Dunkle Geheimnisse

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Kapitel 3 - Tag 1 - Montag

Sie war erleichtert gewesen, als ihr Wecker um sechs Uhr morgens geklingelt hatte. Schnell und völlig erschöpft, war sie aufgestanden und ins Bad geeilt. Sie nahm eine kurze Katzenwäsche, denn sie hatte sich beim Anblick der Badewanne nicht überwinden können, das Becken zu betreten, obwohl ihr müder Körper sich nach einem heißen Bad sehnte. Danach ging sie in die Küche und deckte den Tisch für das Frühstück, während der Kaffee vor sich hin kochte und sich langsam sein wohltuendes Aroma durch das Haus verbreitete. Die Jugendliche atmete tief ein und es schien, als würde ihr Körper allein durch den vielversprechenden Duft neue Kräfte schöpfen. Vanny hatte sich fest vorgenommen, sich etwas näher mit ihrem Onkel zu beschäftigen und die große Distanz, die zwischen ihnen beiden klaffte, dadurch zu verringern. Zumindest erhoffte sie sich das. Vielleicht würde sie es sogar schaffen, eine gewisse Vertrautheit zu erreichen, sodass das zeitliche Zusammenleben etwas angenehmer würde. Auch wenn die Hoffnung nicht groß war, so wollte sie es zumindest versuchen. Doch so eifrig sie sich in die Arbeit stürzte, die schlaflose Nacht beschäftigte sie sehr. Immer wieder hatte sie geglaubt, Schreie zu hören und ein Geräusch, das wie ein hysterisches Lachen klang, doch wo sollten die Laute herkommen? Wahrscheinlich bildete sie sich das alles ein. Kurz nach Mandys Tod hatte sie nicht selten geglaubt, das Jaulen und Bellen der Hündin zu hören. Vermutlich hatte die Erinnerung irgendwelche Hirngespinste in ihr ausgelöst. Vanny seufzte und verdrängte schnell die aufkommenden Zweifel und damit einhergehenden Ängste mitsamt der Übelkeit. Der Kaffee war gerade fertig, als ihr Onkel zackig in die Küche kam, kurz stehen blieb und sie für einen Augenblick perplex ansah, als könne er sich nicht erinnern, wer sie sei. Die Zeit schien festgefroren zu sein. Um schnell aus dieser unangenehmen Situation herauszukommen, fragte sie eifrig:

„Kaffee? Möchtest du Marmelade oder Butter oder vielleicht beides für die Brote?“

Sein Gesicht verfinsterte sich und er murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin, schnappte sich ruppig eine Tasse aus dem Hängeschrank, goss sich geschwind Kaffee ein und verschwand mit flotten großen Schritten. Kein Dank, kein freudiges Lächeln oder nette Geste, stattdessen ein unfreundliches Murren. Kein Augenkontakt, nicht einmal ein kurzes anerkennendes Nicken, einfach nichts. Er hatte ihr keine Chance gegeben, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Nun war es zu spät. Diese erneute Niederlage, ihre Erschöpfung und diese Hilflosigkeit wirbelten durcheinander, warfen ihre ganzen guten Vorsätze über Bord, und erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie fühlte sich ausgelaugt und verloren. Es war eine Empfindung, als würde das Haus ihr die Luft zum Atmen rauben. Sie wollte jetzt nur eins: hier raus!

*

Die Sonne hatte sich einen Weg durch die Wolkendecke erkämpft und es versprach, ein sommerlich warmer Tag zu werden. Vanny nahm sich das Wochengeld für den Einkauf aus dem Schrank und floh aus dem erdrückenden Haus. Während sie zum Dorf lief, atmete sie tief ein und merkte, wie der lastende Druck langsam abfiel, die frische Luft ihren Kopf klärte und ihr Zorn abflaute. Sie hasste es, zornig zu sein, denn dann sagte und tat man Dinge, die man später zu 90 Prozent bereute. Normalerweise wurde sie nicht so schnell wütend, doch momentan schien alles einfach schiefzugehen. Vielleicht war wenigstens das Dorf interessant oder vielleicht gab es dort irgendetwas Unterhaltsames. Doch was sie nach einem langen Fußmarsch sah, konnte sie nicht begeistern, ganz im Gegenteil. Die Straßen waren von sehr schlechter Qualität und kaum für Autos geeignet. Die Häuser wirkten wie aus dem Zweiten Weltkrieg, es waren nicht viele Leute auf den Straßen und diejenigen, die zu sehen waren, mussten wohl alle das Rentenalter längst erreicht haben. Vanny seufzte enttäuscht, denn mit jeder Minute vermisste sie ihr Zuhause und ihre Freunde mehr. Was konnte sie bloß tun? Vielleicht ihre beste Freundin Katrin anrufen und fragen, ob sie Lust hätte, die restlichen Ferien bei ihr zu verbringen? Aber das schien ihr etwas arg forsch zu sein. Sie spielte noch eine Weile mit dem Gedanken und wog Vor- und Nachteile ab, als plötzlich etwas an ihrem T-Shirt zupfte. Leicht erschrocken und aus ihren Überlegungen gerissen, blickte die Jugendliche nach unten, in die kastanienbraunen Augen eines kleinen Jungen. Er hatte hellbraune, fast schulterlange Haare und die niedlichste Stupsnase, die Vanny je gesehen hatte. Sie schätzte den Jungen auf ungefähr fünf Jahre.

„Warum guckst du so traurig?“, fragte er mit einer zuckersüßen Stimme, die selbst Engel zum Jauchzen gebracht hätte. In ein paar Jahren würde er sich vor Verehrerinnen bestimmt nicht mehr retten können. Am liebsten haben, falls sie welche bekommen sollte. Freundlich lächelnd antwortete sie ihm:

„Ich bin nur etwas müde, weil ich so viel gelaufen bin und noch zum Supermarkt muss.“

Der Kleine legte seinen Kopf schräg und musterte sie neugierig.

„Was ist ein Supermarkt?“

Ihr klappte vor Erstaunen die Kinnlade herunter, während der Junge sie unverändert anstarrte.

„Das ist ein Geschäft, in dem man Lebensmittel einkaufen kann.“

Auf dem Gesicht des Kindes zeichnete sich ein leichtes Grinsen, das ihn dennoch nicht frech erscheinen ließ. Sanft ergriff er ihre Hand mit seinen beiden kleinen Händchen und zog sie leicht hinter sich her.

„Du meinst einen Tante-Emma-Laden! Der ist nicht weit weg – ich bring dich hin, okay? Sag bitte Ja, ja?“

Mit einem bettelnden Blick sah er sie an. Wie könnte sie da Nein sagen? Sie musste unweigerlich schmunzeln.

„Du weißt doch aber sicher, dass man mit fremden Leuten nicht mitgehen darf? Das ist nämlich gefährlich.“

Abrupt blieb er stehen und sah sie mit einem nachdenklichen, wachen Blick an, der keine Spur von Unsicherheit zeigte.

„Ich bin Robin, und wie heißt du?“

„Ich heiße Vanny.“

„Dann kennen wir uns jetzt. Kommst du nun mit?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, fing er auch schon wieder an, sie hinter sich herzuziehen. Lächelnd folgte sie ihm.

*

Das Einkaufen war lustig und abwechslungsreich gewesen. Vanny mochte den kleinen Robin mit jedem Moment mehr und wollte ihn am liebsten gar nicht mehr hergeben. In ihrer Stadt kannte sie Kinder frech, aufmüpfig, ungezogen und schlichtweg hässlich, sowohl innerlich wie auch äußerlich. Doch dieser Junge war so anders. Er hatte ihren deprimierenden Tag erhellt, ohne es zu wissen.

„Was machst du jetzt?“, fragte er sie, als sie das schrullige Geschäft verließen. „Gehst du mit mir zum Spielplatz? Bitte.“

Vanny konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und schaute kurz auf ihre Armbanduhr. Sie hatte heute nur noch vor, die Vorratskammer auszuräumen, was hielt sie also davon ab, hier noch ein bisschen Zeit mit dem kleinen Jungen zu verbringen?

„Bin ich dafür denn nicht zu alt?“, versuchte sie ihn zu necken. Robins kastanienbraune Augen wurden noch größer, als sie ohnehin schon waren, und er erwiderte mit argloser Bestimmtheit:

„Man ist doch nie zu alt zum Spielen!“

Sie musste lachen und stimmte ihm schließlich zu.

*

Auf dem Spielplatz war außer ihnen keine Menschenseele und so kam es, dass sie alle Hemmungen fallen gelassen hatte und sogar mit ihm geschaukelt, geklettert und gerutscht war. Jetzt saß sie mit dem 5-Jährigen Jungen im Sandkasten, um gemeinsam eine Sandburg zu bauen. Seine Fröhlichkeit und Offenheit ließen sie ihre Sorgen und Ängste vergessen. Ohne es selbst wahrzunehmen, hatte dieser niedliche kleine Knirps ihr sehr geholfen. Vanny überkam das Gefühl, sich bei ihm bedanken zu müssen und sich erkenntlich zu zeigen. Ihr Blick fiel auf den kleinen Eisstand am Ende der Straße.

„Möchtest du ein Eis, Robin?“ fragte sie freundlich.

Seine Augen wurden groß und glänzten. Er schien sich wirklich zu freuen, doch dann überlegte er kurz und meinte nuschelnd:

„Du musst mir nichts kaufen.“

Innerlich jauchzte sie auf. Er war so süß! Welches Kind in dem Alter schlug aus Höflichkeit und Anstand eine kostenlose Eiscreme ab? Einfach zu niedlich.

„Das weiß ich doch, aber ich habe so Lust auf Eis und alleine möchte ich nicht. Dann schmeckt es nämlich nur halb so gut, weißt du?“

Robin dachte kurz über ihre Worte nach und fing an zu strahlen.

„Kann ich bitte Nuss haben?“, hakte er vorsichtig nach und bei den leuchtenden Augen konnte sie nicht anders, als bestätigend zu lächeln.

„Klar, warte kurz hier. Ich bin sofort wieder da!“

Vor sich hin träumend ging sie wie versprochen zwei Eistüten kaufen und überreichte sie dem geduldig wartenden Robin. Dieser öffnete gerade den Mund, um sich zu bedanken, als ihm das Eis von hinten aus der Hand gerissen wurde.

„Danke auch!“

Ein schlanker Junge in ungefähr ihrem Alter mit hellbraunen, kurzen glatten Haaren stand vor den beiden und nahm Robins Eis in den Mund. Belustigt und provozierend starrte er sie aus hellblauen Augen an. Vanny war starr vor Schreck. Seine Miene verzog sich sogleich wieder.

„Igitt, Nuss!“

„Enjoji, gib her! Das ist mein Eis! Bitte!“

Robin fing an zu quengeln und versuchte, an dem vermeintlichen Dieb hochzuspringen, um sich sein Eigentum wiederzuholen. Ein gehässiges Grinsen zeigte sich auf dem Gesicht des Jugendlichen, als er auf den Kleinen herabblickte.

„Warum sollte ich?“

Das war zu viel für Robin. Er fing herzzerreißend zu weinen an. Nun löste sich Vanny aus ihrer Starre. Was ging hier vor sich? Was bildete dieser Kerl sich ein!

„Weil das Eis nicht für dich war, und du nicht tun und lassen kannst, was du willst. Dein Verhalten ist total asozial!“, empörte sich Vanny erbost und stand auf. Im ersten Moment schien der unbekannte Jugendliche überrascht.

 

„Aha, und wer bist du?!“

Er funkelte sie gereizt an und stellte sich ihr gegenüber. Sie holte noch einmal tief Luft, so als ob sie sich damit frischen Mut einverleiben wollte.

„Ich bin Vanny, und du solltest kleine Kinder nicht so behandeln!“

Er zog eine Augenbraue in die Höhe und schob Robin, der sich einmischen wollte, zur Seite. Bedrohlich näherte er sich ein paar Schritte. Automatisch wich sie zurück. Hatte sie einen Fehler begannen? Rein körperlich konnte sie gegen den einen halben Kopf größeren Teenager nicht gewinnen.

„Also Vanny! Und ich finde, du solltest dir jemanden in deiner Altersklasse zum Anbaggern suchen. Bei uns fällt das nämlich unter Kindesmissbrauch. Auch Verzweiflung rechtfertig nicht die Tat!“

Ihr klappte die Kinnlade runter. Das war ja wohl die Höhe, bodenlose Unverschämtheit! Was bildete der sich eigentlich ein! Hatte er sie gerade der Kindesverführung bezichtigt? Und was hieß hier Verzweiflung?

„Ah Enjoji! Hast du deinen kleinen Bruder gefunden? Siehst du, wir haben dir doch gesagt, dass schon nichts passiert sein wird!“

„Nina, Keigo!“, rief Robin und sprang auf die beiden Neuankömmlinge zu, die nun von ihren Fahrrädern abstiegen. Es handelte sich dabei um zwei weitere Jugendliche in ihrem Alter. Ein rothaariger Junge mit wachen, hellblauen Augen und vielen frechen Sommersprossen im Gesicht und ein aschblondes Mädchen mit grünen Augen, die viel Wärme und Güte ausstrahlten. Obwohl Vanny sie nicht kannte, schloss sie die Gleichaltrige sofort in ihr Herz. Dennoch war sie mehr als verwirrt.

„Kl… kleiner Bruder?“, fragte Vanny fassungslos mit etwas lauter werdender Stimme. „Das – dieser Kerl, dieser Rüpel, ist dein großer Bruder?!“

Alle Augenpaare richten sich auf sie. Dann fing der Kotzbrocken, der sich als Robins großer Bruder entpuppt hatte, an, gehässig zu lachen.

„Oh je … ich sehe schon, da ist eine kleine Aufklärung nötig“, meinte die Grünäugige und stellte ihr orangefarbenes Fahrrad ab, um mit Vanny in Ruhe zu sprechen und alle Missverständnisse aus der Welt zu schaffen.

„Die beiden sind Brüder und Robin streunt öfters alleine herum, obwohl er weiß, dass er das nicht soll. Wir haben mal wieder alle nach ihm gesucht. Auch wenn es jetzt vielleicht nicht so danach aussah, sind die beiden ein Herz und eine Seele. Enjoji hängt wirklich sehr an seinem Bruder. Eigentlich ist er gar nicht so übel, es ist nur seine oberflächliche Art – wie sagt man so schön: harte Schale, weicher Kern. Ich heiße übrigens Nina“, erklärte ihr die Gleichaltrige und reichte ihr die Hand, die Vanny zögernd ergriff.

„Mein Name ist Vanny. Es tut mir leid, das wusste ich nicht.“

Die Situation war Vanny sichtlich unangenehm, doch Nina winkte ab.

„Du konntest es nicht wissen, also vergiss es einfach. Das hier ist übrigens Keigo.“

Sie zeigte auf den rothaarigen Begleiter, welcher ihr mit einem breiten Grinsen ebenfalls die Hand zum Gruß reichte.

„Am besten, wir setzen uns irgendwohin. Dann können wir uns in Ruhe unterhalten“, meinte Keigo zwinkernd. Alle nickten und suchten sich ein schattiges Plätzchen.

*

Nina und Keigo wurden ihr während der Unterhaltung immer sympathischer. Beide waren schon 18 Jahre alt und lebten seit ihrer Kindheit in dem Dorf. Sie war froh, die zwei getroffen zu haben, wo sie sonst niemanden in ihrer Altersklasse erspähen konnte. Nachdenklich betrachtete sie Enjoji, welcher leicht stichelnd mit seinem Bruder spielte. So richtig warm konnte sie mit ihm, der sogar ein Jahr jünger war als sie, nicht werden.

„Wo kommst du eigentlich her? Du bist doch nicht von hier oder bist du neu zugezogen?“, fragte sie Keigo neugierig und blickte sie freundlich an. Vanny schüttelte lächelnd den Kopf.

„Nein, zum Glück nicht. Ich bin nur die Sommerferien über bei meinem Onkel.“

„Hey, so schlimm ist unser Dörfchen nicht!“, entgegnete Nina augenzwinkernd und schubste sie leicht mit der Schulter an. „Und wo wohnt dein Onkel?“

„Abseits – ungefähr vier Kilometer vom Dorf entfernt.“

Beide zogen verblüfft die Augenbrauen hoch. Auf Ninas Gesicht machte sich ein besorgter Ausdruck breit, der auch viel Mitgefühl beinhaltete. Keigo hingegen blickte eher geschockt und ungläubig drein. Vanny wurde unsicher und rutschte unbehaglich auf der Holzbank hin und her.

„Was … was ist denn?! Ich konnte es mir doch nicht aussuchen! Warum seht ihr mich denn so an? Stimmt irgendetwas nicht?“

Keigo schaute verlegen und peinlich berührt auf die Seite. Er nuschelte eine unbeholfene Entschuldigung vor sich hin, während Nina sie hingegen unverwandt und mitfühlend ansah.

„Ich beziehungsweise wir wollten dich nicht angreifen oder beleidigen – ganz im Gegenteil. Es ist so, dass man deinen Onkel hier nicht gerade als offen, zuvorkommend oder gar hilfsbereit kennt. Also eigentlich kennt man ihn hier nur als unfreundlichen, garstigen Geizhals, der verlernt hat zu lachen. Ein Einsiedler im wahrsten Sinne des Wortes.“

Nina holte nach ihrer Erklärung tief Luft. Vanny blickte sie überrascht an, den Kopf leicht schräg auf die Seite gelegt, und musste plötzlich lächeln. Es war, als würde ihr ein Stein vom Herzen fallen, denn endlich fühlte sie sich nicht mehr so allein und hatte tatsächlich jemanden gefunden, mit dem sie über ihre Situation reden konnte. Das tat sie dann auch. Zwischen den drei Jugendlichen entwickelte sich ein vergnügliches Gespräch, bis Vanny aufbrechen musste. Die Zeit schien wie im Flug vergangen zu sein. Herzlich verabschiedete sie sich von allen, nur Enjoji nickte ihr etwas reserviert zu, und trat den Rückweg an. Nina hatte ihr angeboten, ihr Fahrrad auszuleihen, doch sie hatte dankend abgelehnt. Sie hatten ihre Handynummern ausgetauscht, auch wenn Vanny keinen Empfang bei ihrem Onkel hatte.

„Wenn du mal reden möchtest oder Hilfe brauchst, weißt du ja, wo du uns findest. Einer von uns streunt hier immer irgendwo rum“, rief ihr Keigo noch aufmunternd hinterher. Sie nickte, winkte noch einmal und dankte Gott für das Zusammentreffen, als sie sich auf den Rückweg machte.

Kapitel 4 - Tag 2 - Dienstag

Sie war gestern rechtzeitig zurückgekommen und hatte gleich Abendessen zubereitet – Spaghetti mit Tomatensoße. Ernst war zwar nicht sehr gesprächig gewesen, doch hatte er mit großem Appetit gegessen und zu ihrer großen Überraschung hatte er ihr sogar eine heiße Schokolade gekocht. Diese hatte zwar etwas seltsam geschmeckt, sie konnte den Nebengeschmack nicht zuordnen, aber was konnte man auch von einem eingefleischten und gealterten Junggesellen schon erwarten? Auch wollte sie diesen ersten Versuch, ihr entgegen zukommen, nicht zerstören. Ihr Onkel war nicht lange geblieben und da sich Müdigkeit bei ihr vom langen Marsch des Tages bemerkbar gemacht hatte, hatte Vanny nur noch schnell den Abwasch erledigt, sich gewaschen, umgezogen und sich dann sofort hingelegt. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie eingenickt war. So tief und fest, wie sie in dieser Nacht geschlafen hatte, hatte sie schon sehr lange nicht mehr geschlafen.

Als am nächsten Morgen ihr kleiner Funkwecker klingelte, fühlte sie sich entspannt und ausgeruht. Munter und tatenfroh brühte sie den Kaffee auf und machte sich ein Brot zum Frühstück. Da sich ihr Onkel diesmal nicht blicken ließ, trank sie den Kaffee alleine und machte sich sofort daran, die Abstellkammer auszumisten. Und das war auch bitter nötig! Der größte Teil der gelagerten Lebensmittel war abgelaufen und in einigen Dosen bildeten sich schon selbstständige Biotope. Es war ekeliger, als sie gedacht hatte. Wie gut, dass sie gestern einkaufen gegangen war, sonst wäre fast nichts Essbares mehr im Haus. Allerdings war ihr bewusst, falsch gehandelt zu haben. Ihr war schon klar, dass man zuerst nachsah, was man dahatte und dann die fehlenden Dinge besorgte. Aber dennoch: Sie hatte gestern eine Auszeit gebraucht! Also kein Grund, sich darüber weiter Gedanken zu machen! Wie konnte er nur Sachen lagern, die über zwei Jahre abgelaufen waren? Was aß dieser Mensch denn, wenn er alleine war? Vielleicht kamen die Eigenarten daher? Klassischer Fall von Lebensmittelvergiftung? Vanny schüttelte den Kopf. Okay, das war nun wirklich gemein. Warum hatte sie manchmal solche bösen oder gehässigen Gedanken? Sie war stets bemüht, freundlich und hilfsbereit im Alltag anderen gegenüber zu sein, doch immer wieder drängten sich ihr solch unangenehmen Gedanken auf, obwohl sie das gar nicht wollte. Sie wollte nicht ungerecht und vorschnell über andere urteilen oder handeln. Eventuell war ihr ganzes Verhalten nur ein vergeblicher Versuch, jemand zu sein, der sie gar nicht war? War sie eventuell das genaue Gegenteil von ihren Idealen und sie wollte es nur nicht wahrhaben? Nein! Darüber wollte sie nun ganz gewiss nicht nachdenken! Noch energischer als zuvor stürzte sie sich in ihre Arbeit und schon nach wenigen Minuten zeigte dies Wirkung.

*

Nach etwa zwei Stunden war sie fertig. Nachdem sie sich geduscht und eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen hatte, packte sie kurz entschlossen ein bisschen Obst ein, schnappte sich den Zweitschlüssel, der im Flur offen hing, und ging spazieren. Sie nahm den Weg in die entgegengesetzte Richtung zum Dorf, welcher sie in einen Wald führte. Zuvor war sie eine Weile durch ein Feld voller Kornblumen gelaufen. Das Wetter war herrlich, die Sonne schien heiß auf sie nieder und im Schutz der Bäume des grünen Waldes war es angenehm kühl. Vanny hing ihren Gedanken nach, während sie der Duft von Laub und wilden Gräsern sanft einlullte. Was ihre Freundinnen wohl gerade machten? Hatte gestern die Party bei ihrer besten Freundin Katrin stattgefunden und war ihr Schwarm Gil dort aufgetaucht, wie erhofft? Noch einmal kramte sie nach ihrem Handy, jedoch hatte sie auch hier keinen Empfang. Leise seufzend steckte sie das kleine Mobiltelefon zurück in ihre Tasche. Sie war völlig von der Außenwelt abgeschnitten und wieder machte sich unaufhaltsam ein Gefühl der Einsamkeit in ihr breit. Wo waren ihre Eltern gerade? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie gar nicht wusste, wo genau sie hingefahren waren. Sie ging noch einmal alles gedanklich durch, doch konnte sie sich nicht daran erinnern, dass ihre Eltern dies in irgendeiner Weise erwähnt hatten. War das Vertrauen in sie nun ganz verloren oder war dies nur im Stress untergegangen? Das war doch aber nicht normal und ungefährlich schon gar nicht! Wie sollte sie denn ihre Eltern erreichen, falls irgendetwas passieren sollte? Ihr Handy konnte sie ja wohl vergessen. Überhaupt, sie hatten sich bis jetzt noch kein einziges Mal bei ihr gemeldet. Immerhin hatte ihr Onkel wohl irgendwo im Haus ein Telefon, sonst hätte ihre Mutter auch nicht die Unterkunft organisieren können. Ob Ernst es vielleicht einfach nur vergessen hatte zu erwähnen, dass ihre Mutter oder ihr Vater versucht hatten, sie anzurufen? Immerhin hatte er ja kaum mit ihr gesprochen und sie konnte sich gut vorstellen, dass ihm so etwas entfallen war, weil er es nicht für wichtig und eventuell störend in seinem Einsiedlerdasein empfunden hatte. Doch warum sagte ihr Unterbewusstsein etwas ganz anderes, das ihr gar nicht gefiel? Und warum kamen ihr so plötzlich die Tränen, dass sie heulte wie ein ausgesetzter Hund?

*

Das Essen war gerade fertig, als Ernst die Küche betrat. Wie nicht anders erwartet, blickte er mürrisch drein und schwieg. Freundlich begrüßte die Jugendliche ihren Onkel und stellte das Brot mit dem selbst gemachten Brokkolisalat und den warmen Würstchen auf den Tisch. Er nickte ihr nur kurz zu und musterte misstrauisch den Salat mit einem Blick, der gleich verriet, dass er ihm nicht gefiel. Dennoch aß er alles mit gutem Appetit, ohne eine Miene zu verziehen. Vanny hingegen bekam kaum etwas herunter. Zu viele Gedanken und Sorgen kreisten in ihrem Inneren und schlugen ihr auf den Magen. Die Fragen vom Mittag ließen sie einfach nicht in Ruhe und schienen sie aufzufressen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte zaghaft mit zittriger Stimme:

„Haben sich meine Eltern in der Zwischenzeit gemeldet?“

Er hielt kurz inne und starrte sie ausdruckslos, fast wie ein Toter, an, sodass ihr ein Schauer über den Rücken lief, und legte sein Besteck beiseite.

„Nein, haben sie nicht“, antwortete er kurz angebunden mit einem genervten Unterton und musterte sie eindringlich. Enttäuscht blickte sie auf ihren noch fast vollen Teller und verkeilte ihre Finger unter dem Tisch ineinander. Ihre Befürchtungen waren somit bestätigt und ein dicker Klumpen schien in ihrem Hals zu stecken. Die Lust zum Essen war ihr nun endgültig vergangen. Ernst stand auf und rührte ihr eisern schweigend eine heiße Schokolade zusammen.

 

„Trink das, dann geht es dir besser ... Sie haben bestimmt viel zu tun.“

Mit diesen Worten ging er und ließ die traurige Jugendliche alleine zurück. Sie kämpfte gegen die erneut aufsteigenden Tränen und nippte an dem warmen Getränk. War ein Telefonat denn zu viel verlangt? Ein einziger Anruf? So beschäftigt konnten ihre Eltern doch gar nicht sein, dass sie sich nicht einmal fünf Minuten Zeit nehmen konnten. Nein … wenn sie wollten, dann würden sie bestimmt etwas Zeit für ein kurzes Gespräch erübrigen können. Sie biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe, verfluchte sich und ihr gesamtes Leben.