Dunkle Geheimnisse

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Kapitel 7 - Tag 5 – Freitag

Vanny hatte mehr als schlecht geschlafen und war erschöpft von der ihr endlos erscheinenden Nacht. Die Jugendliche mochte gar nicht darüber nachdenken, wie oft sie sich in von einer Seite auf die andere gerollt und versucht hatte, den dringend benötigten und erholsamen Schlaf zu finden. Froh, diese grauenhaften Stunden überstanden zu haben, gleichzeitig sich sehnend, noch einmal in das warme Bett für einen erneuten Versuch zu schlüpfen, quälte sie sich aus dem Bett in die Küche, um das Frühstück zu richten. Danach zog sie sich sofort in ihre Kammer zurück, um eine Konfrontation mit ihrem Onkel zu vermeiden. Tief durchatmend setzte sie sich auf den Fußboden und lehnte sich mit dem Rücken gegen die zerkratzte, alte Zimmertür. In ihren Händen eine Tasse mit heißem Kaffee haltend, schloss sie müde die Augen. Geduldig wartete sie, bis sie die schleppenden Schritte ihres Onkels auf dem Flur in Richtung Küche hörte.

„Seltsam“, murmelte sie grübelnd vor sich hin, denn er schien gar nicht aus seinem sogenannten Schlafzimmer gekommen zu sein. Vanny wartete abermals, bis sich die Schritte wieder aus der Küche entfernten, durch den Flur hallten und in Richtung Wohnzimmer zogen. Weitere fünf Minuten vergingen, in denen sie auf dem Boden saß, dann stand sie auf, stellte ihre noch volle Tasse auf den Hocker und schlich vorsichtig zur Schlafkammer ihres Onkels.

Langsam legte sie ihr Ohr an die Tür, nachdem sie sich noch einmal umgesehen hatte. Wie erwartet war kein Laut zu vernehmen, also öffnete sie die Tür und trat ein. Erstaunt sah sie sich um, doch das Schlafzimmer sah noch genau so aus, wie sie es gestern nach dem Reinigen verlassen hatte. Wie war das möglich? Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen?! Ernst hatte unmöglich hier geschlafen! Aber wo schlief er dann? Oder richtete er sein Bett immer so ordentlich her, bevor er sein Schlafgemach verließ? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen! Nicht bei seiner Ordnung, die sie ja kennengelernt hatte und weswegen sie den Putzsklaven spielen musste! Vanny wollte es wissen und keine Behauptungen ohne Beweise aufstellen. Entschlossen holte sie vier verschlossene Päckchen Taschentücher, die sie akkurat auf dem Bettlaken verteilte, zwei Päckchen schob sie unter das Kopfkissen, eines exakt auf die Mitte des Bettes und das letzte am Fußende des Bettes. Sorgfältig legte sie die ordentlich gefaltete Bettdecke wieder darüber. Sie hoffte sehr, dass ihre Vermutungen zutrafen, sonst würde die nächste Standpauke ihres Onkels nicht lange auf sich warten lassen und er würde wissen wollen, was die Taschentücher in seinem Bett verloren hätten.

*

Vanny gönnte sich eine kleine Auszeit vom derzeitigen Alltag und machte einen Spaziergang, bevor sie sich an die Reinigung des Wohnzimmers wagte. Ihr Kopf schien heute wie leer gefegt. Sie hatte das Gefühl, als würde alles einfach so an ihr vorübergleiten. Nichts erschien auf einmal mehr real, alles war irgendwie so weit weg und ließ die Arbeiten, Bemühungen, das Leben so nutzlos und sinnlos erscheinen. Mit einer gewissen Gleichgültigkeit arbeitete sie sich durch das über Jahre vernachlässigte Zimmer. Warum konnte sie nicht immer in diesem Zustand der Teilnahmslosigkeit sein? So hatte sie das Gefühl, als könnte sie nichts aufregen, nichts aus der Bahn werfen, verunsichern oder gar verletzen. Leider konnte sich Vanny nicht erinnern, wie sie diesen Sinneswandel herbeigeführt oder hervorgerufen hatte. Dieser hatte sie einfach beim Spazierengehen überfallen und sich bei ihr eingenistet.

Nach fast zwei Stunden war sie im Wohnzimmer so gut wie fertig. Eine der Schranktüren war verschlossen, sodass sie diesen Schrank nicht auswischen konnte. Nun war nur noch die Wendeltreppe in das obere Stockwerk übrig und sie hatte vor, die ersten unteren Stufen zu wischen, als eine scharfe Stimme auf den oberen Treppenstufen erklang.

„Was zum Teufel machst du da?! Das obere Stockwerk ist für dich, verdammt noch mal, tabu! Das habe ich dir doch gesagt! Hast du deinen Verstand zu Hause gelassen oder was glaubst du, wo diese Treppe hinführt?!“

Sein Blick schien sie zu durchbohren, seine Hände waren zu Fäusten geballt und er zitterte am ganzen Körper, wie ein wildes Tier, kurz vor dem Zubeißen. Instinktiv wich sie zurück.

„Ich wollte doch nur die ersten drei Stufen der Treppe wischen, das ist alles, ehrlich!“

Das Gefühl völliger, kühler Gelassenheit wich mit einem Schlag dem der Angst. Sie konnte sich nicht erklären, was genau sie diesmal wieder falsch gemacht haben sollte! Wieso musste sie sich jetzt auch noch rechtfertigen?! Ginge es nach ihr, könnte er seinen Mist selber machen! Sie wollte noch etwas erwidern, aber als sie aufblickte und ihren Onkel sah, wie er versuchte, sich krampfhaft zusammenzureißen, blieben ihr die Worte sprichwörtlich im Halse stecken. Er bedachte seine Nichte mit einem Blick, als würde er sie am liebsten durch das Haus prügeln. Die Jugendliche schluckte. Sie durfte jetzt nicht wegrennen, sie musste die Ruhe bewahren, die Situation irgendwie entschärfen.

„Es tut mir leid“, brachte sie mit schwacher Stimme hervor. „Ich … es wird nicht mehr vorkommen.“

Sie versuchte, standhaft und selbstbewusst zu wirken, dabei wäre sie am liebsten davongerannt, hätte sich nicht umgedreht und wäre nie zurückgekommen. Ihr Mut wurde belohnt, denn ihre Reaktion zeigte Wirkung. Sein Gesicht entspannte sich etwas, seine zu Fäusten geballten Hände lösten sich leicht und er hörte sogar auf zu zittern.

„Die Treppe brauchst du nicht zu beachten“, nuschelte er pampig, drehte sich um und verschwand wieder nach oben, in dem ihr unbekannten und verbotenen Stockwerk. Fünf Sekunden blieb sie noch reglos stehen, dann gab Vanny endlich ihrem Bedürfnis nach und rannte nach draußen.

*

Das Laufen und die frische Luft taten ihr gut und halfen, den Kopf freizubekommen. Sie hatte das Dorf fast erreicht und sich etwas beruhigt, doch ihre Nerven lagen blank. Sie wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als diesen Ort schnellstmöglich zu verlassen. Deshalb würde sie nun die nächstbeste Telefonzelle suchen und alles ihren Eltern erzählen. Wenn sie ihnen die Umstände schilderte, konnten sie ihre Tochter gar nicht hier lassen! Die Jugendliche atmete tief durch. Alles würde wieder gut werden, es musste sich einfach zum Guten wenden. Sie hielt es bei ihrem Onkel nicht mehr aus. Sie hoffte inständig, dass sie bald hier wegkonnte, zurück nach Hause, zu ihren Freunden und ihrer Familie. Zielstrebig und voller Tatendrang ging sie in die erste Telefonzelle, die sie fand, und kramte in ihrer Hosentasche nach Münzen.

„Oh nein! Das kann doch nicht … so ein Mist!“

Vanny schlug sich verärgert und verzweifelt zugleich gegen die Stirn. Natürlich hatte sie bei ihrer Flucht nicht daran gedacht, irgendetwas mitzunehmen. Allerdings hatte sie normalerweise in ihren Hosentaschen immer etwas Kleingeld, ausgerechnet jetzt aber nicht. Traurig biss sie sich auf die Unterlippe. Sie hatte nicht einmal einen Cent dabei. Der ganze Weg war umsonst gewesen. Warum lief seit geraumer Zeit alles schief? Was sollte sie nur tun? Müdigkeit mischte sich mit aufkommender Depression und Ratlosigkeit. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich gegen die klapprige Telefonzelle. Sie durfte jetzt nicht verzagen. Sie musste zuallererst ihre Gedanken ordnen. Irgendetwas musste ihr doch einfallen! Es musste eine andere Lösung geben, als den ganzen Weg nochmals zurückzulaufen?

„Du siehst ziemlich fertig aus. Was ist los? Kann ich dir irgendwie helfen?“

Sie öffnete die Augen und blickte in Keigos lächelndes Gesicht. Das Gefühl der Anspannung wich der Erleichterung und Freude. Am liebsten wäre sie ihm dankend um den Hals gefallen. Sie bemühte sich zu lächeln und schluckte ihre Tränen hinunter.

„Dich schickt doch wirklich der Himmel zur rechten Zeit!“

Sein Lächeln wandelte sich bei dieser Aussage in ein breites, schelmisches Grinsen. „Das musst du mal meiner Großmutter erzählen, die ist da nämlich ganz anderer Meinung. Möchtest du telefonieren? Kann ich dir da irgendwie helfen? Du siehst so niedergeschlagen aus.“

Bevor sie ihm antwortete, hielt sie kurz inne, die Situation war ihr ziemlich peinlich. Aber sie sah keinen anderen Ausweg und überwand sich.

„Kannst du mir ein bisschen Kleingeld zum Telefonieren leihen? Du bekommst es auf jeden Fall in den nächsten Tagen wieder zurück, versprochen.“ Er winkte auf ihre Worte hin ab.

„Du musst mir nichts zurückgeben. Mach dir mal keinen Kopf. So viel Geld kann ich gerade noch entbehren. Reichen dir zwei Euro oder brauchst du mehr?“

Galant hielt er ihr dabei die Tür auf und drückte ihr unbekümmert die Münze in die Hand. Sie nickte dankbar und nahm den Hörer ab.

„Ich warte da hinten auf dich, okay? Falls du Zeit hast, können wir ja danach noch was trinken gehen. Natürlich nur, wenn du möchtest.“

Sie nickte ihm abermals verbunden zu. Es war, als wäre eine schwere drückende Last beiseitegeschoben worden. Endlich schien sich alles zum Guten zu wenden. Sie holte noch einmal tief Luft, bevor sie das Geld in den Kasten fallen ließ und die Handynummer ihrer Eltern wählte. Nervös wartete sie das viel zu lang andauernde, dumpfe Tuten ab. Es klingelte insgesamt viermal und sie betete, dass schnellstens jemand drangehen würde, als die Stimme ihrer Mutter erklang.

„Hallo?“

Vannys Herz machte einen Freudensprung.

„Hallo Mama, ich bin's!“, rief sie erleichtert in den Hörer, doch statt der erwarteten Reaktion setzte eine gespenstische Stille ein und obwohl sie nur Sekunden andauerte, kam es der Jugendlichen wie eine Ewigkeit vor.

„Ah, Vanny. Du bist es. Wie geht es dir? Hilfst du deinem Onkel auch eifrig? Ich hoffe, du bereitest ihm nicht allzu viele Umstände? Bitte bemüh dich und fall ihm nicht zur Last.“

 

Vanny schluckte. War es Einbildung oder klang ihre Mutter ziemlich kühl und emotionslos? Sie schüttelte kurz den Kopf, um diese Vermutung abzuschütteln. Das durfte sie jetzt nicht abhalten.

„Mama, hör mir bitte zu. Ihr müsst mich wieder nach Hause holen! Ich halte es hier nicht länger aus. Egal was ich mache und tue, ich kann es ihm einfach nicht recht machen. Ernst ist aggressiv, aufbrausend und … ich habe Angst. Mir geht es wirklich schlecht. Du weißt, dass ich euch nicht oft um etwas bitte, aber lasst mich nicht weiter hier alleine! Bitte.“

Wieder erfolgte eine Pause, und sie war länger als die vorherige.

„Mama?“

„Vanny, du weißt doch, dass wir dich jetzt unmöglich abholen können! Wir sind mitten auf einer Geschäftsreise. Dein Vater und ich können nicht einfach so fahren. Wir haben Verpflichtungen! Tut mir leid, aber so schlimm kann es nicht sein. Ich bin mir sicher, wenn du etwas mehr auf ihn eingehst, dann wird sich das Verhältnis zwischen euch bessern. Also bitte reiß dich zusammen, hör auf zu nörgeln und streng dich ein wenig an! Sobald dein Vater und ich hier fertig sind, holen wir dich ab. Hab etwas Nachsicht mit deinem Onkel und mach keinen Ärger! Ich weiß, du hast dir die Ferien anders vorgestellt, aber es ist jetzt eben so und du solltest versuchen, das Beste daraus zu machen. Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert! Wir sehen uns schon wieder. Die Zeit vergeht schneller, als man denkt. Ich muss jetzt Schluss machen, wir haben ein Meeting. Also halt dich munter und benimm dich. Bis dann. Gruß auch von deinem Vater.“

Fassungslos stand die Jugendliche da, unfähig, irgendeine Bewegung zu tätigen. Ihre Mutter hatte nach der frostigen Predigt einfach aufgelegt, ohne eine Antwort von ihr abzuwarten. Sie bebte vor Anspannung und ihre Augen brannten unangenehm von aufkommenden Tränen. Das konnte doch nicht wahr sein. Ihre Mutter hatte sie einfach abgewürgt wie einen lästigen Vertreter. Hatte sie ihr überhaupt zugehört? Sie hatte nicht einmal die Chance gehabt, die Umstände genauer zu erläutern. Vanny fühlte sich alleine, völlig im Stich gelassen, abgeschoben und verraten. Ihr war, als stürzte sie unaufhaltsam in ein großes, schwarzes Loch, vergeblich versuchend, an nicht sichtbaren Wänden einen Halt zu finden. Ihr wurde schwindelig und sie stützte sich gegen die Scheibe der Telefonzelle. Alle Kraftreserven schienen aufgebraucht und verschwunden zu sein, zurück blieb ein Häufchen Elend. Am liebsten würde sie alles aufgeben und schreiend zusammenbrechen. Warum hatte das Schicksal sich so gegen sie verschworen?

„Hey! Alles okay? Was ist denn los?“

Keigo kam angerannt, als er sah, dass Vanny zusammenklappte. Er kniete sich zu ihr herunter und packte sie fest an den Schultern. Sie wollte antworten, brachte allerdings kein vernünftiges Wort heraus und begann zu schluchzen. Beruhigend nahm er sie in die Arme und sie ließ ihren Tränen freien Lauf.

*

„Geht's wieder?“

Der Rothaarige blickte sie besorgt an. Sie nickte peinlich berührt und nahm einen weiteren Schluck Cappuccino. Nachdem sie sich an seiner Schulter ausgeweint hatte, hatte er sie erst einmal auf einen Kaffee eingeladen und sie hatte ihm ihr Telefonat geschildert. Sie saßen in einem sehr einfach und rustikal eingerichteten Bistro mit einer geblümten Tapete. Genau dieses "Großmutter-Flair" machte es gemütlich und Keigo hatte recht: Der Kuchen war himmlisch und eine Sünde wert.

„Danke dir. Wirklich. Danke für alles. Du bekommst das Geld zurück. Heute ist nur so ganz und gar nicht mein Tag.“

Er winkte abermals ab.

„Ich hab doch gesagt, dass es in Ordnung geht. Gönn es mir doch, denn wann hab ich hier schon mal die Möglichkeit, ein hübsches Mädel einzuladen?“

Er zwinkerte ihr aufmunternd und spielerisch zu. Dies zauberte automatisch ein Lächeln auf ihr Gesicht.

„Immerhin kannst du wieder lachen, das ist doch schon mal was. Dann bin ich nicht ganz unnütz. Aber das mit deinen Eltern find ich echt nicht in Ordnung. Die Reaktion ist mir unverständlich. Auf sie kannst du dich anscheinend nicht verlassen. Hast du keinen Zweitschlüssel für euer Haus? Dann könntest du mit einem Taxi zum nächsten Bahnhof und von dort aus heimfahren. Das brauchen deine Alten ja vorerst nicht zu wissen.“

„Nein, leider nicht“, verneinte sie verbittert. „Ich hatte mal einen, doch der wurde mir abgenommen, nachdem ich Mist gebaut habe. Seit diesem Vorfall kommt es mir so vor, als sei das Verhältnis zwischen meinen Eltern und mir völlig gestört, aber das ist ein Thema, über das ich erst mal nicht sprechen möchte. Das hat nichts mit dir zu tun, ehrlich. Es ist nur … sonst zermartere ich mir noch mehr das Gehirn.“

„Kein Problem, aber das heißt, du hängst hier erst einmal notgedrungen fest?“

Sie seufzte und bejahte die Frage. Es folgte eine kurze Pause, in der beide nachdachten. Nach einer Weile unterbrach Keigo die Stille.

„Ist irgendetwas geschehen? Ich meine, ich kann mir wirklich vorstellen, dass es mit diesem Onkel alles andere als leicht ist. Aber es muss doch etwas passiert sein - du wirkst so aufgelöst.“

Er sah ihr eindringlich in die Augen und ein Kribbeln durchströmte ihren Körper. Sie wandte den Blick ab und erzählte ihm von der abrupten Abreise und Planung ihrer Eltern für die Sommerferien, von der Ankunft bei Ernst, dass eigentlich nicht bestehende Verhältnis ihrer Mutter zu ihrem Vater, die Arbeiten, die sie bei ihrem Onkel zu verrichten hatte, und die Liste, die sie als Beweis für ihren Fleiß führen musste. Auch ihre Vermutungen wegen des scheinbar unbenutzten Schlafzimmers, den Vorfall von heute Morgen und ihre Angst teilte sie mit ihm. Er hörte sich alles geduldig und mit ehrlichem Interesse an. Ab und zu zog er eine Augenbraue verwundert hoch und blickte erstaunt drein, doch unterbrach er sie nicht und ließ ihr die Zeit, die sie brauchte. Als sie fertig war, schüttelte er überzeugt den Kopf.

„Du kannst dort nicht bleiben. Ich meine, nein, das ist doch unzumutbar!“

„Aber ich habe doch gar keine Wahl, wenn ich nicht auf irgendeiner Parkbank schlafen möchte. Wo soll ich denn sonst hin? Vielleicht hab ich mich da ja wirklich in etwas reingesteigert und muss ihm mehr entgegenkommen, auch wenn ich keine Idee habe, wie ich das anstellen soll.“

Voller Selbstzweifel schlug Vanny die Hände vors Gesicht. Sie wusste nicht mehr, was sie noch glauben sollte. Wer war schuld? Was war zu tun?

„Die Schuld liegt nicht bei dir! Rede dir jetzt bloß nichts ein! Du könntest bei mir schlafen. Meinen Großeltern werde ich das schon irgendwie beibringen. Die sind zwar manchmal etwas streng und ziemlich altmodisch, aber im Großen und Ganzen recht nett.“

Vanny konnte nicht leugnen, dass sie sich über sein herzliches Angebot freute, allerdings stellte sie sich automatisch zwei etwas verwirrte Rentner mit ihrem Musterenkel vor, der plötzlich ein für sie wildfremdes Mädchen mitbrachte und ihnen eröffnete, dass diese für zig Wochen bei ihm schlafen würde. Traurig schüttelte sie den Kopf.

„Nein, das geht nicht. Das kann ich nun wirklich nicht annehmen. Echt, ich finde das voll lieb von dir, doch ich möchte nicht noch mehr Menschen Unannehmlichkeiten bereiten. Es geht nicht, ich würde mich dabei nicht wohlfühlen.“

Vanny warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr und erschrak. Sie hatte nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen war. Zu Fuß hatte sie keine Chance, rechtzeitig zurück zu sein und das Abendessen vorzubereiten. Leichte Panik überkam sie. Hektisch stand sie auf und stellte den Stuhl zurück.

„Es tut mir leid, ich muss mich jetzt beeilen. Ich bin viel zu spät. Vielen Dank für alles, du hast mir wirklich mehr geholfen, als du dir vorstellen kannst.“

„Warte doch!“

Er hielt sie abrupt am Arm fest, bezahlte eilig die Rechnung und begleitete sie nach draußen. „Hör zu, nimm doch mein Fahrrad. So bist du schneller zurück und packst es noch rechtzeitig. Abgesehen davon kannst du dann schneller ins Dorf gelangen, falls irgendetwas passiert oder du etwas oder jemanden brauchst, okay?“

Sie sah ihn verblüfft an. Damit hatte sie nicht gerechnet und wollte widersprechen, doch er legte ihr flink und sanft zugleich den Zeigefinger auf die weichen Lippen und brachte sie so zum Schweigen.

„Falls dir das wieder unangenehm ist, dann tu mir einen Gefallen. Sozusagen eine kleine Gegenleistung.“

Ein lausbubenhaftes Grinsen huschte über sein Gesicht.

„Wie wäre es, wenn wir morgen alle zusammen frühstücken gehen? Nina, Enjoji, der kleine Robin und wir beide? Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich den anderen von deinem Onkel und der Gesamtsituation erzähle? Dann könnten wir gemeinsam nach einer Lösung suchen. Nina hat meistens die besseren Ideen. Na, was sagst du dazu? Haben wir einen Deal?“

Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Als sie nicht gleich auf seinen Vorschlag reagierte, ließ er sie, verlegen über seinen spontanen Überfall, los und kratzte sich nervös am Kopf.

„Tut mir Leid, also, ich wollte jetzt nicht, ähm …“

„Schon gut. Ich hatte nur eine lange Leitung“, wandte sie lächelnd ein. Er war einfach zu nett. Ihr Ritter in strahlender Rüstung, und schlecht sah er auch nicht aus. „Die Antwort auf all deine soeben gestellten Fragen lautet eindeutig Ja. Ich freu mich schon auf morgen. Vielen Dank noch mal.“

Sie umarmte ihn zaghaft, verabschiedete sich und nahm schließlich sein blaues Fahrrad, um den Rückweg anzutreten.

*

Mit dem geliehenen Fahrrad war sie pünktlich zurückgekommen, hatte es vorsichtshalber hinter dem Haus gut versteckt und war danach durch das offen gelassene Fenster in ihre Schlafkammer geklettert, da sie keinen Haustürschlüssel besaß. Kurzerhand entschlossen kochte sie Reis und bereitete schnell eine einfache Soße mit gedünstetem Gemüse zu und deckte in der Zwischenzeit auch noch geschwind den Esstisch. Ernst kam gerade, als alles fertig war. Mürrisch wie immer nahm er das Abendessen zu sich und bedachte sie dabei mit keinem einzigen Blick. Sich anschweigend saßen beide am viel zu großen Tisch und aßen, wobei Vanny eher lustlos in ihrem Essen herumstocherte. Wieder überlegte sie, einen Schritt auf ihn zuzugehen, obwohl sie Angst vor ihm hatte. Irgendwie musste sie ja die langen Ferien hier und mit ihm überstehen und ein weiterer Anlauf sollte da normalerweise nicht schaden.

„Sag mal, Onkel, als was arbeitest du eigentlich?“

Er hielt kurz mit dem Essen inne und murmelte genervt etwas vor sich hin, das sie nicht verstand. Danach war er wieder still und sprach während des gesamten Abendessens kein einziges Wort. Zu ihrem Erstaunen bereitete er ihr dann wieder eine heiße Schokolade zu und verschwand danach nach oben. Sollte das seine Art sein, sich zu entschuldigen oder die Situation zu lockern? Sie konnte sich darauf keinen richtigen Reim machen. Entmutigt und traurig nippte sie an dem heißen Süßgetränk.