Keinen Seufzer wert

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Keinen Seufzer wert
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Über dieses Buch

Auf dem Schafberg bei Signau im Emmental wohnt der Bauer Res Schlatter, ein frömmlerischer wie geiziger Betbruder. Seit er Vater und Schwestern vertrieben hat, haust er allein. Im Februar 1860 erkundigt sich ein entfernter Verwandter bei ihm, ob ein Logis zu vergeben wäre.

Es ist der Wyssler Jakob, ein arbeitsloser Schuhmacher und Taglöhner mit Frau und drei Kindern. Schlatter fasst Vertrauen und geht darauf ein.

Aber bald beginnen Schwierigkeiten. Der Mietzins ist überrissen. Wyssler hat die versprochenen Geissen nicht mit­gebracht. Schlatter überlässt ihnen nur schlechtes Ackerland. Dauernd argwöhnt er, bestohlen zu werden, da können die hungernden Wysslers ja gleich das eine oder andere nehmen, er hält sie sowieso für Diebe. Geredet wird kaum, und so steigen die Spannungen im Haus bis ins Unerträgliche. Es endet ein Jahr später in Totschlag und öffentlicher Hinrichtung vor Tausenden von Zuschauern.

«Keinen Seufzer wert» ist ein eindringlicher Roman über weltverachtenden Glauben, über Engherzigkeit und Selbstgerechtigkeit und nicht zuletzt über die ­Katastrophe der Sprachlosigkeit.


Foto Robert Beyer

Barbara Lutz, 1959 in Dornbirn geboren, studierte Ethnologie in Wien und Bern. Arbeitete und forschte auf verschiedenen Kontinenten, in der Entwicklungszu­sammenarbeit und im Migrations­bereich. Barbara Lutz lebt bei Bern. Im Limmat Verlag ist von ihr der ­Roman «Russische Freunde» ­lieferbar.

Barbara Lutz

Keinen Seufzer wert

Roman

Limmat Verlag

Zürich

1861

Jüngst wurden im Emmental vier Erzverbrecher hingerichtet, ihrer schändlichen Taten wegen. Die Scheusale sind enthauptet worden, eines nach dem anderen, und Schaulustige in grosser Zahl verfolgten mit Schaudern das Ende der verwirkten Menschenleben.

Mehr als einer war die ganze Nacht unterwegs, um zeitig bei der Todesstätte einzutreffen. Ein reicher Bauer aus Lützelflüh kam mit seinen Leuten, für fleissiges Arbeiten zu danken und eine Freude zu bereiten. Ein Lehrer, welcher seine Schüler brachte, fand sich bereits am Abend vorher ein. Die Menschen haben sich zu Tausenden versammelt. Der Zwirbelstand an der Hauptstrasse mag ihr Warten verkürzt haben, amtlich bewilligt war dieser aber nicht.

Frühmorgens bei den ersten Sonnenstrahlen trafen die Verbrecher ein, am Ende eines langen Zuges. Viel Militär, Infanterie wie auch Dragoner, dazu Gendarmen waren aufgeboten. Der Scharfrichter und der Landjäger kamen vorab auf Pferden und trafen als Erste ein, gefolgt vom Statthalter, hoch zu Ross. In einer Kutsche erschienen die Herren Amtsschreiber und Weibel. Die erbarmenswürdigen Sünder hingegen, gefesselt und mit Geistlichkeit zur Seite, liefen zu Fuss zu ihrer Richtstätte.

Der Scharfrichter vollstreckte das Urteil mit sicherem Arm und grossem Geschick. Vier Köpfe fielen in die bereitgestellten Körbe.

Mit Grauen vernahm ich vom Verderben dieser Menschenleben. Was, fühlender Mensch, mag geschehen sein? Gar gerne wünschte man zu wissen, wer diese Sünder waren und welche Frevel sie begingen! Mit welchen Taten verwirkten sie ihr Leben?

Vernehmen Sie hier, was vorgefallen ist! Denn aus eingeweihter Quelle werden für Sie der Schurken schändliche Vergehen aufgezeigt, ihre herzlos schlimmen Gräueltaten enthüllt, wahrhaftig und getreulich. Das beklagenswerte Ende hingegen wird mit angemessen Schonung und für zartfühlende Seelen schicklich dargestellt.

Lasst also hören, wie sich das Unheil zugetragen hat. Es soll uns warnendes Exempel und lehrreiche Mahnung sein!

Hornung 1860

«Seit gestern wieder kalt, es liegt viel Schnee.»

Schlatter Res wartet, während die engen, steilen Buchstaben trocknen, klappt dann das Notizbüchlein zusammen und räumt es in die Tischschublade. Das Vieh versorgt, Tenne und Stall verriegelt, die Haustür verschlossen. Es sind ihm dies die liebsten Stunden des Tages.

Wenn die Ruhe andauert. Wenn nicht draussen plötzlich Schritte zu vernehmen sind und flüsternde Stimmen, nächtlicher Besuch.

Schlatter Res horcht in die Stille.

Selbst wenn sie kommen, wird er sich heute zu nichts verleiten lassen. Er wird nicht das Fenster öffnen, um hinauszubrüllen, sie sollen verschwinden. Nicht einmal hinter der Türe stehen, um zu lauschen, was draussen vor sich geht. Auch wenn sie sich ums Haus herumtreiben. Nehmen können sie ihm nichts, es wäre denn vom Brunnenwasser.

Am besten ist es, wenn er sie nicht bemerkt. Res lärmt absichtlich laut, hackt Holzspriesse, schleift seine Holzbodenschuhe flach über den Küchenboden und scheppert mit der Milchpfanne. Im Stehen trinkt er etwas warme Milch und isst ein Brot dazu. Ins Haus werden sie sich niemals wagen.

Res nimmt Mutters Gebetsheft und die Öllampe und setzt sich damit auf den kalten Ofentritt. Seit draussen untertags die Frühlingssonne scheint, lässt er das Heizen bleiben. Er streckt sein böses Bein auf der Ofenbank aus und reibt die verknoteten Adern, die an seinen weissen, mageren Waden hervorquellen. Aber sein Reiben verstärkt das lästige Ziehen. Dass er auf die Fünfzig zugeht, spürt er an solchen Tagen. Die Hose ist feucht vom Schnee, und an den Rändern klebt Mist.

«Die ganze Welt ist keinen Seufzer wert», Res blättert in Mutters Heft mit den Gebeten, «aber vom Morgen bis am Abend ist die Gnade da, mit jedem Morgen neu, und das Liebeserbarmen in Christo.» Wer den Herrn im Herzen trägt und danach lebt, ist den Menschen zuwider. Res weiss, auch anderen aus der Versammlung passen sie am Heimweg ab, bei ihm aber kommen die Vaganten bis zum Haus, seit er alleine wohnt. Seine Schwestern behaupten freilich, sie seien nur in seinem Kopf. Wohl, aber als er vor ein paar Wochen das Läufterli geöffnet und in die Nacht hinaus­gehorcht hat, kam ein Drecksklumpen geflogen. Res fürchtet sich vor jungen Burschen, Taglöhnern und durchziehenden Knechten.

«Kehre dich jetzt nur immer einwärts ins Herz zum Heiland, dort bekommst du alles, was du nötig hast.» Eine grosse Sehnsucht ergreift Res. Er kann den künftigen Glanz um sich fühlen und die Wärme spüren. Er wird Geborgenheit finden, denn sein Leben ist darauf ausgerichtet, dem Herrn zu gefallen.

Res klappt das Heft zu und geht über die Laube nach hinten in den Stall, um Wasser zu lassen. Während er seinen Strahl in den Schorgraben richtet, erhebt sich eine der beiden Kühe schwerfällig und sieht ihm dabei zu. Die Mütze in den Händen, betet Res daraufhin noch um das Wohl der Tiere und segnet sie. Schliesslich überprüft er ein letztes Mal Riegel und Schlösser, bevor er, zurück in der Stube, auf den Ofen steigt. Durch das Bodenloch zieht er sich hinauf in den Gaden, wo er schläft. Res taucht gerade seinen Kopf durch das Loch, als er im flackernden Licht der Öllampe eine Gestalt erblickt. Lang ausgestreckt liegt einer auf seinem Bett.

Res blinzelt, und die Gestalt ist weg. Immer wieder passiert ihm das, im Gaden, im Tenn oder im Stall, und er weiss nicht, ob es seine Augen sind.

Die ungewaschenen Laken, in die Res steigt, nachdem er die immer noch feuchte Stallhose, nicht aber das Hemd, ausgezogen hat, sind leer und kalt.

Den nächsten Tag verbringt Schlatter Res im Keller, vor sich einen klafterhohen Berg staubiger Kartoffeln. Er sitzt auf dem Melkschemel und nimmt die Knollen einzeln in die Hand, um Triebe wegzubrechen. Dass die jetzt keimen müssen, viel zu früh, der warme Jänner wird schuld sein. Das Licht aus der russigen Öllampe reicht kaum aus, um zu sehen, was er macht. Aber die Kellertür will er nicht offen halten, es gefrieren ihm sonst die Zwiebeln. Der Kartoffelhaufen ist heuer grösser als in manchem Jahr. Auch Äpfel sind noch viele, die bleiben aber nicht mehr lange gut.

Das Alleinsein macht Res nichts aus. Am liebsten sind ihm die Tage, an denen sich keiner zeigt. Nicht einmal den Nachbarn ist zu trauen, kaum kehrt er ihnen den Rücken, treiben sie sich auf seinem Land herum. Nachts laufen sie in den Obstgarten, um Äpfel und Birnen zu stehlen. Es nützt nichts, ihnen hinterher zu fluchen und zu drohen. Sie lachen ihm geradewegs ins Gesicht und behaupten, sie seien auf der Suche nach einem verirrten Kalb, wenn er sie hinterm Haus erwischt, wo sie Eier stehlen oder ein Huhn. Und wer weiss, wird eines Tages einer grob und tut ihm etwas an.

Trotzdem muss er sich in Kürze nach Gehausleuten umsehen, die ihm beim Zinsen helfen. Eine Verwandte aus Ursenbach hat fragen lassen, ob Platz wäre, und es sollte sich bald einer zeigen von deren Leuten.

Um die Mittagszeit tritt Res hinters Haus und blickt den Hang hinauf zum Wald, von wo er Stimmen hört. Am Horizont, zur Multenweid hin, sieht er eine fremde Gestalt über die Wiesen gehen. Die Fussstapfen auf dem Weg vom Graben zum Haus sind aber bloss seine eigenen. Hinter dem Stall haben die Schafe den Schnee zertreten und bräunlich gefärbt. Noch immer liegt Schnee und ist die Erde nass. Wenn sich jetzt aber bald einmal die Sonne durchsetzt, muss alle Arbeit auf einmal getan werden. Res geht in die Küche, wo er von der Milch und vom Mus nimmt und sich damit in seine Stube setzt.

Der Weg von Steinen hinauf zum Schafberg ist beschwerlich, die Strasse schlickig und steil. Wyssler Jakob ist seit gestern unterwegs, den Weg von Ursenbach hierher hat er zu Fuss gemacht. Nun keucht er am steilen Hang. Je näher er dem Schafberg kommt, umso ungeduldiger wird er. Jakob sucht ein Logis für sich und seine Familie. Bei Schlatter Res, der alleine auf dem Schafberg wohnt, sei Platz vorhanden.

Merkwürdig nur, denkt Jakob, während er zügig bergan steigt, dass seine Frau den Schlatter Res erst jetzt erwähnt hat. Ein Verwandter, der allein einen Hof bewirtschaftet und Mietsleute sucht. Als ob sie in den vergangenen Jahren, Hungerjahre allesamt, nicht auch schon froh gewesen wären um ein günstiges Logis.

 

Jakob denkt auch an die Stille gestern Abend in der Stube von Schlatter Res’ Schwestern, als er sich nach deren Bruder erkundigt hat. Die drei alten Jungfern wohnen mit ihrem greisen Vater in Signau, und Jakob hat bei ihnen übernachtet. Es heisst, der Schlatter Res habe sie mitsamt dem eigenen Vater aus dem Haus gejagt und nach Signau in Miete getrieben. Davon war gestern Abend aber nicht die Rede, als er mit den Frauen in ihrer engen Stube sass. Man sprach über die Verwandtschaft im Allgemeinen. Dann hat sich Jakob nach dem Weg auf den Schafberg erkundigt und gefragt, was ihn dort erwarte. Daraufhin die Stille. Die Schwestern blieben zum Bruder wortkarg, bis auf Maria, die ihn zänkisch nannte. Als sie das sagte, beobachtete sie Jakob aus den Augenwinkeln.

Ob zänkisch oder nicht, Jakob braucht eine Wohnung für seine Familie und Arbeit für sich selbst.

Auf dem erdigen Weg voller Pfützen rächt sich die ungeflickte Naht an seinen Schuhen. Wasser dringt ein und nässt die Socken. Obschon der Vormittag weit fortgeschritten ist, sieht Jakob in der Düsterkeit des Waldes kaum bis zur nächsten Wegkehre. Trübe ziehen sich die Bäume über ihm zusammen und es tropft ihm auf Kopf und Kragen. Als er hochsieht, fliegt eine Schar Krähen auf. Er muss den Schlatter dazu bringen, ihm die Wohnung zu geben. Während Jakob sich den steilen Weg hin­aufmüht, beschleicht ihn Furcht, mit dem alten Mann nicht handelseinig zu werden. Das unsichere Gefühl in seinem Magen kommt aber bestimmt auch vom Hunger.

Jakob erreicht die Höhe und gelangt endlich auf freies Gelände. Hier oben, nur wenige Schritte hinter dem Altschloss, weitet sich der Blick. Jakob bleibt stehen und besieht sich die Gegend, Hügel, Schwenden und bewaldete Kuppen, Bauernhöfe mit rauchenden Kaminen. Jemand schlägt Holz. Der Tag ist kühl und wolkenverhangen, aber die Weiden am Wegrand tragen erste Kätzchen. Jakob geht die Bergkuppe entlang weiter, bis er unter sich im steilen Gelände den Schafberg erblickt. Umgeben von Wald drückt sich der Hof an einen abschüssigen Hang. Jakob sieht Weideland, Pflanzungen, Obstbäume. Hier also wohnt Schlatter Res, allein im Bauernhaus, das eine Familie samt Magd und Knecht aufnehmen könnte. Er hat recht getan, hierher zu kommen. Gottlob hat die Frau vom Schafberg gesprochen. Als er über die Wiesen zum Haus hinuntersteigt, drückt eine blasse Sonne durch die Wolken. Es wird sich zum Guten wenden.

Rund ums Haus ist alles still, und schüchtern klopft Jakob an die Haustür. Nichts regt sich. Während er nochmals klopft, ruft er laut, ob einer da sei. Schliesslich öffnet er die Tür um einen Spalt, die Küche ist leer.

«Jemand zu Hause?», fragt er in die Stille.

Von der anderen Hausseite her ist ein leises Geräusch zu vernehmen, ein Kratzen aus der hinteren Stube. Laut grüssend betritt Jakob die Küche und bleibt stehen. Als keiner kommt, geht er vorsichtig weiter und streckt schliesslich den Kopf in die Stube.

Ein alter Mann sitzt dort im Dämmerlicht. Miss­trauisch starrt er Jakob entgegen, während er ungerührt etwas aus einer Schüssel löffelt. Jakob grüsst und bleibt im Türrahmen stehen.

Schlatter sagt nichts, er isst weiter. Jakob betritt die Stube und lehnt sich an den Rand der Ofenbank.

«Es ist wegem Logis?», fragt Schlatter schliesslich in die Stille.

Jakob bejaht. Als nichts mehr folgt, setzt er sich auf den Ofen, die Kutte auf den Knien.

«Von Verena der Mann? Von Hirschis Verena?»

«Genau der. Wyssler Jakob.»

Schlatter schiebt sich einen kleinen, halbgefüllten Löffel Mus in den Mund und saugt dem leeren Löffel hinterher wie ein Kalb an Zitzen. So kann es dauern, bis die Schüssel leer ist. Jakob legt die Kutte neben sich und zieht sich die schlammverspritzten Schuhe aus. Er stellt sie unter die Ofenbank und drückt die Füsse in ihren nassen Socken gegen den warmen Stein. Schlatter mustert ihn und beobachtet jede seiner Bewegungen.

«Schuhmacher, der Beruf?», fragt Schlatter. Jakob bejaht und schiebt den löchrigen Schuh mit dem Fuss noch etwas nach weiter hinten, unter den Ofen.

«Seid ihr zahlreich?», will Schlatter nun wissen.

«Ich und die Frau, dann deren Tochter aus erster Ehe und unsere eigenen zwei Kinder.»

Darauf sagt Schlatter nichts. Er trinkt von der Milch und kratzt endlich die Musschüssel leer. Schliesslich steht er auf.

«Eine Stube, ein Gaden und ein Anteil Küche sind zu haben», sagt er knapp und bedeutet Jakob, ihm zu folgen.

Die Küche, finster und verrusst, geht quer durch das ganze Haus. Von ihr aus gelangt man in die beiden Stuben, in die leer stehende und in Schlatters eigene. Die zu vermietende Stube liegt auf der Morgenseite und somit näher beim Hauseingang. Jakob schaut sich den leeren Raum an, er ist düster und niedrig, aber recht geräumig. Der grosse Trittofen aus Sandstein wird vom Küchenherd aus beheizt, man wird von der Kochwärme etwas abbekommen, ohne selbst feuern zu müssen.

Zurück in der Küche schielt Jakob nach den Gerätschaften. Verschiedene Sägen, ein Beil und eine Axt, Sicheln, Gertel und mehrere Messer sind an den Wänden aufgehängt. Ein Holzkübel, Kochtöpfe und Kessel auf dem Herd, alles ist vorhanden, wenn auch schmutzig und alt.

Auf Schlatters Seite führt eine Tür von der Küche hinaus auf eine Laube und zur Treppe zum oberen Stock. Ein Schleifstein lehnt dort an der Wand.

Schlatter steigt mit Wyssler zu den Gaden hinauf. Im Gaden, der zur Miete steht, befindet sich ein Bett.

Respekt und Ehre für Wysslers beklagenswerte Lage und Schlatter Reslis sonderbares Los! Doch wünschte man die Schandtat zu kennen, welche der Scharfrichter jüngst mit kaltem Eisen sühnte.Es ist, Gott sei’s geklagt, auf dem Schafberg nämlich ein Leichnam entdeckt worden, ein Jahr nur nach Jakobs erstem Gang dorthin.

Am Freitag, den 15. Hornung letzthin, lag auf dem Schafberg ein Toter im Tenn und zwar unter dem Reiteloch, durch welches er gefallen schien. Namentlich am Kopfe stark verblutet, war er mit geflickter, halbleinener Hose, mit wollenen Stümpfen und einem zwilchenen Rock bekleidet, das Gilet und ein zerrissenes, beschmutztes altes Hemd oben auf der Brust in Blut getränkt. Der Tote trug keine Schuhe, doch lagen Holzbodenfinken neben ihm.

Am selbigen Abend noch wurde Gemeinderat Röthlisberger gerufen, den Tatort zu versiegeln, und umgehend erstattete Landjäger Ambühl Anzeige beim Regierungsstatthalteramt in Langnau. Weil die Sache dringend schien, wurde sogleich ein Augenschein vorgenommen, will heissen, am Sonntag nach der Tat. Die Herren Notar Lanz von Langnau, stellvertretender Amtsrichter, und Johannes Lüthi, Aktuar, verfügten sich hierfür auf den Schafberg. Aufgeboten wurden zudem die Doktoren Stettler und Hodel, Arzt und Wundarzt in Langnau und mithin sachverständig, den Toten zu untersuchen.

Es sind somit hervorragende Herren mit der Aufklärung des Sachverhalts betraut: War es ein Unglück? Machwerk von Menschen? Mord?

«Und von was wollt ihr leben?»

Schlatter steht auf der Laube und überragt den Wyssler um einen Kopf. Er sieht hager und verbraucht aus, aber auch zäh. Wyssler Jakob, um fast zehn Jahre jünger, wirkt klein und gedrungen neben ihm. Er fühlt sich müde, er hat heute noch nichts gegessen. Jakob starrt den steilen Hang mit den vom Vieh ausgetretenen Pfaden hinab und studiert an einer Antwort herum. Unten am Waldrand stiehlt sich ein Fuchs aus dem Gestrüpp. Die Sonne hat sich durchgesetzt, die Schneefelder und das feuchte Gras glitzern. Schliesslich wiederholt Jakob, er sei Schuhmacher.

Der Fuchs hat sich vom Gestrüpp auf die Wiese hinausgewagt und läuft vorsichtig geduckt über ein Schneefeld. Weiter hinten drängen sich die Schafe gegen den Stall.

«Zwei Geissen würde ich mitbringen», fährt Jakob fort, weil Schlatter schweigt, «so haben wir eigene Milch. Kräftige und junge Geissen, der Kauf ist schon so gut wie ausgehandelt. Heute ist die Geissmilch weit herum begehrt. Die Leute verlangen überall danach, sogar die Ärzte loben sie. Was wir im Haus nicht brauchen, wird verkauft.»

Schlatter starrt ihn aus reglosen Augen an und rührt sich nicht. Je unwohler Jakob sich unter dem strengen Blick fühlt, desto mehr redet er. Noch einmal schwärmt er von den Geissen, die jung und rüstig seien und die er trächtig auf den Schafberg bringen will. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtet er den Schlatter. Von den Geissen scheint dieser angetan, auch wenn er es nicht zu erkennen gibt.

«Man muss schauen, ob das nicht mehr einträgt als die Schafe», wirbt Jakob weiter. «Zwei Geissen zu Beginn, vielleicht auch drei. Wer weiss, vielleicht willst auch du später Geissen. Ein Gitzi von den unseren kann ich dir überlassen im nächsten Frühling.»

Als er geendet hat und von Schlatter nichts kommt, wendet Jakob sich ab. Die Unterarme auf die Holzbrüstung gestützt, blickt er den Hang hinunter und wartet. Ihm scheint, dass Schlatters Augen vorhin etwas zu glänzen begonnen haben.

«Futter und einen Platz im Stall für eine oder zwei Geissen, das könnte man in einen Akkord schon hineinnehmen», meint Schlatter nach einer Weile. «Aber von zwei Ziegen hat noch nie eine Familie gelebt. Wie kann ich da wissen, ob du später zinst?»

Jakob fängt noch einmal an, nun etwas ruhiger. Von seiner Arbeit als Schuhmacher, von der Frau, die gut nähen kann und manchmal Flachs annimmt. Er selber sei bei den Bauern gefragt als Taglöhner, auch hier in der Gegend werde es das eine oder andere Mal an kräftigen Händen mangeln.

Was er wirklich möchte, denkt Jakob, während er spricht, wäre Arbeit bei der Eisenbahn unten im Tal. Oder sonst in Steinen oder in Signau, überall werden Felder trockengelegt und Bäche reguliert. Denn das Taglöhnern bei arroganten Bauern und zuunterst am Tisch eine schlechte Suppe Essen kennt er nur zu gut. Seine ganze Kindheit hindurch ist er verdingt gewesen. Hingegen wenn Res selber Hilfe benötigte hier im Haus, das wäre etwas anderes. Jakob blickt der Laube entlang zum Stall und findet, dass allein doch kein Wirtschaften sein kann auf diesem Hof. Aber vorläufig sagt er lieber nichts. Er weiss nicht, wie Res über die Sache denkt.

Schlatters wässrige Augen sind abwartend auf ihn gerichtet geblieben. Deshalb spricht Jakob schliesslich vom Bruder der Frau, den sie als Bürgen stellen können. Endlich nickt Schlatter zustimmend.

«Wir können schauen, ob wir einig werden.»

Sie gehen zurück ins Haus und in Schlatters Stube, wo Jakob ein Stuhl am Tisch angeboten wird. Vorsichtig nimmt er auf der Kante Platz und faltet seine Hände sittsam auf den Knien. So einer wie Res, der einem lächerlich scheint mit seinem finsteren Gehabe und hölzernen Getue, will ernst genommen werden. Man denkt, der merkt nicht viel, schwerfällig, wie er tut. Gerade so einer ist aber vielleicht empfindlich.

Wenn Wyssler einen Anteil Stall und Heu für die Geissen brauche, so wäre das schon zu richten, sagt Schlatter nun. Er könnte einen Platz im Stall freimachen und auf der Heubühne finde sich ein Winkel für einen Einschlag Heu. Von sich aus kommt Schlatter auf Obstbäume zu sprechen. Acht Apfel- und drei Birnbäume stehen in der Hostet. Man könne ein paar Bäume in den Akkord aufnehmen, wenn Wyssler das wünsche. Für 25 Franken wolle er ihm alles überlassen, und zwar Stube, Gaden, Anteil Küche, Pflanzland, Anteil Stall und Bühne.

Die Sache scheint gewonnen, auch wenn der Mietzins unverschämt ist. Jakob sagt, der Handel sei ihm so recht.

Es ist ein ganz anderes Gehen den Berg hinab, und dass die Füsse dabei nass werden, kümmert Jakob nicht. Erleichtert und zufrieden zieht er aus und springt geschickt von Stein zu Stein. Er weiss, an den meisten Orten, wo er hinkommt, mag man ihn. Und manchmal kann er recht gut reden wie eben vorhin mit dem Schlatter, der bestimmt nicht einfach zu gewinnen ist. Der Schlatter hat nicht nur einen Akkord versprochen, sondern auch gemeint, er könnte beim Kauf der Geissen helfen. Der Vorschlag von den Geissen hat ihm gefallen. Dreissig Franken, überlegt Jakob, bräuchte er für zwei Geissen, aber auch die Übersiedelung wird kosten. Er wird den Schlatter um fünfundvierzig Franken bitten. Dazu braucht er Res’ Vertrauen, der Bürge im Rücken wird helfen, trotzdem muss er sich bei ihm anstellig machen. Zu lügen braucht er nicht, er ist kein fauler Mensch und auch kein Taugenichts. Gleichwohl, in Ursenbach gäbe ihm keiner das Geld, man weiss dort viel zu gut, er ist ein armer Schlucker.

 

Mit Res wird auszukommen sein, man muss nur wissen, wie ihn nehmen. Guter Dinge macht Jakob nochmals bei Schlatters Schwestern halt, nur um zu melden, Resli sei wohlauf. Auch wenn sie Jakob, als er in ihrer Stube steht, etwas skeptisch mustern, die alten Frauen freuen sich gewiss, dass einer sie besucht.

Hat Jakob also Aussicht auf anständiges Logis im Hause eines Vetters, bei dem vorhanden ist, was es zum Leben braucht? Welch günstiger Beginn, doch sei der Tote nicht vergessen, der auf dem Schafberg lag, nur kurze Zeit danach.

Von Amtes wegen untersuchte Richter Ingold das Geschehen, bestrebt zu klären, was auf dem Schafberg vorgefallen war. Sorgfältig wurden die Örtlichkeiten nach Spuren abgesucht, Aufklärung zum Toten fand man nicht. Es wurde deshalb, wer zu der Sache Auskunft geben konnte, nach Langnau einbestellt und daselbst einvernommen. Auch zeigte manch einer von sich aus an, was er zum Schafberg wusste – oder zu wissen glaubte, und war es nur vom Hörensagen.

Des Weiteren vernahm Landjäger Ambühl, oftmals in amtlichen Geschäften unterwegs, auf seinen Gängen etliches Gerede. Was an Gerüchten zu ihm drang und was bekannt war zu den Leuten, hinterbrachte er alsdann dem Richter.

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