Magnus Carlsen

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Als Magnus acht Jahre alt war, trat er dem Schachklub der Gemeinde Bærum bei. Auch hier leitete Bjarte Leer-Salvesen das Training, den Magnus bereits aus der Grundschule kannte. Leer-Salvesen studierte damals Theologie an der Universität von Oslo und arbeitete nach Abschluss seines Studiums als Pastor. In seiner Gruppe waren rund zwanzig Kinder. Er erzählt: »Bereits nach ein paar Wochen merkte ich, dass Magnus besonderes Talent für das Schachspiel hatte. Er war schon nach sehr kurzer Zeit viel besser als alle anderen.«

Ein Jahr später spielte Magnus bereits sehr gut, und Torbjørn Ringdal Hansen übernahm die Trainingsverantwortung. Kurz zuvor hatte Leer-Salvesen beim Simultanschach gegen seinen Schüler gewonnen, als Magnus einer von fünfundzwanzig Spielern war, die gegen den Theologiestudenten antraten. Leer-Salvesen ist damit einer der wenigen Spieler auf der Welt, der Magnus im Simultanschach geschlagen hat, wenn Magnus zu den Herausforderern gehörte.

Dem norwegischen Schachgroßmeister Simen Agdestein war das Talent des Neunjährigen ebenfalls aufgefallen. Er schlug vor, dass Magnus bei Torbjørn Ringdal Hansen lernen sollte. Gleich zu Beginn des Unterrichts bemerkte Ringdal Hansen, dass der Junge etwas Besonderes hatte: »Es war völlig unglaublich, wie er sich an alles erinnerte, was ich ihm einmal erklärt hatte.«

Als Neunjähriger hatte Magnus ein Rating von ungefähr 900 und träumte davon, über 1000 Punkte zu kommen. Ein Jahr später stand er bereits bei einer Elo von 1900. Eine enorme Steigerung in so kurzer Zeit. Ringdal Hansen erklärte Simen Agdestein, dass nun er das Training übernehmen müsse. Magnus war zu gut für seinen Lehrer geworden!

Die Gemeinsamkeit aller fünf Trainer ist, dass ihre Spielstärke im Verhältnis zu ihrem Schüler besonders hoch war. Bjarte Leer-Salvesen hatte zu der Zeit, als Magnus mit dem Schachspielen anfing, annähernd 2300 Elo-Punkte. Zu dieser Zeit wurde Leer-Salvesen auch Internationaler Meister.

Torbjørn Ringdal Hansen hatte sogar noch einige Ratingpunkte mehr, als er die Verantwortung übernahm; er sollte Magnus’ erster richtiger Trainer werden.

Es kommt in Norwegen ausgesprochen selten vor, dass junge Schachspieler so gute Trainer haben wie Magnus Carlsen. In Russland ist es normal, dass Kinder mit dem Vater, einem Onkel oder einem anderen Verwandten trainieren. Das mag im ersten Moment vielleicht ein wenig amateurhaft klingen, doch sehr viele dieser Trainer sind ausgesprochen gute Schachlehrer und befinden sich oft auf einem hohen Niveau wie Leer-Salvesen und Ringdal Hansen.

Als Simen Agdestein und später Peter Heine Nielsen und Garri Kasparow die Verantwortung für das Training übernommen hatten, arbeitete Magnus Carlsen mit Kapazitäten zusammen, die der Weltelite angehörten. Kasparow war fünfzehn Jahre Weltmeister, Peter Heine Nielsen und Simen Agdestein zählten in ihrer besten Zeit zur erweiterten Weltspitze.

Man weiß von anderen Sportarten, dass diejenigen, die mit guten Sportlern trainieren, oft selbst gute Sportler werden. Ohne Zweifel ist dies auch bei Magnus Carlsen der Fall.

Der Sieger Simen Agdestein

Der 1967 geborene Simen Agdestein ist ein außerordentliches Sporttalent. Als Zwölfjähriger gehörte er zu den besten 800-Meter-Läu-fern Norwegens. Gleichzeitig war er ein ausgezeichneter Skiläufer. Mit elf Jahren begann er ernsthaft, Schach zu spielen, und als Sechzehnjähriger gewann er bei einem Turnier im norwegischen Gjøvik gegen Exweltmeister Boris Spasski. Eine Sensation. Der Junge hatte unerklärliche Fähigkeiten. Mit achtzehn Jahren errang er als damals jüngster Spieler der Welt den Großmeistertitel.10 Bei der Weltmeisterschaft der Junioren erreichte er den zweiten Platz, doch damit nicht genug: Simen Agdestein war der einzige Schachspieler mit Weltklasseniveau, der auch in einer Fußballnationalmannschaft spielte. Leider bekam er Knieprobleme und musste sich einer Operation unterziehen. Die Operation misslang, und Simen Agdestein musste im Alter von zweiundzwanzig Jahren seine Fußballkarriere beenden.

Die meisten Beobachter waren der Ansicht, er würde nun ein noch besserer Schachspieler werden, da er mehr Zeit hätte, sich darauf zu konzentrieren. Doch nach der missglückten Operation begann für Simen Agdestein eine traumatische Phase seines Lebens, er bekam Atemprobleme und war anderthalb Jahre krankgeschrieben. »Diese Zeit war ein gelebter Albtraum«, sagt er. »Ich verstand nicht, was mit mir passierte. Ich musste mich zusammenreißen, um wieder auf die Beine zu kommen, aber im Grunde fühle ich mich seit damals nicht mehr richtig gesund.«

Die große Frage für Simen Agdestein lautete nicht, ob er Fußball oder Schach spielen konnte. Für ihn ging es in erster Linie darum, gesund zu werden. Er fing wieder an, Schach zu spielen, aber er erreichte nicht mehr die Form wie vor der Operation; und es dauerte mehrere Jahre, bis er das Gefühl hatte, wieder auf hohem Niveau Schach spielen zu können. Als Fußball-Nationalspieler und einer der weltbesten Schachspieler war Simen Agdestein in Norwegen unglaublich populär. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein ganzer Haufen Jugendlicher Schlange stand, um ein Autogramm von ihm zu bekommen. Nach seiner Fußballkarriere gelang es ihm jedoch nicht, sein hohes Rating als einer der besten Schachspieler der Welt zu halten. Als Schachlehrer und Organisator machte er aber weiterhin auf sich aufmerksam. Und zweifellos waren seine Lehrmethoden sehr gut für Magnus: »Mir war wichtig, dass ich in Magnus nichts zerstöre, sondern das Talent zur Blüte bringe.«

Im Gegensatz zu den strengen und detaillierten Unterrichtsmodellen, die man von osteuropäischen Schachschulen kennt, ging es bei Agdestein eher lustbetont zu. Spaß zu haben war das Wichtigste. Diese Trainingsform ist umstritten, aber für Magnus war sie perfekt.

»Viele Trainingseinheiten waren kaum vorbereitet, aber ich hatte eine Vision und einen Plan, wie ich ihn zum weltbesten Schachspieler mache«, sagt Simen Agdestein. Diese spielerische, spontane und lebenslustige Trainingsmethode war einzigartig. Trotzdem musste Magnus wie alle anderen Schachspieler auf dem NTG (Norges Toppidrettsgymnas), dem führenden Sportgymnasium Norwegens, ein Programm absolvieren, in dem ihm auch Kenntnisse der Schachtheorie beigebracht wurden. Nach seiner Grundschulzeit ging Magnus auf das NTG in Oslo, dort hatte Simen Agdestein den Schachzweig eingeführt und unterrichtete auch selbst.

Im Mai 2014 gelang ihm bei dem stark besetzten Norway-Chess-Turnier in Stavanger ein Comeback. Dort trat er gegen neun Spieler der Weltelite an. Es gab eine Reihe skeptischer Stimmen wegen seiner Teilnahme, viele meinten, der Unterschied zwischen der Weltspitze und einem längst abgetretenen Schachspieler, der nicht einmal mehr zu den hundertfünfzig weltbesten Spielern gehörte, sei zu groß. Vor der Teilnahme musste sich Simen Agdestein gegen Norwegens zweitbesten Spieler, Jon Ludvig Hammer, qualifizieren. Agdestein gewann. Dennoch hatte auch er Zweifel an der Richtigkeit seiner Teilnahme: »Es wäre normal gewesen, Jon Ludvig einzuladen. Er spielt wirklich professionell und engagiert Schach. Aber dann kam ich auf die Idee, ein kleines Comeback zu versuchen. Den Glauben an die eigenen Fähigkeiten hatte ich nie verloren, und ich hatte auch keine Angst, gegen die anderen anzutreten. Kurz vor Beginn des Turniers fand ich dann mit GM Jewgeni Romanow einen ausgezeichneten Sekundanten, mit dem die Zusammenarbeit gut funktionierte.«

Mit seinem russischen Sekundanten überraschte er alle – nur nicht sich selbst. Judit Polgár, die weltbeste Spielerin, reagierte so: »Simen Agdesteins Partien und seine Ergebnisse in Stavanger waren fast unglaublich.« Romanow, der damals halb so alt war wie sein Schützling, war ebenfalls beeindruckt: »Simen liebt Schach. Das war der Hauptgrund, warum er so gut spielte.«

Simen Agdestein, der sich über zwanzig Jahre lang nicht mehr mit der Weltelite gemessen hatte, war mit den anderen auf Augenhöhe. Er erreichte in neun Runden 3,5 Punkte; in einigen Partien hätte er mehr als ein Remis erreichen können, ja müssen, allerdings übersah er einige recht einfache Gewinnzüge. Kurz vor Schluss lag er auf einem ausgezeichneten Platz im Mittelfeld, da er aber in den letzten beiden Runden leer ausging, landete er in der Schlusstabelle ganz unten. Exweltmeister Vishy Anand, der als einziger Top-Spieler nicht an dem Turnier teilgenommen hatte, war ebenfalls überrascht. »Große Leistung von Simen«, kommentierte der ehemalige Weltmeister.

Dank guter Vorbereitung kam Simen oft besser aus der Eröffnung als seine Gegner. Mit Hilfe seines Sekundanten, der rund um die Uhr für ihn arbeitete, erspielte er sich aussichtsreiche Stellungen. Nach den ersten zehn, fünfzehn Zügen war Agdestein klar, dass er den Vergleich mit den Weltstars nicht scheuen musste. Mit großem Vertrauen in die eigenen Kräfte und seine überragenden Rechenfähigkeiten war Simen Agdestein nahe dran, für eine kleine Schachsensation zu sorgen. Allerdings gelingen Sensationen in der Realität eher selten. Dennoch bestand kein Zweifel, dass Simen Agdestein noch immer auf Weltklasseniveau spielen konnte.

Einige Monate später trat er für den Osloer Schachklub Oslo Schachselskap beim Europacup der Vereinsmannschaften in Bilbao an. Dort gewann er gegen den Bulgaren Wesselin Topalow, der zu diesem Zeitpunkt auf Platz 3 der Weltrangliste geführt wurde.

Ist Spielstärke altersabhängig?

Ein Comeback als Siebenundvierzigjähriger auf dem Fußballplatz, auf Skiern oder in der Leichtathletik ist unmöglich. Schach ist daher etwas Besonderes. Simen Agdesteins Karriere beweist zwei Dinge. Zum einen ist es möglich, sich auch mit siebenundvierzig Jahren noch mit der Weltelite zu messen. Und zum anderen ist ein Comeback auch dann denkbar, wenn man fast zwanzig Jahre nicht mehr auf höchstem Niveau gespielt hat. Als Schachlehrer und Leiter der Schachklasse auf dem Sportgymnasium NTG stand er natürlich im täglichen Training, dennoch ist es erstaunlich, dass er sich der Weltelite als ebenbürtiger Gegner erwies.

 

Als Vishy Anand in Chennai den Weltmeistertitel verteidigen musste beziehungsweise in Sotschi versuchte, ihn zurückzugewinnen, waren die meisten Beobachter der Meinung, dass Magnus Carlsen wegen seines deutlich niedrigeren Alters klar im Vorteil wäre. Ist jemand jedoch in einer so guten physischen Verfassung wie Anand, ist es keineswegs sicher, dass das Alter von so großer Bedeutung ist. Die meisten Schachweltmeister waren relativ jung, doch es gibt genügend Beispiele von Spielern, die auch noch im Alter zur Weltelite gehörten.

Aus der jüngeren Vergangenheit sind Wassili Smyslow und Viktor Kortschnoi zwei gute Beispiele. Mit dreiundsechzig Jahren gelang es Smyslow 1984, bis ins Finale des Kandidatenturniers vorzudringen, dann jedoch verlor er mit 4,5:8,5 gegen Kasparow. Der russische Autor, Psychologe und Schachspieler, GM Nikolai Krogius, untersuchte zweiunddreißig Spieler der Weltspitze aus dem Zeitraum von 1881 bis 1967. Er fand heraus, dass ein Schachspieler durchschnittlich im Alter von fünfunddreißig Jahren die besten Resultate erzielt. Mit siebenundvierzig Jahren kommt es bei den meisten Spielern zu deutlich schwächeren Ergebnissen. Laut Krogius war es durchaus möglich, die Weltspitze zu erreichen, auch wenn man nicht schon in sehr jungen Jahren mit dem Schach angefangen hatte.

Er verwies auf eine Gruppe von zehn Spitzenspielern, darunter die Weltmeister Lasker und Botwinnik. Im Durchschnitt begannen sie mit 14,3 Jahren Schach zu spielen. Der russische Schachmeister Michail Tschigorin begann mit sechzehn Jahren, Lasker und Botwinnik waren zwölf Jahre alt.

In einer anderen Gruppe von zehn Topspielern, in der weitere Weltmeister vertreten waren, lag das durchschnittliche Einstiegsalter bei sechs Jahren und vier Monaten. Hier findet man Nimzowitsch, der mit acht Jahren begann, Capablanca, der vier Jahre alt war; Aljechin begann mit sieben und Euwe mit fünf Jahren. Bei Krogius’ Untersuchungen stellte sich heraus, dass die Schachkarriere von Spielern, die sehr früh angefangen hatten, länger dauerte.11

Diese Zahlen wären niedriger, würde man eine entsprechende Untersuchung mit aktiven Spielern von heute durchführen. Es besteht kein Zweifel, dass die aktuellen Spitzenspieler bei ihren Anfängen als Schachspieler im Durchschnitt jünger waren als ihre Vorgänger.

Die heutigen Vertreter der absoluten Weltspitze begannen fast alle, sehr früh Schach zu spielen, meist im Alter von fünf oder sechs Jahren. Heute ist es quasi undenkbar, dass jemand, der erst mit dreizehn oder vierzehn Jahren beginnt, noch die Weltspitze erreichen kann. Es ist wesentlich leichter geworden, Schachprogramme und wichtige Informationen über das Spiel zu bekommen. Daher ist die Möglichkeit, unter die zehn weltbesten Spieler zu kommen, verschwindend gering, wenn man zu spät beginnt. Und doch gibt es weit mehr Ausnahmen beim Schach als in den meisten anderen Sportarten.

Malysj

In den letzten vier Monaten des Jahres 2003 nahm Magnus Carlsen an sechs Turnieren teil und spielte dabei achtundfünfzig Partien. Er schätzte diesen Herbst so ein: »Es war eine schöne Zeit für die Familie, aber schachlich war ich nicht zufrieden. Durch die viele Fahrerei war alles ein wenig hektisch, und auf Reisen muss man immer damit rechnen, dass man krank wird, so wie ich. Das Programm war vielleicht ein bisschen zu hart.«

Das halbe Jahr, in dem die Familie unterwegs war, wird allen unvergesslich bleiben. Magnus’ ältere Schwester Ellen beschreibt die Reise zehn Jahre später wie ein Märchen.

»Es war einfach großartig, was die Familie zusammen unternommen hat. Der Zusammenhalt wuchs enorm, und falls ich eines Tages eine Familie haben sollte, werde ich bestimmt etwas Ähnliches machen. Obwohl es für Magnus auf dieser Reise vor allem darum ging, Schach zu spielen, glaube ich, dass der soziale Aspekt mit der Familie für ihn genauso wichtig war. Der Zusammenhalt und die Geborgenheit, die sich in der Familie entwickelten, haben ihm gutgetan.«

Obwohl Magnus Carlsen mit seinen Leistungen im Herbst 2003 nicht zufrieden war, hatte er sich als Schachspieler zweifellos weiterentwickelt. Einige seiner Partien hatten Aufsehen erregt. Einer derjenigen, die auf ihn aufmerksam wurden, war Dirk Jan ten Geuzendam, Redakteur der renommierten Schachzeitschrift New in Chess. Ten Geuzendam hatte die Partien nachgespielt, die Magnus auf Kreta gespielt hatte, und war beeindruckt. Als Simen Agdestein anrief und ihm erklärte, dass der Junge Mitte Januar 2004 unbedingt am prestigeträchtigen »Corus-Turnier« im niederländischen Wijk aan Zee teilnehmen müsse, war ten Geuzendam skeptisch, sorgte aber dafür, dass er eingeladen wurde.

Magnus sollte in der C-Gruppe spielen. A-Gruppe und B-Gruppe bestanden aus Spielern der Weltspitze, während die C-Gruppe talentierten Spielern vorbehalten war, die auf dem Weg an die Spitze waren. Mit seinen dreizehn Jahren war Magnus Carlsen der jüngste Teilnehmer des Turniers. Er wurde von seinem Vater begleitet, und diesmal sollte das Wunderkind den verdienten Lohn für seine Anstrengungen erhalten.

Nach sechs Runden hatte er vier Siege und zwei Remis auf seinem Konto. In der siebten Runde traf er auf GM Merab Gagunaschwili, einen sehr starken Georgier. Magnus hielt sich ordentlich in dieser Partie, doch es sah lange nach einer Niederlage aus. Dann fand er jedoch einen Ausweg. Er wanderte mit seinem König auf die gegenüberliegende Seite des Bretts, und merkwürdigerweise bereitete dies seinem Gegner erhebliche Probleme. Magnus gewann, und bereits nach sieben Runden war klar, dass er seine erste GM-Norm errungen hatte – mit dreizehn Jahren und zwei Monaten.

Die Spieler der A-Gruppe und die Journalisten wurden auf den kleinen Burschen aufmerksam. Das Turnier endete mit einem klaren Sieg für Magnus, dessen 10,5 von 13 möglichen Punkten die ganze Schachwelt aufhorchen ließen.

Den Beinamen »Mozart des Schachs« bekam er nach der zwölften Partie, die er gegen den elf Jahre älteren Niederländer Sipke Ernst austrug. Er beherrschte seinen Gegner in einem Maß, dass die Experten voller Bewunderung waren. Für Turnierleiter Jeroen van den Berg, den Schachjournalisten Lubomir Kavalek und das Publikum grenzte das Ganze an ein Wunder. Ein Junge von dreizehn Jahren gewann gegen erfahrene Großmeister.

»Es sah so aus, als wäre Magnus ein Monster mit tausend Augen«, sagte Simen Agdestein hinterher dem Fernsehsender TV2. Agdesteins Aussage erinnerte an Kasparow, der, kurz nachdem er Weltmeister geworden war, gegen Tony Miles antrat. Miles meinte nach der Partie: »Ich dachte, ich sollte gegen den Weltmeister spielen, nicht gegen ein Ungeheuer mit hundert Augen.«12

Magnus Carlsen bekam für seine Leistung den Preis der Zuschauer, und Vishy Anand erklärte in seiner Laudatio: »Als ich 1989 das erste Mal in Wijk aan Zee antrat, spielte Viktor Kortschnoi mit, der damals dreimal so alt war wie ich. Fünfzehn Jahre später bin ich dreimal so alt wie der Gewinner der C-Gruppe.«

Der Januar war vorbei, und das Jahr 2004 hatte für Magnus ausgezeichnet begonnen. Doch für Henrik Carlsen und die ganze Familie blieb es weiterhin anstrengend. Wohin sollten sie als Nächstes reisen?

In den Niederlanden war auch Alexander Bakh unter den Zuschauern gewesen, ein umstrittener und mächtiger Funktionär aus Russland. Er war unter anderem verantwortlich für das Moskauer »Aeroflot Open«, bei dem einhundertvierzig Großmeister antreten sollten. Magnus und die Familie Carlsen wurden in die russische Hauptstadt eingeladen.

Die Bedingungen waren günstig, Bakh bezahlte den Flug und den Aufenthalt. Damit wurde das geplante Reiseziel im Süden zugunsten von ein paar kalten Wochen in der russischen Hauptstadt aufgegeben. Doch in Moskau war es nicht nur kalt. Die Carlsens wohnten im Hotel Rossija, einem der größten und teuersten Hotels der Welt mit dreitausend Betten. Das Preisniveau beunruhigte allerdings sogar Henrik Carlsen: »Ein Pils an der Bar kostete sechzehn Euro. Ich wagte gar nicht daran zu denken, was es kostete, etwas aus der Minibar zu trinken. Jeden Morgen hatte ich Angst, dass ich im Schlaf etwas herausgenommen hätte.«

Im Februar 2004 hielt sich die Familie Carlsen mit der gesamten Weltelite des Schachs in Moskau auf. Und damit nicht genug. Ehemalige Weltmeister wie Wassili Smyslow und Boris Spasski kamen, um den norwegischen Schachkometen kennenzulernen. Moskau war das Mekka des Schachs, die Osteuropäer dominierten seit Jahrzehnten die Ergebnislisten, und die Sowjetunion und später Russland waren nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Schachbrett mehr oder weniger Alleinherrscher gewesen. Die Teilnahme am Aeroflot Open war daher mit Respekt und Furcht verbunden.

Doch die positive Entwicklung, die in den Niederlanden begonnen hatte, setzte sich in Moskau fort. Magnus Carlsen errang seine zweite GM-Norm. Er erreichte 5,5 von 9 Punkten und landete auf dem vierzigsten Platz, angesichts der erwähnten Reihe von sehr starken Gegnern eine gute Platzierung. Zu den Konkurrenten, die der Norweger besiegen konnte, gehörte Großmeister Sergei Dolmatow, der ehemalige Trainer von Wladimir Kramnik. Die Art und Weise, wie er Dolmatow schlug, führte in der Schachgroßmacht Russland zu einer Art Magnus-Fieber. Er wurde von den Russen Malysj genannt, Kerlchen. Ein Spitzname mit Vorgeschichte. Denn Astrid Lindgrens Figur Karlsson vom Dach heißt bei den Russen Kerlchen. Das Buch handelt von einem gewöhnlichen sieben Jahre alten Jungen, der mit seiner gewöhnlichen Familie in einem gewöhnlichen Haus in einer gewöhnlichen Stockholmer Straße wohnt … abgesehen von der außerordentlichen Tatsache, dass ein Mann, der Karlsson heißt, in einem kleinen Haus auf dem Dach wohnt. Und dieser Mann hat einen Propeller auf dem Rücken, mit dem er fliegen kann. Der kleine, korpulente Karlsson hat einen unerschütterlichen Glauben an die eigenen Fähigkeiten und eine schelmische Natur, durch die er zum perfekten Freund für den Jungen wird.13

Selbstverständlich wurde Magnus Carlsen von den Russen mit Garri Kasparow verglichen. Vor allem aber schmerzte es, dass ein Norweger auf dem hauseigenen Terrain der Russen so stark war. Die Russen mochten es nicht, wenn Ausländer sich unter die Spitze mischten. Mit seinem vierzigsten Platz schien Magnus noch ungefährlich zu sein, aber mit Blick auf sein Alter begriffen die Russen, dass eine Bedrohung aufkeimte.

Nach dem Auftritt in Moskau nahm das Interesse am Schachspieler Magnus Carlsen deutlich zu. Er wurde zu weiteren Turnieren eingeladen. Zunächst nach Island. Reykjavik war 1972 zu Zeiten des Kalten Kriegs zwischen der Sowjetunion und den USA ein Nervenzentrum des Schachs gewesen. Damals gelang es der umstrittenen Schachlegende Bobby Fischer, den Russen mit seinem Sieg gegen Boris Spasski den Weltmeistertitel abzunehmen. Und 2004 stand die Vulkaninsel einmal mehr im Fokus eines großen Schachereignisses.

Sollte es Magnus Carlsen gelingen, seine dritte GM-Norm zu erringen, wäre er als Dreizehnjähriger der zweitjüngste Großmeister aller Zeiten. Sergei Karjakin war bereits mit zwölf Jahren und sieben Monaten Großmeister geworden. Aber Magnus Carlsen konnte die Erwartungen nicht erfüllen. 4,5 von 9 möglichen Punkten waren ein erheblicher Einbruch. »Ich spürte, dass meine Spielstärke reichte, aber irgendetwas funktionierte nicht«, erklärte er nach dem Turnier. Und sein Vater ergänzte: »Die große Aufmerksamkeit der Medien ist ein bisschen zu viel für Magnus. Außerdem hat er während des Turniers teilweise schlecht geschlafen.«

Beim anschließenden Blitzturnier schlug er jedoch den ehemaligen Weltmeister Anatoli Karpow. Und am darauffolgenden Tag saß ein weiterer nervöser Exweltmeister auf der anderen Seite des Bretts, Garri Kasparow. Die Partie endete wie eingangs erwähnt remis, Magnus Carlsens Talent war nicht mehr zu übersehen.

Die erste GM-Norm holte er im Januar 2004, die zweite im Februar. War es zu einem Leistungsabfall gekommen, bevor der Großmeistertitel unter Dach und Fach war? Bobby Fischer war fünfzehn Jahre alt, als er 1958 Großmeister wurde, während Simen Agdestein 1985 wie beschrieben als Achtzehnjähriger zum damals jüngsten Großmeister gekürt wurde. Konnte Magnus es bereits mit dreizehn Jahren schaffen? Zumindest war es nicht ganz unmöglich. Der Zugriff auf das komplette Schachwissen durch Computerprogramme hat dazu geführt, dass es immer mehr junge Großmeister gibt.

 

Eigentlich hätte Magnus an einem weiteren großen Turnier in Malmö teilnehmen sollen, aber sein Vater hatte dem Rest der Familie gegenüber ein schlechtes Gewissen. Er hatte versprochen, dass sie bald zu einer Reise in wärmere Gefilde aufbrechen würden. Ab 18. April fand ein stark besetztes Turnier in Dubai statt. Das Problem war nur, dass die Anmeldefrist bereits verstrichen war. Henrik Carlsen rief dennoch an, und als den Organisatoren klar wurde, dass ein Dreizehnjähriger mit einem Rating von 2552 gern bei ihnen mitspielen wollte, war die gesamte Familie herzlich willkommen.

Eine Voraussetzung, Großmeister zu werden, ist ein Rating von mindestens 2500 Elo-Punkten. Magnus Carlsen lag deutlich jenseits dieser Schallmauer, aber er musste noch eine Norm erringen, um den Titel zu erlangen. Das Großmeisterturnier »Sheikh Rashid Bin Hamdan Al Maktoum Cup« bot diese Chance. Dubai ist eines der merkwürdigsten Länder der Erde, durch Öl und Perlen ist es schwerreich geworden. Das Land ist nicht zuletzt für seinen Luxus bekannt, daher war es auch für die Mitglieder der Familie Carlsen ein interessantes Reiseziel, die kein Schach spielten.

Das Turnier fand im Dubai Chess and Cultural Club statt. Ein blank poliertes weißes Gebäude mit einem Turm in der Mitte, der dem Turm beim Schach nachempfunden ist und den Eindruck eines Schlosses erwecken soll. Ein Luxusgebäude, das normale moderne Bauwerke altmodisch erscheinen lässt. Der Bau dieses Märchenschlosses kostete fast elf Millionen Euro. Neununddreißig Großmeister waren am Start. In der vorletzten Runde titelte die Internetzeitung Nettavisen: »Heute wird Magnus Carlsen Großmeister.«

»Mir gefiel das nicht«, so Henrik Carlsen, »ich rief den Journalisten Ole Valaker an und bat ihn, die Überschrift zu ändern. Natürlich war die Chance groß, dass Magnus Großmeister wurde, aber es war überflüssig, Vorschusslorbeeren zu verteilen.«

Eine typische Reaktion von Henrik Carlsen. Das Fell des Bären sollte nicht verteilt werden, bevor er erlegt war. Nettavisenänderte die Überschrift, aber nur ein paar Stunden später, eine Runde vor Ende des Turniers, konnte die große Neuigkeit publiziert werden. Magnus Carlsen wurde am 26. April 2004 im Alter von dreizehn Jahren, fünf Monaten und drei Tagen Großmeister. Und so mancher ahnte, dass dies erst der Beginn von etwas ganz Großem war.

»Ein Donnerschlag, als wäre Norwegen zweimal hintereinander Fußballweltmeister geworden«, schrieb der Schachkolumnist Einar Gausel.

»Es ist fast so, als würde einem Dreizehnjährigen der Nobelpreis in Chemie verliehen«, erklärte Simen Agdestein gegenüber der Presse.