Kinder stärken

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Aus der Reihe: Beiträge für die Praxis #8
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Esther Oswald, Benjamin Rubeli, Regine Berger

KINDER STÄRKEN

durch persönlichkeitsfördernden Bewegungs- und Sportunterricht

ISBN Print: 978-3-0355-1256-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-1257-1

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

0Vorwort

1Einführung

2Mein selbstkonzeptfördernder Bewegungs- und Sportunterricht

2.1 Modul 1: Das Selbstkonzept von Kindern im Sport

Sequenz 1 | Kompetenzbereich Spielen | Käsefangis

Sequenz 2 | Kompetenzbereich Darstellen und Tanzen | Die vier Elemente

Sequenz 3 | Kompetenzbereich Gleiten, Rollen, Fahren | Sichere Kunststücke auf Rollen und Rädern

2.2 Modul 2: Die didaktisch-methodischen Grundsätze

2.2.1Individualisierung des Unterrichts

Sequenz 4 | Kompetenzbereich Bewegen an Geräten/Laufen, Springen, Werfen | Koordinations-Circuit

2.2.2Heranführung und Anleitung zur Selbstreflexion

Sequenz 5 | Kompetenzbereich Laufen, Springen, Werfen | Zahlenlauf

2.2.3Formulierung von positiv-konstruktivem Feedback

Sequenz 6 | Kompetenzbereich Darstellen und Tanzen | Werde Darstellungs- und Feedbackkünstler/-in!

2.2.4Fazit

2.3 Modul 3: Wirksame und nachhaltige Umsetzung

2.3.1Gezielte Selbstkonzeptförderung

Sequenz 7 | Kompetenzbereich Spielen/Bewegen im Wasser | Spielentwicklung im Wasser

Sequenz 8 | Kompetenzbereich Bewegen an Geräten | Wagnismomente an Geräten

2.3.2Zentralität des Selbstkonzepts

Sequenz 9 | Kompetenzbereich Spielen | Kämpfen und Raufen

2.3.3Barrieren einer erfolgreichen Umsetzung

2.3.4Reflexion der eigenen Unterrichtserfahrungen

2.3.5Anregungen zum fächerübergreifenden Transfer

3Rück- und Ausblick

4Literaturverzeichnis

5Abbildungsverzeichnis

6Anhang

Arbeitsblatt zu Sequenz 3 | Sichere Kunststücke auf Rollen und Rädern

Material zu Sequenz 4 | Postenblätter

Arbeitsblatt zu Sequenz 4 | Meine koordinativen Fähigkeiten

Material zu Sequenz 5 | Hallenplan

Material zu Sequenz 5 | Ausdauerplakat

Material zu Sequenz 6 | Feedbackkarten

Arbeitsblatt zu Sequenz 8 | Wagnismomente an Geräten

Abbildung zu Sequenz 9 | Kämpfen und Raufen

Arbeitsblatt zu Sequenz 9 | Kämpfen und Raufen

0Vorwort

Liebe Lehrerin, lieber Lehrer

Liebe am Bewegungs- und Sportunterricht Interessierte

Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern und zu stärken – das ist das Ziel der Schule. Doch was bedeutet es, Kinder zu stärken? Und wie können Sie als Lehrperson im Bewegungs- und Sportunterricht dazu beitragen? Diese Fragen werden im vorliegenden Buch auf praxisnahe Art und Weise beantwortet. Das Buch regt dazu an, den eigenen Bewegungs- und Sportunterricht persönlichkeitsfördernd und damit stärkend zu gestalten. Die dargestellten theoretischen Inputs, die anregenden Lektionssequenzen sowie die verschiedenen Fallbeispiele unterstützen Sie dabei. Wir möchten Sie mit diesem Buch motivieren, über Ihren eigenen Bewegungsund Sportunterricht und dessen Bezug zur Persönlichkeitsförderung der Schülerinnen und Schüler nachzudenken. Darüber hinaus möchten wir Sie bei der Realisierung eines persönlichkeitsfördernden Unterrichts unterstützen. Deshalb versteht sich die vorliegende Publikation als Arbeitsbuch, welches Platz für Gedanken und Notizen zum eigenen Unterricht bietet und Sie im Sinne eines Leitfadens auf dem Weg zu einer persönlichkeitsfördernden Gestaltung Ihres Bewegungs- und Sportunterrichts begleitet. Das Buch richtet sich an interessierte Lehrpersonen aller Unterrichtsstufen der Volksschule sowie an Dozierende und Studierende des Fachbereichs Bewegung und Sport an pädagogischen Hochschulen, die sich mit der Thematik des persönlichkeitsfördernden Bewegungs- und Sportunterrichts auseinandersetzen möchten.

Die in diesem Buch dargestellten Inhalte wurden weitestgehend im Forschungsprojekt «Lehrertraining Persönlichkeitsfördernder Sportunterricht» (Oswald & Valkanover, 2015) des Fachdidaktikzentrums Sport der PHBern in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern entwickelt. Das Projekt beinhaltete die Entwicklung, Durchführung und wissenschaftliche Evaluierung einer Weiterbildung für Lehrpersonen zu Selbstkonzeptförderung im Bewegungs- und Sportunterricht und wurde in den Jahren von 2015 bis 2018 durch das Bundesamt für Sport (BASPO) gefördert. Wir danken dem BASPO und insbesondere dem hierfür Verantwortlichen, Herrn Peter Moser, herzlich für die freundliche Unterstützung. Ein grosses Dankeschön geht auch an die Lehrerinnen und Lehrer, die an der Weiterbildung und der dazugehörigen wissenschaftlichen Evaluation teilgenommen haben. Schliesslich bedanken wir uns beim Team der Berner Interventionsstudie Schulsport (BISS) um Achim Conzelmann, Mirko Schmidt und Stefan Valkanover, die mit ihren umfassenden Forschungsarbeiten zur Persönlichkeitsentwicklung durch Schulsport den Grundstein für die Arbeiten rund um die vorliegende Publikation gelegt haben. Ihr dazugehöriges Werk (Conzelmann, Schmidt & Valkanover, 2011) stellt die Grundlagen, Zusammenhänge und Wirkmechanismen von Persönlichkeitsentwicklung im Schulsport in detaillierter, theoretischer und praktischer Form dar. Wir empfehlen dessen Lektüre allen Leserinnen und Lesern, die über die hier dargestellten Inhalte hinaus an der Thematik interessiert sind.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre, und vor allem viele Erfolgserlebnisse in Ihrem Bewegungs- und Sportunterricht!

Bern, im Herbst 2018

Esther Oswald, Benjamin Rubeli, Regine Berger

1Einführung

Der Lehrplan 21 gibt vor, was Schülerinnen und Schüler im Bewegungsund Sportunterricht an Deutschschweizer Volksschulen lernen sollen (vgl. Lehrplan 21, D-EDK, 2016). Die Anforderungen sind als stufenweise zu erwerbende Kompetenzen (vgl. Weinert, 2002) beschrieben. Für den Bewegungs- und Sportunterricht zielen die dargestellten fachlichen und überfachlichen Kompetenzen darauf ab, dass Bewegung und Sport einen Beitrag zur ganzheitlichen Bildung des Menschen leisten. Die Schülerinnen und Schüler sollen «ihre motorischen Fähigkeiten und ihre körperliche Leistungsfähigkeit [verbessern] und emotionale, soziale, kognitive, motivationale und volitionale Aspekte ihrer Persönlichkeit [entwickeln]» (D-EDK, 2016, S. 1). Laut Lehrplan soll in den sechs fachspezifischen Kompetenzbereichen «Laufen, Springen, Werfen», «Bewegen an Geräten», «Darstellen und Tanzen», «Spielen», «Gleiten, Rollen, Fahren» sowie «Bewegen im Wasser» das Erreichen verschiedener Kompetenzstufen zu Wissen, Können und Wollen angestrebt werden (vgl. D-EDK, 2016, S. 6). Dabei wird insbesondere der Persönlichkeitsentwicklung und spezifisch der Förderung des Selbstkonzepts eine grosse Bedeutung beigemessen. Das Selbstkonzept versteht sich als ein «Teilsystem der Persönlichkeit» (Thomas, 1989, S. 28) und wird als «die Gesamtheit der Einstellungen zur eigenen Person» definiert (Mummendey, 2006, S. 38). Die grosse Relevanz des Selbstkonzepts für eine gelingende Entwicklung gründet zum einen in dessen verhaltensregulativer Wirkung (Roebers, 2007). Schülerinnen und Schüler mit einer positiven Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten sind motivierter, zeigen mehr Freude und Interesse, wählen realistischere und herausforderndere Aufgaben und weisen zu einem späteren Zeitpunkt mehr Lernerfolg auf als Schülerinnen und Schüler mit einem negativeren Selbstkonzept (Stiensmeier-Pelster & Schöne, 2008). Zum anderen wirkt sich eine positive Einstellung zur eigenen Person positiv auf die Lebenszufriedenheit und die psychische Gesundheit aus (z. B. Boden, Fergusson & Horwood, 2008; Moksnes & Espnes, 2013; Sowislo & Orth, 2013).

 

Bisherige Studien haben in den vergangenen Jahren aufgezeigt, dass sich das Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern durch spezifisch inszenierte sportliche Aktivität fördern lässt (z. B. Conzelmann, Schmidt & Valkanover, 2011; Ruploh, Martzy, Bischoff, Matschulat & Zimmer, 2013). Im Unterricht können die Kinder lernen, ihre Leistungen sowie ihr Verhalten und damit sich selbst richtig einzuschätzen. Darüber hinaus ermöglichen gezielte Unterrichtsinszenierungen Kompetenzerlebnisse, welche eine positive Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten sowie die Entwicklung einer wertschätzenden Einstellung gegenüber der eigenen Person unterstützen. Aus pädagogischer Sicht wird deshalb der Schule und insbesondere dem Bewegungs- und Sportunterricht für die Stärkung des Selbstkonzepts eine grosse Bedeutung beigemessen. Auch aus entwicklungspsychologischer Sicht entspricht die Förderung des Selbstkonzepts einer Zielorientierung für die Schulzeit, da sich das Selbstkonzept im Kindes- und Jugendalter stark ausdifferenziert und im Vergleich zum Erwachsenenalter besonders beeinflussbar ist (Harter, 2003).

Das folgende Fallbeispiel1 verdeutlicht, dass sich Erlebnisse im Bewegungs- und Sportunterricht nachhaltig auf das Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern auswirken können:

Wie jeden Montagnachmittag treffen sich die Drittklässlerinnen und Drittklässler mit der Lehrerin in der Turnhalle zum Sportunterricht. Für die heutige Doppellektion hat die Lehrerin einen Geräteparcours vorbereitet, damit die Kinder ihre Geschicklichkeit trainieren. Der Parcours beinhaltet eine Slalombahn, eine Langbank, grosse und kleine Matten sowie einen Schwedenkasten zum Darübersteigen und eine Sprossenwand zum Überwinden. Die Lehrerin instruiert die Kinder, nacheinander den Parcours zu durchlaufen. Das vorderste Kind der Schlange startet und bewältigt alle Hindernisse ohne Schwierigkeiten. Auch die nächsten Kinder schaffen den Parcours, nur kleine Schwankungen auf der Langbank sind zu beobachten. Dann ist Martin an der Reihe, ein schüchterner, übergewichtiger Junge. Er durchläuft den Parcours zu Beginn gut, doch dann nähert er sich zögerlich der Sprossenwand. Martin klettert hoch, möchte darübersteigen, zögert. Derweil hört er die anderen Kinder in der Halle lachen. Er fühlt sich unsicher und hat Angst, auf die andere Seite zu klettern um hinunterzusteigen. Er bleibt oben sitzen – blockiert –, und unten warten die anderen Kinder; schon hat sich eine Schlange gebildet. Die Lehrerin fordert Martin ungeduldig und in strengem Ton auf, weiterzugehen, Martin getraut sich aber nicht. Nach vergeblichen Aufforderungen und einem Versuch der Lehrerin, ihn herunterzunehmen, der aber fehlschlägt, weil Martin zu schwer ist, eilt die Lehrerin verzweifelt zum Abwart und bittet ihn um eine Leiter.

Wie fühlt sich Martin? Welche psychologischen Konsequenzen hat die Situation für ihn? Was könnte die Lehrerin anders machen, damit das Erlebnis für Martin anders ausfällt? Mögliche Antworten sind in der Fussnote zu finden.2

Notizen


Die Erfahrungen, die Kinder im Bewegungs- und Sportunterricht machen, können ihr Selbstkonzept – im negativen oder positiven Sinne – bedeutend und nachhaltig beeinflussen. Entsprechend wichtig ist es, den Unterricht didaktisch-methodisch so zu gestalten, dass möglichst alle Kinder, motorisch starke und schwache, positive Erfahrungen machen und in ihrem Selbstkonzept gestärkt werden.

Im Folgenden wird aufgezeigt, wie der Unterricht gestaltet werden kann, damit das Selbstkonzept aller Schülerinnen und Schüler gefördert wird. Das Buch gliedert sich dazu in ein grosses Hauptkapitel mit drei Modulen zum eigenen selbstkonzeptfördernden Bewegungs- und Sportunterricht und in einen abschliessenden Rück- und Ausblick. Die Module des Hauptkapitels haben folgende Inhalte:

–Im Modul 1, Das Selbstkonzept von Kindern im Sport, erfolgt ein Überblick über die wichtigsten Aspekte des Selbstkonzepts. Zunächst werden die zentralen Begriffe geklärt, und ein Modell zur Struktur und zum Aufbau des Selbstkonzepts wird vorgestellt. Anschliessend wird die Entwicklung des Selbstkonzepts im Kindes- und Jugendalter näher beschrieben, und es wird aufgezeigt, wie das Selbstkonzept beeinflusst werden kann. Anhand erster, einfacher selbstkonzeptfördernder Praxissequenzen wird zudem aufgezeigt, wie Sie die gewonnenen Erkenntnisse in Ihren Unterricht einbauen können.

–Bewegungs- und Sportunterricht, der zum Ziel hat, das Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler zu fördern, bedarf einer spezifischen Art des Unterrichtens. Im Modul 2, Die didaktisch-methodischen Grundsätze, werden die didaktischen Besonderheiten eines selbstkonzeptfördernden Unterrichts und deren Umsetzungsmöglichkeiten anhand konkreter Praxissequenzen vorgestellt.

–Im Modul 3, Wirksame und nachhaltige Umsetzung, werden Sie angeregt, den eigenen selbstkonzeptfördernden Unterricht unter die Lupe zu nehmen. Dabei geht es um einen differenzierten Blick auf den eigenen Bewegungs- und Sportunterricht. Es werden Strategien im Umgang mit Aspekten, die eine nachhaltige selbstkonzeptfördernde Unterrichtsinszenierung behindern können, aufgezeigt. Zudem wird dazu angeregt, die erlernten didaktisch-methodischen Prinzipien auch in anderen Schulfächern anzuwenden.

Da die Inhalte dieses Buches in Form eines Leitfadens aufeinander aufbauen, lohnt es sich, das Buch in chronologischer Reihenfolge zu lesen. Die dargestellten Praxissequenzen passen jeweils zu den Kapitelschwerpunkten und ermöglichen in wiederkehrender Form Schritt für Schritt eine vertiefte Auseinandersetzung mit selbstkonzeptfördernden Unterrichtsinszenierungen im Bewegungs- und Sportunterricht. Da die praktische Umsetzung von Selbstkonzeptförderung im Unterricht ganzheitlich geschieht, sind die Praxissequenzen ab Beginn umfassend beschrieben (und beziehen sich beispielsweise auf mehrere didaktische Aspekte), auch wenn die theoretischen Inputs in den Kapiteln jeweils einzelne Themen fokussieren.

Es gilt zu berücksichtigen, dass die Förderung des Selbstkonzepts im Sport meist nur über die gleichzeitige Förderung sportmotorischer Fertigkeiten realisierbar ist. Entsprechend dem im Lehrplan 21 vorherrschenden Verständnis von Kompetenz, haben die dargestellten Praxissequenzen deshalb auch die Förderung der sportmotorischen Fertigkeiten bzw. der körperlichen Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler im Blick.

1Zum Hintergrund der Fallbeispiele vgl. Infoblock «Fallgeschichten als Werkzeug zur Analyse von Unterricht» in Kapitel 2.3.4.

2Martin ist von der Situation stark beängstigt und vor den anderen Schülerinnen und Schülern blossgestellt. Es ist belastend für ihn, dass die Mitschülerinnen und Mitschüler unten lachen, während er in Gefahr ist. Dazu kommt, dass auch die Lehrerin ungeduldig auf sein Verhalten reagiert, das Gelächter der Mitschülerinnen und Mitschüler nicht kommentiert und die Situation schliesslich auch nicht auflösen kann. Martin fühlt sich wenig kompetent und schätzt seine eigenen Fertigkeiten zur Überwindung der Sprossenwand als äusserst gering ein. Sein sportbezogenes Selbstkonzept ist entsprechend negativ ausgeprägt. Er wird beim nächsten Mal in einer ähnlichen Situation grosse Angst vor einer Blamage haben und versuchen, die Situation zu umgehen. Die Lehrerin könnte einen Parcours mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden oder entsprechenden Hilfestellungen vorbereiten, der für alle Kinder überwindbare Herausforderungen bietet.

2Mein selbstkonzeptfördernder Bewegungs- und Sportunterricht

Damit Lehrpersonen den Bewegungs- und Sportunterricht selbstkonzeptfördernd gestalten können, brauchen sie Kenntnisse zu Fragen wie «Was ist das Selbstkonzept? Was zeichnet das Selbstkonzept im Kindes- und Jugendalter aus? Was kann eine Lehrperson tun, um das Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler zu fördern? Wie gelingt dies im eigenen Unterricht?». In diesem Kapitel werden Antworten zu diesen Fragen anhand von theoretischen Inputs, Fallbeispielen und konkreten Praxissequenzen für die Sporthalle vorgestellt.

2.1Modul 1: Das Selbstkonzept von Kindern im Sport

Die Persönlichkeit eines Menschen hat viele verschiedene Facetten. Entsprechend zahlreich sind die Definitionen, die beschreiben, was unter dem Begriff «Persönlichkeit» genau verstanden wird. Als eine Minimaldefinition kann Persönlichkeit wie folgt bestimmt werden: Persönlichkeit ist «ein bei jedem Menschen einzigartiges, relativ stabiles und den Zeitablauf überdauerndes Verhaltenskorrelat» (Herrmann, 1991, S. 29). Bei der Persönlichkeit handelt es sich folglich um so etwas wie ein Bündel aus Verhaltensweisen einer Person. Diese Verhaltensweisen beeinflussen sich gegenseitig. Das Bündel ist bei jedem Menschen individuell und damit einzigartig. Es verändert sich zwar im Laufe der persönlichen Entwicklung, aber gleichzeitig bleibt es über die Jahre relativ stabil, sobald es sich mit dem Übergang ins Erwachsenenalter zunehmend gefestigt hat. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass sich das Bündel in drei grosse Bereiche unterteilen lässt:

–Generelle Temperaments- und Persönlichkeitseigenschaften: Dazu gehören grundsätzliche Eigenschaften oder sogenannte Traits von Menschen wie z. B. die «Big Five» (z. B. Costa & McCrae, 1992), die fünf grossen Charaktereigenschaften eines Menschen. Die Big Five beinhalten die Dimensionen Neurotizismus, Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für neue Erfahrungen. Jeder Mensch zeichnet sich durch eine bestimmte Ausprägung dieser Charaktereigenschaften aus. Zudem gehören zu den grundsätzlichen Temperaments- und Persönlichkeitseigenschaften auch Emotionen oder States eines Menschen wie z. B. Ängste, Ärger oder Stimmungen.

–Leistungsmerkmale: Menschen zeichnen sich durch verschiedene Leistungsmerkmale aus. Dazu gehören sowohl kognitive Leistungsmerkmale wie Intelligenz, Kreativität oder Aufmerksamkeit als auch körperlich-motorische Leistungsmerkmale wie die motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten.

–Selbst- und umweltbezogene Kognitionen: Menschen unterscheiden sich in ihren selbst- und umweltbezogenen Kognitionen. Diese beinhalten Einstellungen und Einschätzungen, welche Menschen über sich selbst – beispielsweise zusammengefasst im Selbstkonzept oder Selbstwertgefühl – und über ihr Umfeld haben. Dazu gehören auch Handlungseigenschaften wie motivationale Merkmale, Bewältigungsstile oder Handlungsüberzeugungen sowie verschiedene Bewertungsdispositionen (z. B. persönliche Attributionen, Werte).

Viele verschiedene Aspekte bestimmen die einzigartige Persönlichkeit jedes Menschen. Hinsichtlich der in dieser Publikation behandelten Thematik sind insbesondere die selbstbezogenen Kognitionen zentral: Das Selbst besteht gemäss James (1890) aus den beiden Grundbausteinen «I» und «Me» (engl.). «I» ist der aktive Teil des Selbst, während «Me» als Objekt der Selbstbetrachtung fungiert. Diese Komponenten ermöglichen einer Person die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt sowie die stetige Selbstreflexion der eigenen Handlungen. Selbstbezogene Kognitionen sind daher durch die Umwelt verhältnismässig einfach beeinflussbar, was sie für die Schule und das Lernen von Schülerinnen und Schülern interessant macht. Unter Selbstkonzept wird «das mentale Modell einer Person über ihre eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften» (Moschner & Dickhäuser, 2006, S. 685) verstanden. Damit gemeint ist das Wissen über die eigenen Fähigkeiten, Eigenschaften und Gefühle. Diese Selbsteinstellungen beziehen sich auf verschiedene körperliche oder innerliche Merkmale und entwickeln sich im Laufe der Zeit: Die Identitätsfragen «Wer bin ich, oder was kann ich?» beschäftigen Menschen bereits ab den ersten Lebensjahren. Mit zunehmendem Alter gelangt eine Person zu differenzierten Einschätzungen über sich selbst, beispielsweise ob er oder sie intelligent, sportlich oder attraktiv ist (Bierhoff & Frey, 2011). In Anlehnung an Shavelson, Hubner und Stanton (1976; vgl. Abbildung 1) wird das Selbstkonzept als multidimensional strukturiertes und hierarchisch organisiertes Modell, das relativ stabil, aber entwicklungsfähig ist, beschrieben (Marsh & O’Mara, 2008). Die Vorstellungen eines Menschen über sich selbst sind, in verschiedenen Dimensionen und Facetten gebündelt, hierarchisch abgespeichert. Zuoberst in der Hierarchie befindet sich das generelle Selbstkonzept, welches umgangssprachlich oft dem Selbstwertgefühl gleichgesetzt wird. Während jedoch das Selbstkonzept eine kognitive Einstellungskomponente darstellt, wird das Selbstwertgefühl als affektive bzw. evaluative Komponente betrachtet (Kuonath, Frey & Schmidt-Huber, 2016). Das Selbstkonzept hat damit beschreibenden Charakter (z. B. «Ich bin sportlich»), wohingegen das Selbstwertgefühl die Bewertung der eigenen Person widerspiegelt (z. B. «Es ist gut, dass ich sportlich bin»). Das generelle Selbstkonzept kann in ein akademisches und ein nichtakademisches Selbstkonzept unterteilt werden. Das akademische Selbstkonzept beinhaltet Informationen und Einstellungen zur eigenen Person hinsichtlich der eigenen schulischen Laufbahn. Es besteht aus verschiedenen Subdimensionen wie dem selbstbezogenen Wissen zu Mathematik, Geschichte oder zu den eigenen Sprachfähigkeiten. Das nichtakademische Selbstkonzept bezieht sich auf die selbstbezogenen kognitiven Repräsentationen in sämtlichen anderen Lebensbereichen und Aspekte lässt sich in eine soziale, emotionale und physische Facette unterteilen, die weitere spezifische Subdimensionen enthalten. Unter dem sozialen Selbstkonzept werden die Einstellungen zusammengefasst, die Menschen über sich selbst in sozialen Kontexten und Interaktionen haben. Dazu gehören beispielsweise Vorstellungen über die soziale Eingebundenheit in eine Familie oder einen Freundeskreis oder die soziale Akzeptanz in einer Gruppe (z. B. «Ich bin bei meinen Freunden sehr beliebt»). Das emotionale Selbstkonzept beinhaltet die Einschätzungen hinsichtlich der eigenen Emotionalität bzw. der persönlichen emotionalen Zustände (z. B. «Ich habe kaum Angst»). Das physische Selbstkonzept fasst alle selbstbezogenen Informationen in Bezug auf den eigenen Körper zusammen (Conzelmann & Hänsel, 2008), konkret die Wahrnehmung und Bewertung der eigenen körperlichen Erscheinung sowie der eigenen sportlichen Kompetenzen (z. B. «Ich bin körperlich stark»). Die Förderung des nichtakademischen Selbstkonzepts gelingt besonders gut im Sportkontext, wo die motorische Entwicklung eng mit dem subjektiven Erleben des Selbst verknüpft ist: Im Sport stehen der eigene Körper und die körperliche Leistung im Zentrum. Zudem werden sportliche Handlungen oft in Gruppen oder Teams absolviert und beinhalten vielfältige soziale Interaktionen. Auch emotionale Erlebnisse sind zentraler Bestandteil des Sporttreibens (z. B. bei Sieg oder Niederlage, bei Herausforderungen und Wagnissen).

 

Abbildung 1: Exemplarische Darstellung eines mehrdimensionalen hierarchischen Selbstkonzeptmodells in Anlehnung an Shavelson et al. (1976, S. 413)

Das im Selbstkonzept3 abgebildete selbstbezogene Wissen über die eigenen Fähigkeiten, Eigenschaften und Gefühle basiert auf Informationen, welche ein Kind im Lauf seiner Entwicklung über sich selbst sammelt (Filipp, 1979): Die wachsende Zahl der in Person-Umwelt-Interaktionen gewonnenen Erfahrungen führen gemeinsam mit den verbesserten kognitiven Fähigkeiten zu einem immer ausdifferenzierteren Bild des eigenen Selbst. Die aufgenommenen Informationen ermöglichen damit differenzierteres Wissen über die eigene Person, was mit steigendem Alter mit der Herausbildung einer grösseren Anzahl von Selbstkonzeptfacetten einhergeht: Im Alter von 2 bis 4 Jahren kann sich ein Kind zunehmend beschreiben: «Ich bin ein Mädchen und habe braune Haare.» Diese Selbstbeschreibungen beziehen sich jedoch nur undifferenziert auf konkrete und beobachtbare Eigenschaften. In der frühen bis mittleren Kindheit von 5 bis 7 Jahren können bereits differenziertere Selbsteinschätzungen vorgenommen und eigene Fortschritte wahrgenommen werden, wozu auch der Eintritt in Kindergarten und Schule beiträgt. Die eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten werden jedoch tendenziell überschätzt (Harter, 2012). In der mittleren bis späten Kindheit zwischen 8 bis 10 Jahren nimmt die Relevanz sozialer Vergleichsinformationen zu. Mehrperspektivische Rückmeldungen aus verschiedenen Lebensbereichen können koordiniert und in das Gesamtbild integriert werden (Oerter, 2008). In der frühen Adoleszenz von 11 bis 13 Jahren können sich Kinder in verschiedenen Bereichen zunehmend realistisch einschätzen (Harter, 2012).

Der Selbstwahrnehmung liegen dabei unterschiedliche selbst- oder aussenweltbezogene Informationsquellen zugrunde, z. B. die Beobachtung des eigenen Verhaltens, das Feedback von anderen Personen oder der soziale Vergleich mit anderen Kindern (Filipp, 1979). Es lassen sich fünf Arten von Informationsquellen unterscheiden (sogenannte Prädikatenzuweisungen):

–Beobachtung des eigenen Verhaltens (reflexive Prädikatenzuweisung)

–Feedback anderer Personen (direkte Prädikatenzuweisung)

–Verhaltensbeobachtung anderer (indirekte Prädikatenzuweisung)

–Sozialer Vergleich mit anderen (komparative Prädikatenzuweisung)

–Nachdenken über zukünftiges Handeln (ideationale Prädikatenzuweisung)

Jede Form der Prädikatenzuweisung ermöglicht einem Kind vielfältige und unterschiedliche Informationen über die eigene Person, welche in ihrer Gesamtheit und ihrem Zusammenwirken das Selbstkonzept bilden (z. B. «Ich bin körperlich stark», «Ich kann nicht gut Fussball spielen, aber ich habe keine Angst, vom Sprungbrett zu springen», «Insgesamt bin ich mit mir zufrieden»).

Mit Bezug zum Fallbeispiel in Kapitel 1 stellt sich die Frage, welche Prädikate sich der Schüler Martin vermutlich zum Überklettern der Sprossenwand zuschreibt.4

Notizen


Globale Selbstkonzeptdimensionen (z. B. «Ich mache das meiste gut») verändern sich weniger rasch als spezifische Facetten (z. B. «Ich kann schwimmen.»), da die Stabilität des Selbstkonzepts mit steigender Hierarchiestufe zunimmt. Das bedingt, dass zur Veränderung übergreifender Dimensionen zahlreiche situationsspezifische, dem bisherigen Selbstkonzept entgegenwirkende Erfahrungen auf unterer Ebene notwendig sind (Shavelson et al., 1976). Die über die eigene Person gespeicherten sportspezifischen Prädikate dienen der Einschätzung der eigenen sportlichen Fähigkeiten und des eigenen Körpers und haben Einfluss auf die Bewertung der eigenen Person im Allgemeinen (z. B. Wagnsson, Lindwall & Gustafsson, 2014). Verschiedene Studien belegen, dass das Selbstkonzept von Kindern durch sportliche Aktivität und Bewegung positiv beeinflusst werden kann (vgl. Babic et al., 2014; für den Sportunterricht: Conzelmann et al., 2011). Schülerinnen und Schüler im Bewegungs- und Sportunterricht hinsichtlich eines positiven Selbstkonzepts zu fördern, ist jedoch erst die halbe Miete: Nebst einer positiven Tönung sollte das Selbstkonzept auch veridikal, d. h. realitätsangemessen, sein. Ein veridikales Selbstkonzept (vgl. Schmidt & Conzelmann, 2011) entspricht der von aussen beobachtbaren, sogenannt «objektiven» Realität. Die Einschätzungen eines Kindes bzw. sein Selbstkonzept, wie sportlich es beispielsweise ist, ob es gut Fussball spielen oder schwimmen kann, entsprechen dabei der von aussen bzw. von einer anderen Person wie z. B. der Lehrperson vorgenommenen Einschätzung. Kinder, welche sich besser einschätzen, als sie tatsächlich sind, überschätzen sich. Kinder, welche sich schlechter einschätzen, als sie tatsächlich sind, unterschätzen sich hingegen. Überschätzung und Unterschätzung sind für die weitere Entwicklung nicht förderlich: Schülerinnen und Schüler, die sich überschätzen, weisen beispielsweise ein erhöhtes Unfallrisiko oder eine verminderte soziale Akzeptanz auf. Schülerinnen und Schüler, die sich unterschätzen, wählen unpassende Aufgaben, was sich leistungs- und motivationshemmend auswirken kann (vgl. Schmidt & Conzelmann, 2011). Deshalb ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler lernen, sich realistisch einzuschätzen. Tatsächlich ist es im Bewegungs- und Sportunterricht möglich, die Veridikalität des sportbezogenen Selbstkonzepts von Kindern zu verbessern (z. B. Schmidt, Valkanover, Roebers & Conzelmann, 2013). Die Ausprägung eines positiv-realistischen Selbstkonzepts wird entsprechend im Lehrplan als zentrales Ziel beschrieben (vgl. S. 4 oder D-EDK, 2016, S. 6). Hinsichtlich des Selbstwertgefühls bzw. der evaluativen Komponente des Selbstkonzepts ist es allerdings immer sinnvoll, wenn Kinder mit sich selbst zufrieden sind, unabhängig von der objektiven Einschätzung von aussen («Es ist gut, dass ich sportlich bin», «Mir gefällt mein Körper»). Der Aspekt der Veridikalität des Selbstkonzepts wird im Folgenden anhand eines Fallbeispiels5 verdeutlicht:

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