Buch lesen: «Symphonie der Toten»

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Inhaltsverzeichnis

PERSONENREGISTER

OUVERTÜRE

I

I

II

III

IV

V

VI

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

II

GLOSSAR

Roman

Symphonie der Toten

Abbas Maroufi

Aus dem Persischen

von Anneliese Gharaman-Beck


Originaltitel:

Samfoni-je mordegan, Abbas Maroufi Nashre Ghoghnous, Teheran

© Abbas Maroufi

CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek

Maroufi, Abbas

Symphonie der Toten

Aus dem Persischen von Anneliese Gharaman-Beck

ISBN: 9783962026165

© der deutschen Neuausgabe by Sujet Verlag 2020

Umschlaggestaltung: Sujet Verlag

Satz und Layout: Clara Voigt, Marie Steinhoff

Lektorat: Clara Voigt, Monika Dietrich-Lüders

Korrektorat: Marie Steinhoff, Friederike Langwasser

Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen

Printed in Europe

1. Auflage 1996, Insel Verlag

2. Auflage 2020, Sujet Verlag

www.sujet-verlag.de

PERSONENREGISTER

Familie Urkhani

Djaber:

Vater

(Name unbekannt):

Mutter

Yussof:

Ältester Sohn, nach einem Unfall

schwer behindert

Aidin:

Zweitältester Sohn

Aida:

Zwillingsschwester von Aidin

Urhan:

Jüngster Sohn

Ssaber:

Bruder von Djaber

Ssohrab:

Aidas Sohn

Abadani:

Aidas Ehemann

Asar:

Urhans Ex-Frau

Ssurmeh/Ssurmelina:

Aidins Ehefrau

Elmira:

Aidins Tochter

In Ardebil

Ayas:

Wachtmeister

Essma’il:

Gehilfe im Kontor

Martha:

Bettlerin

Herr Dorostkar:

Uhrmacher

Mashd Abbass:

Wirt des Teehauses

Djamshid:

Soldat, Freund der Brüder Urkhani

Doktor Naidanoff:

Arzt

Doktor Shushanik:

Arzt

Herr Lord:

Besitzer der Ventilatorenfabrik

Foruzan:

Junge Witwe aus Ardebil

Nasser Delkhun:

Lehrer und Vorbild von Aidin

Nimtadj:

Dienstmagd bei Familie Urkhani

Herr Biyuk:

Koch

Die Armenier

Monsieur Ssuren:

Armenischer Kaffeehändler

Ssurmeh/Ssurmelina:

Monsieur Ssurens Tochter

Madame Yewgineh:

Ssurmehs Großmutter

Galust Mirsayan:

Besitzer des Sägewerks, Monsieur Ssurens Bruder

Mikail:

Herrn Mirsayans Neffe

Elmira:

Aidins Tochter

OUVERTÜRE

Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!

…er [Kain] sprach: „Wahrlich, ich

schlage dich tot!“ (Der andre [Abel])

sprach: „Siehe, Allah nimmt nur von

den Gottesfürchtigen an.“

Wahrlich, streckst du auch deine Hand

zu mir aus, um mich totzuschlagen, so

strecke ich doch nicht meine Hand zu

dir aus, um dich zu erschlagen; siehe, ich

fürchte Allah, den Herrn der Welten.

Siehe, ich will das du meine und deine

Sünden trägst und ein Gefährte des

Feuers wirst, und dies ist der Lohn des

Ungerechten.“

Da trieb ihn eine Seele an, seinen Bruder zu erschlagen,

und so erschlug er ihn und ward einer der Verlorenen.

Und es entsandte Allah einen Raben, daß er auf dem Boden

scharrte, um ihm zu zeigen, wie er die Missetat an seinem Bruder

verbergen könne.

Er sprach: „ O weh mir, bin ich zu kraftlos, zu sein wie dieser Rabe

und die Missetat an meinem Bruder zu verber-gen?“

Und so ward er reuig.

(Der Koran; 5. Sure* „Der Tisch“, 30-34)

I

Unter den Tonnengewölben und Kuppeln der Karawanserei* waberte ein schwacher Rauch und zog durch das Eingangstor ab. Tief drinnen hatten ein paar Lastträger in einem Blechkanister ein Holzfeuer entfacht, und wenn sie sich dazu überwinden konnten, die Hände unter der Decke hervorzuziehen, steckten sie sich auch ein paar Melonenkerne in den Mund und knackten sie auf. Hinter ihnen, in einem gruftartigen Gelass, rösteten drei Männer in großen Kupferkesseln Nüsse und Kerne. Der Dampf vermischte sich mit dem Rauch. Es hatte aufgehört zu schneien.

Alle Lichter leuchteten, sogar die Gaslampen, und die Karawanserei glich von ferne einem im Nebel liegenden Gehöft. Auf der rechten Seite der Passage, im Kontor der „Trockenfruchthandlung Ihres Vertrauens“, hatten es sich zwei Männer in der Wärme der auf dem Tisch stehenden Glühstrumpflampe gemütlich gemacht: Urhan Urkhani saß hinter dem Tisch, neben ihm der Wachtmeister Ayas.

Jeden Donnerstag kam Wachtmeister Ayas ins Kontor, setzte sich auf einen breit ausladenden Stuhl und stellte seine Füße auf einen Schemel. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn – sommers wie winters – und wenn der breite Stuhl nicht zur Hand war, hockte er sich auf einen Sack voller Kerne.

„Wie soll ich Riesenkerl auf so einem kleinen Stuhl sitzen? Wirklich!“, pflegte er dann zu sagen.

Hätte er es gewollt, dann hätte er sogar den Vater in all seiner respekteinflößenden Würde mit zwei Fingern hochheben und an die Haken an der Decke hängen können. Sein Gesicht war fleischig und großflächig, der Kopf eher klein; auf der linken Wange hatte die Leishmaniose ein Mal hinterlassen, das jetzt, wie das ganze Gesicht, voller Runzeln war. Er kaufte ein Ssir* Pistazien. Auf das drängende Angebot, sein Geld doch stecken zu lassen, ging er nicht ein. Er bezahlte dafür, löste die Pistazien aus den Schalen, legte sie nebeneinander auf den Tisch und warf sie sich dann alle zusammen in den Mund. Das war das Zeichen für Urhan, ihm ein Glas kaltes Wasser zu holen.

Der Vater hatte Ayas sehr gern gehabt. Einmal, weil er eben von alters her Wachtmeister in dieser Stadt war, dann aber auch, weil er so vieles wusste. Unbegrenzt war sein Wissen, von allem verstand er etwas.

„Das ist kein gewöhnlicher Mensch“, pflegte der Vater zu sagen und schickte ihm am Neujahrsabend wenigstens zehn Kilo Trockenfrüchte ins Haus. Und er hatte ihm Woche für Woche ein paar Geldscheine zugesteckt. Auch jetzt, nachdem der Vater schon lange Jahre tot war, hielt sich Urhan an diese Abmachung.

Auf der anderen Seite tuschelten leise zwei junge Arbeiter hinter dem Ladentisch, die Hände in den Hosentaschen, eine Wollmütze auf dem Kopf und den Mantelkragen bis zu den Ohren hochgeschlagen. Wie Urhan und Ayas hatten sie die Köpfe zusammengesteckt.

„Ich steh dir bei wie ein Löwe!“, sagte Ayas.

Urhan war unentschlossen, er wusste nicht, was er tun sollte.

„Dass das bloß nicht auf mich selbst zurückfällt!“, meinte er.

„Bring die Sache zu Ende!“

„Wenn aber irgendetwas durchsickert?“

„Das darf natürlich nicht sein. Du musst es eben schlau anfangen!“

Urhan dachte einen Augenblick nach, dann warf er Ayas einen kurzen Blick zu: „Wie bei Yussof?“

„Hat davon etwa jemand Wind bekommen? Jahre sind vergangen, und es hat keine Probleme gegeben.“

„Ich hab sie aber mit eigenen Ohren ›Brudermörder‹ sagen hören.“

„Scheißkerle!“, brüllte Ayas. Dann senkte er die Stimme: „Die Leute lästern sogar über den lieben Gott.“

„Mein lieber Ayas, das ist ein unergründliches Loch. Hoffentlich fall ich nicht kopfüber hinein.“

„Jetzt sag mal, war ich der Freund deines Vaters oder nicht?“

„Das ist schon richtig, aber ...“

„Du erinnerst mich an deinen Vater“, sagte Ayas, „das war auch so ein Angsthase.“

Urhan strich sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Er näherte sein Gesicht noch mehr der Lampe und meinte: „Ich bin kein Angsthase! Ich trau mich alles.“

„Du hast mich gefragt, was du mit diesem liederlichen Frauenzimmer anfangen solltest. ‚Lass dich scheiden!‘, hab ich dir gesagt. Bist du schlecht dabei gefahren? Jetzt fragst du mich, was du mit diesem Kerl da tun sollst. Schaff ihn beiseite, sag ich dir. Wenn erst mal seine Tochter hier auftaucht, bist du nicht mehr Herr im Geschäft. Du wirst sehen, dass eines Tages ein Mädchen mit blondem Haar hereinspaziert kommt und fragt: ‚Mein Herr, ist hier der Laden meines Vaters?‘“

Urhan sagte nichts darauf.

„Wo es schon mal so weit gekommen ist“, meinte Ayas, „zögere nicht! Mach dich jetzt gleich auf den Weg!“

„Bei diesem Schnee? Wohin soll ich da gehen?“ Und er warf einen Blick nach draußen.

So viel Schnee hatte der Himmel auf die Erde abgeladen, dass man noch viele Jahre später sagen sollte: Dieses schwarze Jahr! Ein großer Teil der Bewohner hatte sich verkrochen, doch viele mussten wohl oder übel Schnee und Kälte trotzen, um für ihr Leben zu sorgen. Der Schnee hatte alles lahmgelegt. Straßen und Gassen lagen in ungewohnter Stille, die Wasserleitungen waren eingefroren, kein Auto fuhr, auf den Straßen waren Schneehaufen aufgetürmt. Die Händler hatten zwar die Gehwege geräumt, doch wieder bedeckte ein halber Meter Schnee, der in der letzten Nacht gefallen war, die Erde.

In den engen Gassen lag der Schnee mehr als türhoch; die Leute hatten Tunnel gegraben und konnten so in den miteinander verbundenen Kanälen sicher hin- und hergehen. War das eine Strafe Gottes? Vielleicht. Viele Winter waren doch übers Land gegangen, es hatte auch heftig geschneit, aber niemand konnte sich an solche Schneemassen erinnern. Die Raben hatten die Stadt erobert. Auf jedem Baum ein paar Raben.

Auch innerhalb der Anwesen waren sie zu finden. Gelassen hockten sie auf den Gartenmauern und auf den Geländern der Veranden und hüpften hin und her. Kalt und seelenlos lag da ein Haus mit hohen Mauern, mit Kreuzgesims und zweiflügligen Fenstern vergessen unter dem Schnee. In den Zimmern des oberen Stockwerks hatten sich die Decken gebogen, und im Erdgeschoss hing ein grauenhafter Gestank nach Verwesung aus vergangenen Jahren in der Luft. Keiner hielt sich dort auf, kein Licht brannte, nicht einmal der Schnee auf dem Dach war geräumt. Die Glasstürze der Windlichter über der Haustür waren zerbrochen.

Es war einmal eine Zeit, da gab es noch die Mutter, die Mehl aus der Tonne holte, Teig knetete und in dem Ofen in der Mitte der Küche Brot buk. Der nach Brot und Holz duftende Rauch stieg vom Ofen auf. Und nachdem die Mutter das Brot herausgeholt hatte, band sie sechs Fladen in ein Tuch und schickte es Onkel Ssaber. Aidin und Urhan fuhren in einer fünfspännigen Kutsche eilends zu dessen Haus. Und die Tante steckte ihnen Leckerbissen in die Tasche.

Es war einmal eine Zeit, da hielt sich der Vater, wenn er die Treppe hinaufstieg, an den Sprossen des Geländers fest und zählte sie: einundzwanzig. Oben nahm er den Hut ab, hängte ihn an die Garderobe, legte den Mantel ab, schüttelte ihn aus und hängte ihn daneben. Er wischte mit einem Tuch über die Hosen, hängte sie aber nicht auf, sondern legte sie unter die Matratze, so dass sie morgens, wenn er sie wieder anzog, messerscharfe Bügelfalten hatten.

Auch eine Schwester hatte es gegeben, Aida mit Namen. Irgendwo im Hintergrund, in der Küche oder in der Speisekammer, quälte sie sich mit ihren Rheumaschmerzen ab. Und ging fast zugrunde.

Und nun – Kälte und Stille hatten sich in den Zimmern festgesetzt – war Urhan nicht da, um unter die schmutz-verkrustete Decke zu kriechen in der trügerischen Hoffnung auf einen ruhigen Schlaf. Nein, nein! Alle waren sie gestorben. Und er war der Letzte.

„Auch dieser da muss noch weg! Egal wie!“, hatte er gesagt.

„Worauf wartest du dann noch?“, hatte Ayas gefragt.

„Wo ist er bloß?“

„Im Teehaus am Salzsee, wie immer.“

„Bei diesem Schnee?“

„Du bist doch kein Kind der arabischen Wüste. Die Kinder in Ardebil* kommen schon mit dem Schnee zur Welt. Und vielleicht ist er auch schon tot.“

„Nein, ich weiß, dass er am Leben ist.“

„Woher willst du das wissen? Wie sollte er nach zehn Tagen noch leben?“

„Aidin ist am Leben“, sagte Urhan voller Überzeugung. „Ich glaube nicht, dass er stirbt. Gestern habe ich erfahren, dass er eine fünfzehnjährige Tochter hat. Habe erfahren, dass die seinen Personalausweis in den Händen haben. Wenn er noch lebt, haben wir’s bald mit tausenderlei Forderungen zu tun, Ayas.“

„Dann geh schon! Wie ein Löwe werde ich dir beistehen. Überhaupt nichts wird passieren. Denk nicht daran, dass ich alt geworden bin! Ich bin immer noch der Wachtmeister Ayas ...“

Urhan lauschte dem Zischen der Lampe und dachte an das Mädchen, das fünfzehn Jahre alt war, blondes Haar hatte und eines Tages kommen würde.

Ayas neigte den Kopf und starrte Urhan ins Gesicht. „Beeil dich, Bruder!“

Urhan blieb stumm.

„Wenn ich an der Stelle deines Vaters gewesen wäre – Gott hab ihn selig“, meinte Ayas, „hätte ich Aidin gleich damals, als ihm der Kamm schwoll und er sich als Dichter aufgespielt hat, zur Grenze gebracht und ihn abgeschoben.“

„Der Vater. Immer der Vater“, sagte Urhan, „der Vater hatte Angst vor ihm.“

„Du hast auch Angst vor ihm.“

„Nein, ich hab keine Angst. Ich hab’s nur nicht übers Herz gebracht.“

„Wärst du letzte Woche gegangen, wärst du jetzt deine Sorgen los. Man muss ‚Wasser‘ sagen und trinken, muss ‚Atem‘ sagen und Luft holen. Anderenfalls ist’s aus mit einem.“

Er setzte seine Mütze auf, erhob sich, knöpfte seinen Mantel zu, von unten nach oben, glatt und ordentlich. Dann sagte er herrisch, als spräche er zu einem Untergebenen: „Was willst du also tun?“

Urhan erwachte aus seiner Geistesabwesenheit. Er hob den Kopf. „Ich geh!“, sagte er.

Ayas stampfte mit den Füßen auf. „So wie ich. Steh schon auf und geh!“

Und er machte sich davon. Dabei vergaß er ganz, seine wöchentliche Zuwendung einzustreichen. Vielleicht wollte er sie aber auch nicht nehmen. Er ließ Urhan in großer Verwirrung zurück. Was für eine Einsamkeit einen doch überfallen konnte, einen verhexte, erstarren ließ. Wie einen Berg. Aber konnte er denn bleiben?

Kurz danach, es war genau zwei Uhr nachmittags, brachte es Urhan nicht fertig, die Posten aus dem Grundbuch ins Hauptbuch zu übertragen, so sehr er sich auch bemühte, zu einem Abschluss zu kommen. Voll Unruhe zählte er die eingenommenen Geldscheine und steckte sie in die Hosentasche. Er legte die Bücher in den Rahmen des Rechenbretts, vergaß aber ganz, beides in die Schreibtischschublade zu stecken und diese abzuschließen. Die Mütze jedoch vergaß er nicht. Die trug er sommers wie winters. Während der Arbeit legte er sie auf den Tisch, beim Weggehen nahm er sie wieder an sich. Er nahm sie, setzte sie sich auf und knüpfte den Mantel zu. Er ließ den Blick durchs Kontor schweifen. Den Gehilfen gab er keine Aufgaben, sagte nur: „Ihr könnt gehen!“

Er wartete, bis sie ihr Essgeschirr zusammengepackt hatten und gingen. Plötzlich hatte er das Gefühl, etwas mitnehmen oder noch etwas erledigen zu müssen. Er sah um sich und dachte angestrengt nach, doch fiel ihm nichts ein. Nachdem er die Gaszufuhr der Glühstrumpflampe unterbrochen hatte, verließ er das Kontor. Er sperrte die Schlösser oben und unten an der Tür ab und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf alles.

Dann ging er auf den Ausgang des Basars zu. Er drückte der Bettlerin Martha, die auf der Treppe an der Ecke der Passage saß, einen Fünf-Tuman-Schein* in die Hand und sagte: „Du zitterst ja wie Espenlaub, Martha!“

„Es ist schrecklich kalt geworden“, sagte die alte Frau.

„Gott segne dich!“

Urhan kehrte nochmals um. Hinten in der Karawanserei sah er die Lastenträger, die in ihrem Blechkanister ein Holzfeuer unterhielten. Überall lag Rauch in der Luft. Er deutete auf die unter den Gewölben aufgestapelten Säcke mit Pistazien und Sonnenblumenkernen und sagte zu Essma’il: „Ihr einfältigen Feueranbeter, ihr werdet diese Karawanserei noch einmal in Brand stecken.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er unter dem Gewölbe an einer Reihe von Säcken mit gerösteten Sonnenblumenkernen entlang, strich mit der Hand darüber und sagte, ohne sich direkt an Essma’il zu wenden: „Passt auch auf das Geschäft auf!“

Dann ging er auf die Pistaziensäcke zu, die auf der linken Seite bis hoch unter die Decke aufgestapelt waren und in den nächsten Tagen zu den Einzelhändlern geschafft werden sollten und ihm sicher noch vor Neujahr einiges an Gewinn einbringen würden. Er strich auch über die prallen Pistaziensäcke und warf nochmals einen Blick nach hinten. Die Lastträger hatten die Ohrenklappen ihrer Mützen heruntergezogen; sie nickten Urhan einen Gruß zu. Ihre Augen waren müde und tränten. Ganz langsam ging er die Passage des Basars entlang und hörte ein „Ssalam, Herr Urhan“.

Er wollte nicht aufsehen, erwiderte nur den Gruß, wer das auch immer gewesen sein mochte.

Er kannte diese Leute nicht, und er hatte auch nicht das Bedürfnis, sie zu kennen. Wie der Wind eilten sie nahe an einem vorbei.

„Wenn der Wind unter den Hutrand bläst, hebt er den Hut hoch und weht ihn weg. Pass auf!“, pflegte der Vater zu sagen.

Was waren das doch noch für angenehme Zeiten gewesen! Als Vater noch lebte, machte es unvorstellbar großen Spaß, auf der Terrasse des Hauses zu schlafen. Auch nachts war der Himmel blau. Und man hatte bunte Träume. Bis spät in die Nacht war aus der Küche das Klappern des Geschirrs zu hören, wenn Mutter und Aida abwuschen. Aidin wälzte sich so lange von einer Seite auf die andere, bis alle schliefen und er dann sein Buch öffnen und lesen konnte. Manchmal schien es mir, als ob er die Seiten des Buches geradezu fressen würde. Und am Ende waren’s auch die Bücher, die ihn zugrunde gerichtet haben. Aus dem Zimmer am Ende des Korridors war der Laut seines Lidschlags und seines Nachdenkens zu hören. Und die rolligen Katzen schrien auf den hohen Hofmauern.

„Was liest du denn da?“, fragte Vater.

Sicherlich bereitete er sich auf den Unterricht vor, denn er antwortete: „Ich mache Hausaufgaben, Vater.“

„Lern nur!“, meinte Vater. „Wir wollen doch sehen, was für große Leistungen du mal vorzuweisen hast.“

Er hatte die Straße erreicht und trat nun fester auf, damit der Schnee nicht an seinen Stiefeln hängen blieb. Im Straßengraben schaukelten verfaulte Orangen auf dem Wasser und gingen dann unter. Das Wasser schoss schnell vorbei. Der Himmel war ganz bedeckt von grauen, samtenen Wolken. Urhan blieb stehen und schaute nochmals hinüber zum rückwärtigen Teil der Karawanserei.

Er war unentschlossen, wusste nicht, was er tun sollte. Da war einerseits die Arbeit im Kontor, die Nachmittagskundschaft und die vielen Verpflichtungen; andererseits beunruhigte ihn auch die zehntägige Abwesenheit von Ssoudji*.

Seit dem frühen Morgen überlegte er hin und her, ob er gehen sollte oder nicht. Eigentlich schon seit dem vorigen Abend. Aber konnte er denn bleiben? Wenn er abends dieses große, kalte Haus betrat, richtete sich das Geraune weit zurückliegender Zeiten wie eine Mauer vor ihm auf und verstummte. Zu einer Kiefer mitten im Hof wurde es, wurde zur Tür, die verschlossen blieb. Dieses entfernte Geraune verdichtete sich zur Gestalt Yussofs, der, einem Stück Fleisch gleichend, mit ausdruckslosen Augen vor sich hinstarrte.

Wenn Aidin zu Haus festgehalten werden konnte, brauchte ich nur zu fragen: „Wo bist du, Ssoudji?“, und ein in einen langen Mantel gekleideter Mensch, mit einem Schal und Vaters altem Hut, kroch wie ein schwarzes Ungeheuer oben aus dem Loch und gab sich lautlos zu erkennen. „Kette mich doch nicht an, Urhan!“, bat er.

„Nicht Urhan“, entgegnete ich, „Herr Bruder!“ Und ich gab ihm eine hinter die Ohren. Der Hut flog ihm vom Kopf. Vaters alter Hut war der Grund dafür, dass ich mich zurückhalten konnte. Manchmal möchte ich ihm am liebsten eine runterhauen oder ihn oben an das Geländer der Veranda anketten. Aber sein lachendes Gesicht unter diesem alten, verblichenen Hut hält mich davon ab. Nichts zu machen.

Mutter sagte: „Du bist ganz ohne Gefühl.“

„Nein“, antwortete ich, „das bin ich nicht!“

Und ich bin’s wirklich nicht. Wenn du noch lebtest, Mutter, wäre dir das auch zu viel geworden. Auch du hättest dieses Haus nicht mehr betreten, wo das Wasser im Becken grün geworden ist, die Kiefernnadeln den Hof bedecken, die Kälte hinter den verstaubten Fenstern der Zimmer hockt und die Feuerstellen in der Küche unter Gerümpel verschwunden sind. Ein Kätzchen liegt schon seit zwei Monaten am anderen Ende des Hofes langgestreckt im Eis der Regenrinne und wird vom Eis immer weiter in die Länge gezogen. Wer hat Lust, jemanden zu rufen, um es herunterzuholen? Wer hat Lust, die Öfen anzuzünden? Die Decksteine oben auf der Mauer fallen herunter, einer nach dem anderen, das ganze Gebäude scheint erfroren zu sein. Niemand fegt, kein Gast kommt mehr. Die Gläser der Windlichter über der Haustür sind zerbrochen. Die leeren Zimmer erscheinen größer, und der Widerhall der Schritte hämmert auf das Hirn ein. Das Geräusch des Atems schallt. Man traut sich nicht mal mehr zu husten, es dröhnt im Schädel und quält einen. Von dem ganzen Umtrieb sind nur die Raben auf der Kiefer geblieben, die, dicker und älter geworden, auf den Ästen hin und her hüpfen und mit frecher Stimme ‚kalt, kalt‘ krächzen.

Er starrte auf die kahlen Bäume am Bürgersteig. Der Schnee hatte die Zweige heruntergebogen. Sicher würden sie beim nächsten Schneefall brechen. Auch die Menschen waren wie die Bäume: Immer lag schwerer Schnee auf ihren Schultern, seine Last war bis zum nächsten Frühjahr zu spüren. Das Schlimme war, dass die Menschen nur einmal starben. Doch was für eine schmerzhafte Plage dieses eine Mal doch war!

Er fasste in die Manteltasche, fühlte in deren Tiefe die Windungen des Stricks, den er schon morgens eingesteckt hatte, und mischte sich beruhigt unter die Leute. An der Ghanat-Kreuzung zog er seine silberne Taschenuhr heraus und warf gewohnheitsgemäß einen Blick darauf, ohne jedoch die angezeigte Zeit zu erfassen. Dann ließ er den Deckel zuschnappen und steckte die Uhr wieder ein. Mutter hatte immer gesagt, Aidin gehe zugrunde. Man müsse sich um ihn kümmern. Sie hatte mich sogar gefragt, wo denn dieses armenische Mädchen sei, vielleicht sei sie an allem Schuld.

„Nein, Mutter“, hatte ich geantwortet, „er ist nur müde. Ich bring ihn nach Villadarreh*; dort in der frischen Luft werden wir uns beide erholen.“

Als er am Geschäft des Uhrmachers Dorostkar vorbeiging, kam es ihm plötzlich in den Sinn, einen Moment stehenzubleiben und das Schaufenster anzuschauen. Sicher tausendmal war er im Laufe seines Lebens dort vorbeigekommen, doch diesmal betrachtete er mit besonderer Aufmerksamkeit die riesige runde Uhr von Herrn Dorostkar. Ihr Gehäuse war aus Kastanienholz, die Zeiger aus Erlenholz, das Zifferblatt war geschnitzt, und ihr rundes, gewölbtes Glas war gleichzeitig auch das Schaufenster. Zwischen Glas und Zifferblatt standen wie immer ein Dutzend Kaminuhren. Es war eine sehr schöne Uhr, die Herr Dorostkar da vor langer Zeit gebaut hatte. Sie war jedoch vor mehr als dreißig Jahren stehengeblieben, das hieß sie ging nicht mehr, seitdem auch das Herz von Herrn Dorostkar für einen Augenblick stehengeblieben war. Vielleicht hatte aber auch sein Herz ausgesetzt, als die Uhr aufgehört hatte zu laufen. Auf jeden Fall war beides zur selben Zeit geschehen, mit dem einzigen Unterschied, dass Herrn Dorostkars Herz langsam zu schlagen begonnen hatte und wieder klopfte, während die Uhr ein für alle Mal stehengeblieben war und Herr Dorostkar sie trotz all seiner Geschicklichkeit nicht mehr hatte zum Laufen bringen können.

Punkt halb sechs waren die Zeiger zum Stillstand gekommen. Um halb sechs Uhr nachmittags an einem heißen Sommertag im Jahre 1325 . Und jetzt, nach so vielen Jahren, standen sie immer noch. Herr Dorostkar machte sich hinter seinen Instrumenten am Werk einer Armbanduhr zu schaffen und dachte sicher an den einmal kommenden Tag, an dem er die Uhr wieder in Gang bringen würde. Dann würde er das wohltönende Schlagwerk zum Klingen bringen und so jedem beweisen, dass der Mensch alles vermag, was er will, vorausgesetzt, dass es nicht gegen die Natur ist. Das hatte der Vater zu Urhan gesagt, und Urhan pflegte es so den anderen weiterzugeben.

Wenn die Uhr wieder ginge, würde sich ein wunschlos glücklicher Herr Dorostkar auf dem Fußboden ausstrecken und sich dem Tode ergeben. Das hatte er im Laufe der letzten dreißig Jahre allen Einwohnern der Stadt gesagt.

„Auch das ist ein großes Unglück“, pflegte Vater zu sagen.

Doch Mutter meinte: „Sprecht nicht von diesem Verrückten.“

Jetzt, nachdem die Kraft der Jugend geschwunden ist, kann ich vieles nicht mehr ertragen. Ich brauche nur die Haustür aufzuschließen, und all die Menschen, die so voller Leben sind, voller Betriebsamkeit, fliehen. Eine entsetzliche Stille umfängt mich an der Tür, bringt mich die Treppe hoch und legt mich auf das aus allen Fugen geratene Holzbett und unter die vor Schmutz starrende Decke. Bis ich allmählich warm werde, ist es Mitternacht geworden; bei all dieser Müdigkeit und all diesen Grübeleien.

Wenn ich nachmittags wieder das Haus verließ, schaute ich immer bei Mutter vorbei. Mit ihr ging es zu Ende, sie war nichts als Haut und Knochen. Man hätte sie nur fest an der Nase zu packen brauchen, und schon wär’s aus gewesen mit ihr. In ihrem Zimmer, seit eh und je dem großen, dreitürigen im unteren Stock, roch es nach Knoblauch und abgestandener Luft, roch es wie nach dem Atem eines Schwindsüchtigen. Der Geschmack klebte an den Teegläsern und an den Untertassen und floss mit dem Tee die Gurgel hinab. Ich setzte mich an ihr Bett. Dabei war ich bemüht, ihr nicht in die Augen zu schauen.

Ich sagte: „Guten Tag, Mutter.“

Ich nahm ihre Hand und streichelte sie, ohne auch nur das Geringste dabei zu empfinden.

Mutters Augen waren starr an die Decke geheftet; sie lagen tief in den Höhlen, wie Schwalbennester am Stamm alter Bäume.

„Aidin, wo ist mein Aidin?“, fragte sie.

Meine Lider zuckten. Ich starrte auf das Blumenmuster des Teppichs, oder auch nirgendwohin, zwinkerte nur. Ich war doch auch ihr Urhan und war es doch nicht. Da war nichts zu machen. Ich hatte akzeptiert, es nicht zu sein.

Ich sagte nur: „Er muss irgendwo hier in der Nähe sein, Mutter.“

Mutter wandte einen Augenblick den Kopf. Sie entzog mir ihre Hand. Ihre weißen, knochigen Finger klammerten sich an den Bettrand.

„Bring ihn mir sofort her!“, sagte sie. „Verstanden?! Wenn du nicht auf ihn aufpassen kannst, dann binde ihn hier fest, vor meinen Augen!“

„Wo soll ich ihn denn suchen?“, fragte ich.

Mutter setzte sich auf. Immer wieder zeigte sie unwahrscheinliche Kräfte. Als ob sie sie gespeichert hätte; doch ich wusste nicht, wo.

„Hast du denn kein Gewissen?“, brüllte sie. Tränen kullerten über ihr bleiches Gesicht. „Nach wem bist du nur geraten?“

„Wo ist mein Aidin?“ Ihre Stimme erinnerte einen an das Zerreißen eines Stoffes.

„Mutter“, sagte ich, „reg dich nicht auf! Heute Abend noch find ich ihn. Ich versprech’s dir.“

„Kannst du denn nicht verstehen? Wo ist Aidin jetzt?“, entgegnete sie.

Er war hinter der Anushirawan-Schule. Dort spielte ein zwölf- oder dreizehnjähriges Kind auf einer Maultrommel, und er hörte zu. Der Speichel lief ihm aus dem Mund.

„Was tust du hier, du Ungeheuer?“, fragte ich.

„Ich bin nur einfach so hierhergekommen.“

„Was fällt dir bloß ein? Das war aber das letzte Mal! Los, komm schon!“, ereiferte ich mich.

Mutter war nervös und voller Unruhe. Zitterig und knochig. Sie packte mich fest am Jackenärmel.

„Wo ist er? Bist du denn taub?“

„Sicher läuft er einfach so herum, hinter der Schule, zum Teehaus, zum Akhawan-Garten“, meinte ich.

Das Weinen hatte sie ein wenig beruhigt, doch ihre Stimme bebte: „Er ist doch kein Kind mehr. Er ist neunundzwanzig Jahre.“

„Als ob ich meinem Bruder etwas Schlechtes wünschte!“, sagte ich. „Das tue ich doch nicht. Warum schiebst du mir immer an allem die Schuld zu?“

Sie streckte sich in ihrem Bett aus und zog das weiße Leintuch bis über die Brust hoch. So fest hatte sie das Tuch mit ihren Händen gepackt, als würde sie mich zerdrücken.

„Ich weiß nicht, was du ihm angetan hast“, sagte sie. „Auf jeden Fall aber befehl ich dir, gut auf ihn aufzupassen. Er verlangt doch nichts von dir. Nur ein Stückchen Brot und einen Platz zum Schlafen.“

„Mutter, um Gottes willen, sag das nicht! Sprich nicht immer so!“ Und ich weinte.

„Dann verkauf doch was. Nimm seinen Anteil und bring ihn irgendwohin!“

Am liebsten hätte ich Vaters Testament aus der Tasche gezogen und es ihr laut vorgelesen. Aber das ging natürlich nicht.

So sagte ich: „Mutter, ich versprech’s dir, ich bring ihn nach Teheran oder ins Ausland. Ich komm auch für die Unkosten auf. Ich muss nur noch einiges regeln, dann ..., ich versprech’s dir!“

Vater hatte in seinem Testament offiziell festgelegt, dass keiner seiner Erben das Recht habe, zu Lebzeiten den Besitz oder einen Teil des Besitzes an einen Dritten zu veräußern.

Abgesehen davon, was für eine Hinterlassenschaft war das schon? Einmal das Eigentum an einem Geschäft in der Passage des Basars der Trockenfruchthändler in der Karawanserei, ein Wohnhaus auf einem Grundstück von 480 m2 in der Lord-Gasse Nr. 3, einer Seitenstraße der Sheikh-Ssafiy-od-din Ardebili-Straße, und ein 1240 m2 großer Aprikosengarten nördlich von Sardab*. Und diesen Aprikosengarten hatte er auch noch Mutter überschrieben, um ihr nichts schuldig zu bleiben.

Mutter drückte ihr Taschentuch auf die Augen, wischte sich die feuchten Wangen ab und sagte: „Ich möchte nicht, dass er einsam und verlassen in den Bergen oder draußen in der Wildnis umkommt, nur das.“

„Sag so was nicht, Mutter!“

„Was wirst du ihm erst nach meinem Tode antun?“

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