteren Visitenkarten in meiner Sammlung. Anstatt nach Hause zu fahren, entscheide ich mich, noch ein wenig Zeit in der Hotellobby zu verbringen, um die Atmosphäre vor dem Rennen zu schnuppern. Auf einer niedrigen Wand, neben mehreren Pflanzentöpfen, sitzt still ein anderer Japaner. Er checkt gerade sein Handy, doch ich bemerke, wie er mir gelegentlich einen Blick zuwirft. Also gehe ich hinüber und spreche ihn an.

„Hallo“, sagt er, als er aufsteht. „Ich habe gesehen, wie Sie mit Herrn Kawano gesprochen haben.“

Zu meiner Überraschung spricht er gut Englisch. Ich erzähle ihm von meinem Plan, für sechs Monate nach Japan zu reisen und eine Ekiden-Saison mitzuerleben. Er nickt verständnisvoll, als ich ihm sage, dass ich mit einem professionellen Team leben wolle. Als ich dann meine, dass ich auch mit ihnen trainieren will, beginnt er laut aufzulachen.

„Nein, keine Chance“, sagt er beinahe herablassend, so, als ob das eine ganz dumme Idee wäre.

Also erkläre ich ihm, dass ich schon mit den berühmten kenianischen Läufern aus dem Rift Valley gelaufen bin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es mit japanischen Läufern aufnehmen könnte. Doch er lächelt nur.

„Nein, nein“, sagt er.

Obwohl er darauf beharrt, dass ein wichtiger Teil meines Vorhabens nicht durchführbar wäre, bietet er mir seine Hilfe an. Er erzählt mir, dass er gute Verbindungen in der japanischen Laufszene habe und ich ihn anrufen könne, wenn ich nicht mehr weiterkomme. Er gibt mir seine Karte. Sein Name ist Herr Ogushi.


In den folgenden Monaten versucht Reilly vergeblich, ein Team für mich zu finden, bei dem ich mitmachen könnte. Obwohl er alle seine Kontakte spielen hat lassen, bekomme ich Ende Juni eine E-Mail von ihm, in der er mir erklärt, dass er es aufgegeben habe, weiter nach einem Team zu suchen.

Darin heißt es: „Obwohl ein Großteil der Trainer der Meinung ist, dass es eine tolle Idee für eine Geschichte wäre, kann sich keiner so wirklich dafür begeistern, dich ins Team zu holen oder dich regelmäßig am Training teilnehmen zu lassen. Keiner ist wirklich gewillt, eine verbindliche Zusage zu machen, dass du längere Zeit mit einem Team verbringen kannst. Japan kann manchmal eine frustrierend geschlossene Gesellschaft sein, und leider ist dies hier wieder einmal so ein Fall.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allerdings bereits mein Haus zur Vermietung freigegeben, mein Arbeitgeber hatte mir sechs Monate Urlaub gewährt, um meine Recherchen fertigzustellen, und die Schule meiner Kinder hatte ebenfalls bereits Vorkehrungen getroffen, um sie vom Unterricht zu befreien, damit sie mitkommen könnten. Die Ekiden-Saison beginnt im September, der nur mehr wenige Monate entfernt ist, und endet im Februar. Wenn ich also eine Saison miterleben will, dann müssen wir bald aufbrechen. Und so kommt es, dass wir uns an einem sonnigen Morgen im Juli ohne weitere Vorbereitungen nach Japan aufmachen … mit dem Zug.

1 Ich habe den 75-schnellsten Marathonläufer, Abraham Kiprotich, der für Frankreich startet, ausgelassen, da er in Kenia geboren wurde und dort aufwuchs und das Laufen erlernte. Erst nachdem er in der französischen Fremdenlegion diente, wurde er französischer Staatsbürger. Ebenso stammt die Nummer 87, der für Katar startende Nicholas Kemboi, aus Kenia und wuchs dort auf.

2 Siehe http://youtu.be/5THRBUH0MdY

€23,99