Buch lesen: «Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I»

Schriftart:

Adalbert Dombrowski

Der Preis für ein Leben ohne Grenzen

Teil I: Zerzaust vom Winde der Geschichte

Landemaschine.eu

Titelbildprojekt:

Crackoiram

Aus dem Polnischen übersetzt und

kommentiert von:

Fabian Dombrowski

ISBN Kollektion Landemaschine 978 – 83 – 956584 – 0 - 2

Kollektion Landemaschine

Alle Rechte vorbehalten.

Die Vervielfältigung, Verbreitung in Teilen oder im Ganzen ist ohne Zustimmung des Herausgebers nicht gestattet.

1.Auflage 2022

Ich danke meiner Ehefrau Asia und meinem Sohn Fabian, ohne deren Arbeit und Herz das Buch nicht entstanden wäre.

Inhalt

Gewöhnliche Momente gibt es nicht

Blutsverbindungen

Kindheit auf ins Dritte Reich einverleibter Polnischer Erde

Kleiner Fallschirmspringer

Mit tanzendem Schulranzen

Das Treffen mit meinem mir unbekannten Vater

Mein geliebtes Kamień Pomorski

Das Ende meiner glücklichen Kindheit

Bitteres Waisenbrot – Bydgoszcz

Endlich Pilot – das Abzeichen mit einer Möwe

Meine arme Mutter

Die wunderbare Frau Marta

Umzug nach Warszawa

Meine großartige Schulklasse

Die neue Wohnung in der Ulica Niemcewicza

Mein erster Fallschirmsprung

Segelflugzeugpilot!

Ein Freudenstrahl namens Igor

Der Abiturientenball

Die Hochzeit meiner älteren Schwester Rysia

Obdachlos

Die Militärische Technische Akademie – WAT

Politechnika Warszawska

Mamas plötzlicher Tod!

Aufnahmeprüfungen am Uniwersytet Warszawski

Noch immer nicht Student

Erträumtes Studentenleben

Teresa und der Preis einer Lüge

Eine teuflische Prüfungszeit

Grażyna – Lebensfreude

Ein untypisches fünftes Studienjahr 1959 – 1960

Freude am „Studieren": 1960-1961

Die erste Reise in den „Verkommenen Westen” - 1961

Die 2. Reise in den Westen – Wien 1961, mein zu Hause

Die dritte Włóczęga durch Europa – 1962

Mein Wien

Włóczęga durch England 1963

Rückkehr nach Wien

Reise ohne Rückkehr – unbekanntes Leben hinter Gittern

Freier Mensch!?

Die Geschichte meiner jüngeren Schwester Hania

Das Rätsel meines Gedächtnisverlusts

Freiheit im Schatten von Gittern

Undurchdachte Rückkehr

Arrest

Ich bin nicht allein mit meinem Traum von der freien Welt

Das Berufungsverfahren

Freiheit in der Volksrepublik Polen (PRL)

Arbeit als Lehrer

Traudes Geheimnis

Sonderpädagoge

Nochmal Aeroklub Warszawski

Wie Puszek mein Leben veränderte

Zu Tiefer Endanflug

Der Wettbewerb in Jeżów Sudecki

Ein kleines ZNP-Abzeichen

Die Besserungsanstalt Okęcie

Die PTTK-Geschäftsführung

Die Fliegerei - mein Leben!

Tosieks Liebe fürs ganze Leben

Mein Beruf: Pilot – Das Unternehmen: Aeropol (PUL)

Der Flugplatz zieht um nach Bemowo

Wie soll man solch eine Fliegerei nennen?

Staszek Pyjas – bin ich Zeuge?

Fluchtversuch aus der Volksrepublik Polen (PRL)

Ein überraschendes Gespräch im Hotel Warszawa

Ich werde Vater! Und bin Pilot.

Der erträumte Flug

Ein Pterodaktylus über England

Mit dem Hubschrauber über die Grüne Insel

Wie man den Englischen Nebel bezwingt

Ein Flug über der Thames

Rückkehr in die Wirklichkeit

Kleiner Mensch – große Freude

Ausreise ohne Wiederkehr

An die SB-Geheimdienstler der Volksrepublik Polen

Gewöhnliche Momente gibt es nicht

Ich habe beschlossen achtzig Jahre meines Lebens zu beschreiben. Es war nicht leicht, aber ungewöhnlich interessant: Dies ist die Geschichte eines Jungen, dem die sichere Kindheit genommen wurde; die Tragödie eines Studenten, dem das Fenster zur Welt verschlossen wurde; das Leben eines hochmütigen Pädagogen in den Realia der Volksrepublik Polen (PRL); das Schicksal eines Fluglehrers, dem mit dem Entzug seiner Lizenz gedroht wurde und schließlich die Erzählung eines Polen, der gezwungen wurde, sein Vaterland zu verlassen und für das Wiedererlangen seiner Flügel zu kämpfen. Einsicht in meine IPN-Akten (IPN: Institut für Nationales Gedenken/Gedächtnis der Nation) machten mir die nahezu lückenlose Kontrolle der Sicherheitsorgane über diejenigen Polen klar, die sich im Kreise ihrer Interessen befanden. Selbst geringste Einzelheiten meines Lebens zu Studentenzeit auf Wanderschaft kann ich in den erhaltenen Kopien dieser Dokumente wiederfinden.

Es ist ein Leben in der Fremde sowie ein Leben im Einsatz für die Gesellschaft, insbesondere für aus Polen geflohene Landsleute; die Arbeit eines Piloten über seine Pensionierung hinaus; Schilderungen erlebter ungewöhnlicher und extremst schwieriger Flüge mit dem Flugzeug wie auch Hubschrauber; und vor allem die Verbreitung einer narrensicheren Methode für eine sichere Flugzeuglandung, welche Unfälle vermeidet: Die Landemaschine.


2017, über meinen IPN (Institut für Nationales Gedenken)-Akten. Endlich kann man eine Menge über sich selbst erfahren ...

Erlaubt mir nun bitte, meine Erzählung zu beginnen:

Blutsverbindungen

Meine Mutter Maria Łucia Dąbrowska, geborene Biskup war die älteste Tochter Ludwikas, aus dem Hause Nowak und Kazimierz Biskup. Sie wurde im Jahre 1911 in Margonin (Wojewodschaft Wielkopolska, Chodzieski Landkreis) geboren. Sie hatte einen um zwei Jahre jüngeren Bruder – Edmund Julian – und eine sechs Jahre jüngere Schwester – Aleksandra. Im Jahr 1934 heiratete sie in Tuchola Fabian Dąbrowski, welcher aus einer kinderreichen, Gutsbesitzer-Familie aus Zembrze in der Nähe von Brodnica stammte. Fabians Eltern waren Ignacy Dąbrowski und Anna, aus dem Hause Teodziecki. Ignacys Großvater wurde auf dem Gut in Sugajno geboren und hatte sieben Brüder. Sein Großvater Henryk war Besitzer des großen Landguts Pusta Dąbrówka in der Nähe von Toruń und vermutlich verband ihn eine Verwandtschaft mit dem General Jan Henryk Dąbrowski, welcher die polnischen Legionen in Italien gegründet hatte. Leider verarmte er wegen seines leichten und geselligen Lebenswandels und die Familie zog schließlich auf das sog. Restgut nach Sugajno.

Die dokumentierte Geschichte der Familie Dąbrowski des Jungfrauen-Wappens (eine Jungfrau mit zwei goldenen Trompeten auf rotem Hintergrund) reicht bis Anfang des 15. Jahrhunderts zurück. Der Ahnherr der Familie ist Ritter Smolanga, welcher sich in Pomorze Tylne (Hinterpommern) in der Ortschaft Dąbrówka angesiedelt hatte, woher die Familie ihren Namen bekam. Jan Mikołaj und Hektor Dąbrowski bekleideten Würdenträger-Ämter und setzten in Polnisch-Preußen ihre Unterschriften mit „Dąbrówka“ (gegenwärtig eine kaschubische Siedlung in der Wojewodschaft Pomorskie). Die Geschichte besagt, dass zur tapferen und mutigen Familie Dąbrowski einige Wojewoden, Burgvogte, Landräte, Äbte, Anführer und Generäle gehörten. Es gab auch einen Jesuiten (den Beichtvater des königlich polnischen Heerführers Stefan Czarniecki) und ein Ordensbruder des Malteserordens. Einige ausgewählte Repräsentanten sind:

– Jan X Stanisław – der junge, tapfere Ritter, Teilnehmer der Schlacht bei Wien im Jahr 1683, von Jan III Sobieski erwähnt;

– Jan XI Michał – General, Malteser Ordensbruder, kämpfte an der Seite von König Stanisław Leszczyński;

– Jan XII Henryk – General, Gründer der Polnischen Legionen in Italien.*

(*vgl. Jan Pachoński, 1981: General Jan Henryk Dąbrowski 1755-1818; Verlag des Verteidigungsministeriums, Warszawa)

Mein Vater hatte vier Brüder: Bolesław, Ignac, Józef und Wiktor, sowie zwei Schwestern – Weronika und Leokadia. Fabian erhielt als einziger seiner Geschwister eine abgeschlossene Schulausbildung und wurde Lehrer. Die Familie Dąbrowski war sehr musikalisch. Mein Vater spielte Geige, Cello und Gitarre. Ich weiss nicht, wie sich meine Eltern kennengelernt haben. Aus einem alten Album ist ein Foto einer Gruppe Jugendlicher in Trachten überliefert.

Juni 1932, Czarnocin. Meine Eltern – als sie noch nicht verheiratet waren - mit einer Gruppe von Schulkindern. Mama im weißen Kleid, Papa (mit Brille) erster von rechts.

Die Aufschrift lautet: 27. Juni 1932, Czarnocin. Demnach, haben sich meine Eltern 1932 schon gekannt. Nach der Hochzeit wohnten sie in der Schule von Sulęcin. Im Mai 1935 wurde meine ältere Schwester Maria Bożena, Rysia genannt, geboren. Während der Besatzungszeit nannten sie jedoch alle Lilu. Nach kurzer Zeit zogen meine Eltern in die Dorfschule nach Góra, in der Nähe von Kościerzyna, wo ich im darauf folgenden Jahr auf die Welt kam. Mein Großvater Kazimierz Biskup entschied, dass ich den Namen Dionysos, also Dionizy erhalten sollte. Die Mama hätte es lieber gehabt, wenn ich Wojciech hieße. Und so erhielt ich zwei Vornamen: Dionizy Wojciech, dennoch wurde ich in meiner Kindheit Bubi und Dychu genannt.


1935 Sulęcin, meine Eltern Łucja und Fabian Dąbrowscy

Kurz nach meiner Geburt kaufte mein Vater, der von Venezuela fasziniert war, für die ganze Familie Fahrkarten für die Reise über den Atlantik. Der Krieg durchkreuzte jedoch diese Pläne. Nach den ersten Gerüchten, über einen möglich bevorstehenden Kriegsausbruch, wurde mein Vater in die Kavallerie in Grudziądz einberufen. Meine Mutter zog mit uns zu den Großeltern Biskup, die in Tuchola mit Urgroßvater Piotr lebten. Mein Urgroßvater wurde 1848 geboren. Als junger Mann nahm er 1870 am französisch-preußischen Krieg teil. Er diente in der preußischen Armee und behielt die Jahre, die er im besetzten Frankreich verbracht hatte, in guter Erinnerung.


1937 Grudziądz. Mein Vater Fabian Dąbrowski mit einem Freund

Als Offizier verantwortete mein Vater als Anführer einen Pferdezug. Im Septemberfeldzug war dieser Teil der 4.Gruppe des Oberstleutnant (ppłk) Jerzy Staniszewski. Sie kämpften in der Schlacht bei Gródek - in der Nähe von Świecie. Die Nachricht über Vaters Verschwinden wurde mit dem Erhalt seines ersten Briefes geklärt: er geriet am 12. September 1939 in Kriegsgefangenschaft und wurde zunächst nach Kärnten ins Oflag XVIII B Wolfsberg gebracht und dann im Oflag II C in Woldenberg (heute Dobiegniew, Wojewodschaft Lubuskie) inhaftiert.


1937, Grudziądz. Vater - dritter von links in der obersten Reihe - mit Absolventen und dem Offizierskader des Kavallerie-Ausbildungszentrums

Kindheit auf ins Dritte Reich einverleibter Polnischer Erde

Wir lebten in einem kleinen Städtchen, in dem Deutsche und Polen in nachbarschaftlichem Frieden lebten. Unsere deutschen Nachbarn behandelten wir wie unsere Tanten und Onkel. Als jedoch am 2. September 1939 die deutschen Soldaten in Tuchola einmarschierten, änderte sich das. Viele der Nachbarn nahmen uns nicht mehr wahr.


1937 Grudziądz. Mein Vater in Offiziersuniform

Nur Tante Szulc (Schultz) war wie immer freundlich, wenn ich zu ihr kam und bot mir Süßigkeiten an. Nun wohnten wir nicht mehr in Polen, sondern in Westpreußen. Die deutsche Sprache wurde verpflichtend! Ich konnte nicht verstehen, warum wir in der Öffentlichkeit nicht mehr in unserer Muttersprache sprechen durften. Die Polen, die in diesem Gebiet lebten, bekamen einen seltsamen Status: Irgendwie waren sie Deutsche, aber Deutsche einer schlechteren Kategorie. Dies hinderte die Deutsche Wehrmacht allerdings nicht, junge Polen in ihre Armee einzuberufen. Der jüngere Bruder meines Vaters, Józef, wurde gegen Kriegsende in die deutsche Armee einberufen: In der Nähe von Fulda reparierte er als Schreiner Kasernen. Onkel Józefs Schwager, der Bruder seiner Frau Weronika aus dem Hause Drwęcki, wurde zeitgleich zur Zwangsarbeit deutschen Bauern in der Nähe von Kassel geschickt. Angeblich trug Onkel Józef, als er seinen Schwager (den polnischen Häftling, der Zwangsarbeit leistete) besuchte, seine deutsche Uniform. Einer der Gebrüder Dąbrowski – Józef – wurde in die Wehrmacht einberufen, während der andere – Fabian – als polnischer Offizier


1940 Tuchola. Mama mit Rysia und mir

Kriegsgefangener im deutschen Lager Woldenberg war. Viele solcher Schicksale polnischer Familien in Westpreußen gab es.

Manchmal nahm Oma Ludwika Rysia und mich nach Grudziądz mit. Dort wohnte ihre Verwandte Helena Kaube, die Eigentümerin eines Kinos war und so saßen wir mit süßer Limonade in der ersten Reihe des Kinosaals und sahen Märchenfilme - die vorhergehende Wochenschau konnten wir nicht leiden. Mit Bewunderung starrten wir die Leinwand an, auf der sich die Abenteuer abspielten. Rysia und ich kannten viele Lieder aus Filmen, so organisierten wir häufig Vorstellungen zu Hause. Wir zogen Mamas Röcke und Schlafröcke an und wickelten Handtücher wie ein Turban um unsere Köpfe und wir tanzten, sangen und spielten unsere liebsten Filmszenen nach. Manchmal bauten wir auch aus zwei Stühlen, einem Besenstiel und einer Decke ein Puppentheater. Hinter dem Deckentheater erlebten unsere Handpuppen märchenhafte Abenteuer. Mit dünnen Kinderstimmen sangen wir deutsche Lieder und die Hausbewohner applaudierten. um unsere Anstrengungen zu belohnen. Ich erinnere mich, wie ich inbrünstig – aber falsch – sang und dabei mit gebeugten Armen eine Marionette nachahmte:

„…Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein. Stock und Hut steh`n ihm gut, ist gar wohlgemut. Aber Mutter weinet sehr hat ja nun kein Hänschen mehr. Sieh Mama, ich bin da! ...“

Wenn wir nicht gerade Theater spielten, gab es für uns Kinder Verpflichtungen. Ich – damals vier Jahre alt - hatte die Aufgabe frisches Brot aus der Bäckerei zu holen. Der Brotlaib war groß und sehr schwer und dazu auch noch sehr heiß – er kam direkt aus dem Ofen. Der Brotlaib roch so gut, dass ich jedesmal ein Stück abbiss bevor ich vor Anstrengung stöhnend die Treppen hinaufging. Ich dachte laut: „So schwer, so heiß, aber so gut!“

Eines Tages hörte das der Pfarrer der römisch-katholischen Kirche „Bożego Ciała“, der häufig meine Großeltern besuchte. Er erzählte meiner Oma, dass ich das Brot in deutscher Sprache loben würde, und fragte sich warum.

Oma Ludwika war Polin, dennoch betete sie auf deutsch. Auch in dieser Sprache zählte sie. Sie wurde im damaligen preußischen Besatzungsgebiet geboren und musste in eine deutsche Schule gehen. In diesem Gebiet war deutsch die Amtssprache. In der kirchlichen Messe war Deutsch zusammen mit dem Lateinischen verpflichtend und auch unsere Nachbarn, Siedler aus Deutschland erlaubten uns nicht, diese Sprache zu vergessen. Kinder lernen schnell und sind von Natur aus neugierig, so dass wir uns fließend in mehreren Sprachen verständigen konnten. Aber zu Hause sprachen wir polnisch.

Es wurde Herbst und im Garten zeigten sich die ersten Äpfel, Pflaumen und Birnen. Opa Kazimierz, der zweifellos mit der Gabe gesegnet war meine Gedanken zu lesen, sagte mit entschiedener Stimme: „Wage es nicht einmal diesen Garten zu betreten!“ Aber wie könnte man von diesen Genüssen des Herbstes nicht kosten? Keine Macht konnte uns Burschen aufhalten.

In der Ecke hinter der Scheune organisierte Edek, Karol und ich eine Lagebesprechung. Ich kontrollierte, ob die Luft rein war und Opa nicht auf dem Hof zu sehen war. So konnten wir ungesehen an Omas Hühnerstall vorbeihuschen und durchs Gartentor in den Garten gelangen. Wir kletterten auf die Bäume, um das Obst zu erreichen. Ach, diese Birnen! Der Saft floss uns übers Kinn und befleckte unsere Hemden und kurze Hosen. Doch auf dem Kopfe des Schelmen brennt die Mütze! Ich war mir sicher, dass ich sich nähernde Schritte hörte: „Jungs, es kommt jemand! Schnell weg hier“, rief ich und begann hastig vom Baum zu klettern. Das Herz klopfte vor Angst. Meine Kumpel warteten nicht, sie waren schon längst losgerannt. Wir wollten über den Zaun klettern. Edek und Karol sprangen über den Zaun. Und ich? Ich hatte natürlich Pech. An meiner kurzen Hose verfing sich eine der Latten. In einer merkwürdigen Position blieb ich am Zaun hängen. Ich konnte das Hosenbein nicht befreien und in die freundliche Zuflucht des großmütterlichen Gartens springen. Die Furcht hatte mich paralysiert. Ich war überzeugt, dass der Gärtner jeden Augenblick da sein musste. Ich versuchte mich zu befreien. Die Zeit verging, jedoch tauchte niemand auf. Ich beruhigte mich. Als es mir gelang, mich zu befreien, sprang ich schleunigst herab und lief meinen Kumpeln hinterher. Denen werde ich es zeigen! Sie haben mich einfach zurückgelassen, diese Lausbuben!

Die verschreckten Edek und Karol saßen auf den Treppen des nachbarlichen Grundstücks. „Ihr Feiglinge!!! Wie Ihr einfach verduftet seid“, verspottete ich sie. „Das war doch bloß ein Scherz, dass jemand kommen würde“, flunkerte ich. Die Jungs schwiegen, jedoch ihren Gesichtsausdrücken nach, konnte ich sehen, dass sie doch sehr erleichtert waren. Bis heute bin ich der Meinung, dass Birnen das schmackhafteste Obst unter der Sonne sind.

Bei uns zu Hause tauchten Postkarten und Briefe von Papa mit Stempeln des Oflags Woldenberg auf. Mama schrieb ihm, meine Schwester Rysia und ich schickten unsere Erinnerungen und Gefühle mit Zeichnungen. Manchmal besuchte uns Onkel Edek aus Warszawa, Mamas jüngerer Bruder, mit seinem „Agfa“ Fotoapparat. Mama zog uns schön an und der Onkel machte Fotos von uns. Mama meinte, dass wir sie Papa ins Lager schicken müssen, damit er sehen könne, wie wir wachsen. Mama schrieb auf das Kuvert die Adresse : Fabian Dąbrowski, Oflag Woldenberg, Baracke 6a. Wir gingen zur Post, um Briefmarken zu kaufen und gaben den Brief auf. Jedoch kam keine Korrespondenz zurück. Mama wurde traurig und machte sich Sorgen. Zeitgleich begann sich die Gestapo für uns zu interessieren. Ich kann mich gut daran erinnern, wie Oma, Opa und Mama flüsternd etwas besprachen, nachdem der Briefträger ein Behördenschreiben gebracht hatte. Mama nahm Rysia und mich an die Hand und wir gingen zum Gestapo-Quartier, welches sich am Hauptplatz befand. Ein Offizier hinterm Schreibtisch fragte uns aus über Papa. Mama antwortete mit ruhiger Stimme, dass sie nichts wisse und dass sie ihren Ehemann seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen habe. Wir fühlten, dass sie sehr aufgeregt war. Zu stark drückte sie unsere kleinen Händchen zusammen.

Plötzlich begann der Offizier zu schreien, dann zu brüllen und wurde im Gesicht rot wie eine Tomate. Ich sah ihn an und entsetzt versteckte ich mein Gesicht in Mamas Rock. Vor Angst zitterte ich am ganzen Körper. Zu Hause schrie uns niemals jemand an; und hier ein fremder Mann unsere Mutter!? Ich verstand das alles nicht.

Doch das war nicht alles. Seitdem fiel die Gestapo regelmäßig zu Durchsuchungen in unsere Wohnung ein. Etwas oder eher jemanden suchten sie und ständig brüllten sie. Sobald ihr Auto vor unser Haus fuhr und man den Donner ihrer auf die Holztreppe schlagenden Stiefelabsätze hörte, wies uns Oma Ludwika umso eiliger an, unter die Decke unseres Uropas Piotr Nowak, also ihres Vaters, zu huschen, welcher Tag für Tag krank im Bett lag, während man uns ständig darauf hinwies, ihn bloß nicht zu beunruhigen.

Wenn die Gestapo kam, lagen wir immer mucksmäuschenstill versteckt unter der dicken Daunendecke. Die Erwachsenen sagten nicht viel, aber ich dachte mir schon, dass mein Vater aus dem Oflag geflohen war! Wohin? Wo versteckte er sich? Niemand wusste es und bis heute haben wir es nicht herausfinden können.

Der Winter verging und die Frühlingssonne begann zu wärmen. Wir spielten wieder draußen. Im Obstgarten - in unserem „Paradies“ - waren seit einiger Zeit die Enkel des Gärtners. Sie waren mit ihrer Mutter aus der fernen Warszawa gekommen. Ihr Haus hatten die Deutschen zerbombt, ihr Vater war im Krieg verschollen. Sie waren ja ganz nett, doch hatten sie unseren geliebten Obstgarten in Besitz genommen und so wurde der Zaun des Obstgartens zu einer Grenze von zwei „Großmächten“. Unsere Überfälle mit Steinchen-Hagel, Obststummeln oder auch faulem Obst wurde abgewehrt. Mit Edek und Krzysiek bauten wir daher eine Festung, um die Lage beobachten zu können und unser Revier zu verteidigen. In der Nähe befand sich ein Baustoff- und Brennholzlager. Ein gleichmäßig sortierter, meter-langer Stapel aus Holzlatten bildete einen Turm. Von dort oben breitete sich der Blick über die ganze Umgebung aus. Ein geeigneter Ort für unsere Festung, das wir „Adlernest“ nannten. Es war für unsere Feinde unzugänglich und nicht einsehbar. Wir legten so lange Holzlatten zurecht und trugen verschiedenste Schätze zusammen, bis wir eine uneinnehmbare Burg erbaut hatten mit einem üppigen Vorrat an Munition aus Steinchen, Ästen und Tannenzapfen.

Am Sonntag, gleich nach dem Gottesdienst (wir alle waren Ministranten), schlichen wir aus der Sakristei und rannten zu unserem Adlernest. Es war ein warmer Vormittag. Aus den offenen Fenstern kamen die Gerüche des sonntäglichen Mittagessens. Bei uns gab es meist Nudelsuppe und Brathähnchen. Einen Tag zuvor hatte Opa Kazimierz auf Omas Bitten unseren Hühnerstall verkleinert und abends sah ich, wie Mama das Hühnchen rupfte.

Meine Gedanken an das Brathähnchen wurden durch eine Bewegung auf Feindesgebiet unterbrochen. Aus dem Versteck sahen wir, wie die Enkel des Gärtners über den Zaun sprangen. Mit „Munition" in den Hosentaschen schlichen sie in unsere Richtung und kamen ganz nah heran. „Feuer!!!", befahl ich und wir begannen sie zu bombardieren. Dicht gedrängt flogen Steine aus beiden Richtungen und nach kurzer Zeit erschöpfte sich unsere Munition. Zum Glück erging es den Angreifern auch so. „Waffenstillstand", rief ich und der Rückzug begann. Es öffnete sich hoch unter dem Dach unser Küchenfenster: „Dychu (mein Spitzenname), zum Mittagessen", rief Mama. Ich verspürte Hunger also war es höchste Zeit zu gehen. Wir gingen über den Hof als ich plötzlich einen gewaltigen Schlag gegen meinen Hinterkopf spürte. Einer der Feinde hatte sich im Gebüsch versteckt und feige einen Stein nach mir geworfen. Ich schrie und berührte mit der Hand meinen Kopf und sah meine blutrote Hand. Ich sah noch den Schrecken auf den Gesichtern meiner Kumpel. Als ich wieder zu mir kam, war der Hof ganz leer. Mit blutendem Kopf kletterte ich die Stufen hinauf nach Hause. Dort erblickten mich Mamas entsetzte und besorgte Augen. Sie bandagierte meinen Kopf. Ordentlich hab ich es abbekommen, an dieser Stelle wuchs mein Schädel schief zusammen, was bis heute zu spüren und zu sehen ist.

Nach diesem Vorfall verbot Opa Kazimierz uns auf dem Baustofflager aufzuhalten. Unser „Adlernest“ mussten wir aufgeben. Es gab keine andere Möglichkeit, wir mussten uns mit den Nachbarsjungen vertragen.

Kleiner Fallschirmspringer

Wann und in welchem Moment entstand meine Liebe zur Fliegerei? Das kann ich nicht genau sagen, aber ich war ungefähr acht Jahre alt. Ich kann mich an einen älteren Bekannten erinnern, der im Speicher unseres Hauses in Tuchola in der Świecka-Str. Flugzeugmodelle mit Gummiband-Antrieb und Segelflugzeugmodelle konstruierte.

Von Anfang an interessierte ich mich für seine Modellarbeiten. Eines Tages – während eines Luftangriffes der Deutschen - beobachtete ich mit riesiger Ergriffenheit einen Luftkampf zweier Jagdflugzeuge. Die Erwachsenen saßen bereits im Keller. Als ich das Brummen der Maschinen hörte, konnte mich nichts mehr aufhalten. Ich musste raus, um die Flugzeuge zu sehen. Ich beobachtete sie vom Dach unseres Speichers. Sie führten unglaubliche, himmelhohe akrobatische Figuren aus. Zu hören war das Rattern der Schüsse - wie zwei sich streitende Vögel im Himmel. Es war schön und bedrohlich zugleich. Plötzlich sah ich, wie sich ein Flugzeug in einen Feuerball verwandelte. Einen Augenblick später, tauchte am blauen Himmel ein weisser Fallschirm auf, der aussah wie Uropas weißer Porzellankelch für seine Medikamente - nur umgedreht. Der Pilot hing wie ein schwarzes Pünktchen im Himmel. Mein Blick verfolgte sein ruhiges Herabgleiten, bis er hinter den Bäumen, welche den Horizont verdeckten, verschwand.

Unsere Spiele waren durchtränkt von der allgegenwärtigen Kriegsrealität. Den Luftkampf der Flugzeuge und den Piloten konnte ich nicht vergessen. Und wenn man versuchen würde auch so leise wie dieser Pilot auf die Erde herabzugleiten? Dieser Gedanke gab mir keine Ruhe und verfolgte mich auf Schritt und Tritt.

Im Speicher fand ich einen Kartoffelsack. Er war riesig und flehte mich an, aus ihm einen echten Fallschirm zu machen. Bis ins kleinste Detail plante ich den Fallschirm. Zunächst holte ich aus Uropas Schrank einen Ledergürtel. In Omas tiefer Schublade fand ich eine Wäscheleine. Alles hatte ich gut versteckt und wartete nun auf den richtigen Moment. Meine besten Kumpel ernannte ich zu meinen Assistenten und ich hatte sie vorgewarnt, dass sie mir bei den Vorbereitungen zu einem echten Fallschirmsprung helfen würden.

Der Tag war gekommen. Langsam bewegten sich die Wolken über den Himmel. Auf der Straße war es leer. Die Hosentasche meiner kurzen Hose beschwerte ein kostbarer Schatz - mein Taschenmesser und vier ordentlich große Kartoffeln. Ich brachte meine Schätze in den Hof hinter den Schuppen, wo ich begann meinen ersten, besten, erträumten Fallschirm zu basteln. Jeden Augenblick sollten die Freunde auftauchen, so dass ich mich mit Elan an die Arbeit machte. Doppelt band ich mir den Gürtel um die Hüfte. In die vier Ecken des Sacks legte ich je eine Kartoffel und band jede Ecke mit je einem von vier Schnüren zu. Die Kartoffeln sollten verhindern, dass die Ecken des Sackes herausschlüpfen. Die losen Enden der Schnüre band ich in gleichen Abständen an den Ledergürtel. Ich war bereit für den Sprung. Endlich kamen Edek und Karol herbei und blickten mich mit Bewunderung an. Ein ungewöhnlicher Fallschirm lag ausgebreitet hinter mir auf dem Boden. Ich platzte fast vor Stolz. Ich fühlte mich wichtig, ach was, am wichtigsten. „Jungs! Nehmt vorsichtig den Fallschirm und tragt ihn hinter mir her, so dass er nicht den Boden berührt", forderte ich sie auf.

Ich ging voran und sie mir hinterher, vom Ernst des Augenblicks erfüllt. Wir gingen an Edeks Haus vorbei und zur evangelischen Kirche. Der neogotische, hohe, spitze Kirchturm mit doppelten, stark gekrönten Fenstern und einer großen Uhr schaute in alle vier Himmelsrichtungen. Er war sehr hoch und überragte die umliegenden Gebäude wie ein in den Himmel drohender Finger. Wir näherten uns langsam der Kirche und gingen durch die Seitentür. Das Echo verriet unsere Schritte. Langsam näherten wir uns der Tür zum Choraufgang und zum Turm, zu den Glocken. Wir kletterten die engen, gewundenen und unheimlich knarrenden Holztreppen hinauf. Von oben war nur das dumpfe Gurren der Tauben zu vernehmen. Wir waren schon weit oben, doch es waren noch viele Stufen zu bewältigen. Edek wollte sich ausruhen. „Auf keinen Fall! Ihr seid mir Weicheier", sagte ich ernst, obwohl meine Assistenten vor Erschöpfung schnauften. Schließlich waren wir am Gipfel angekommen. Über uns hing die riesige Kirchenglocke. Die gotischen Erker des Turms waren mit horizontalen Rohren abgesichert, die sich auf Hüfthöhe eines erwachsenen Menschen befanden.

„Uff, endlich", sagte ich erschöpft. „Und jetzt vorsichtig! Hier ist es sehr gefährlich. Ihr müsst zurücktreten".

Selbst stellte ich mich direkt an die Kante eines Erkers. Auf Höhe meiner Stirn war die Barriere. Ich muss mich nur etwas bücken, um mir keine Beule zu schlagen und dann springen, dachte ich.

Ich befahl Edek den Fallschrim hinter mir gerade auseinander zu legen. Meine Kumpel beobachteten mich mit Bewunderung. Ich war überzeugt, dass mein Fallschirm, dem, den ich am Tag des Luftkampfes der Jagdflugzeuge gesehen hatte, in nichts nachstand. Auch dass mein Sprung und Flug in Richtung Erde ebenso majestätisch langsam, sanft verlaufen würde und wunderbar und gleichermaßen eine Heldentat werden würde.

Vom bevorstehenden Sprung eingenommen hörten wir nicht das Knarren der Treppen und die lauten Schritte des Küsters, der die Treppen heraufkam. Erst die unerwartete, durchdringende, einer geladenen Waffe gleichende Stimme ließ unsere Bewegungen erstarren und die Aufregung des Sprunges wurde aus unseren Kindsköpfen hinfortgeweht. „Meine Güte! Was macht ihr hier?! Weg hier! Sofort! Wenn ich euch hier noch einmal sehe, dann versohle ich euch dermaßen den Hintern, dass ihr mich bis an Euer Lebensende nicht vergesst", schrie der Küster. Meine Assistenten flohen wie verschreckte Spatzen. Ich hörte nur das Getöse ihrer Schuhe auf der Holztreppe. Was sollte ich hier tun? Mit bitterem Beigeschmack der Entzauberung kniete ich auf der kalten Bodenplatte, um meinen wunderschönen Fallschirm zusammenzurollen. Daraufhin ging ich mit schwerem Schritt hinunter, angetrieben von erniedrigenden Schubsern des verärgerten Kirchendieners. „Was haben sich diese Jungs ausgedacht", fragte der Küster meinen Großvater. „Danke Dir Gott, dass ich das Knarren der Treppen rechtzeitig gehört habe. Wobei sie ab heute eher gesegnet sein werden", beendete der Küster seine Rede und atmete mit Erleichterung auf.

Das große „Donnerwetter" entfesselte sich zu Hause nach dem vereitelten Fallschirmsprung. Prügel bekam ich nicht, doch Oma Ludwikas Jammern und Mamas traurige Augen waren für mich schwere Strafe genug.

Mit tanzendem Schulranzen

Im Jahr 1943 wurde ich als Siebenjähriger eingeschult. In Tuchola gab es zwei Schulen: eine deutsche und eine polnische. Rysia wurde ein Jahr zuvor auf die Deutsche geschickt. Sehr gut sprach sie diese Sprache. Leider jedoch unterlag sie leicht fremden Einflüssen. Ich kann mich daran erinnern, wie sie einmal zu Polizeimann Trippan gegangen war, welcher im ersten Stock unseres Hauses wohnte, um ihm zu zutragen, dass Polen in unserem Treppenhaus miteinander polnisch gesprochen haben. Das sei doch verboten! So haben sie es in der Schule beigebracht, so dass wir es ihr nicht übel nehmen konnten.

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
462 S. 21 Illustrationen
ISBN:
9783754938386
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Bookwire
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