Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter

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Christian Klicpera, Barbara Gasteiger-Klicpera, Edvina Bešić

Psychische Störungen

im Kindes- und Jugendalter

2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage

Christian Klicpera (1947–2012)

Ao. Prof. Dr. med. Dr. phil., Psychiater und Klinischer Psychologe; lehrte u. a. an den Universitäten Wien und Graz.

Barbara Gasteiger-Klicpera

Prof. Dr. phil., Klinische Psychologin, Verhaltenstherapeutin und Supervisorin; lehrt an der Universität Graz.

Edvina Bešić

Mag. rer. nat. Ph. D., Psychologin und Pädagogin, Post-Doc an der Universität Graz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung des Autors oder des Verlages ist ausgeschlossen.

2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage 2019

Copyright © 2019 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas, Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der

Übersetzung, sind vorbehalten.

Umschlagbild: © istockphoto.com/mikdam

Satz: Wandl Multimedia-Agentur

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

ISBN 978-3-8252-5152-9

UTB-Nummer: 2934

Vorwort zur 2. Auflage

Seit der ersten Auflage dieses Buches sind nun zehn Jahre vergangen. In diesen zehn Jahren wurde nicht nur ein aktualisiertes Klassifikationssystem eingeführt, das DSM-5, es hat sich auch eine Reihe an neuen Erkenntnissen und Befunden im Bereich der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie ergeben. Auf der einen Seite wurde durch die Überarbeitung der Klassifikation eine schärfere und klarere Abgrenzung psychischer Schwierigkeiten vorgenommen und auf der anderen Seite fanden aktuelle Störungsbilder Berücksichtigung. Zudem wurde in den letzten Jahren weltweit die Forschung zu Möglichkeiten der Prävention und Intervention verstärkt und erweitert. Die medikamentöse Behandlung psychischer Störungen wird infolge der stärkeren Betonung evidenzbasierter Medizin heute wesentlich kritischer beurteilt und andererseits werden die Möglichkeiten von Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen viel positiver gesehen. In diesem Bereich haben sich so viele Weiterentwicklungen ergeben, dass wir heute bei vielen klinischen Störungen von einer deutlich positiveren Aussicht in Bezug auf die Wirksamkeit von Psychotherapie ausgehen können. Es hat sich die Annahme bestätigt, dass Kinder und Jugendliche durch eine qualitativ hochwertige Psychotherapie in vielerlei Hinsicht unterstützt und positive Entwicklungen gefördert werden können.

Aus diesen Gründen erschien es erforderlich, dass dieses Buch überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht wird. Allerdings konnten wir die Überarbeitung nicht mehr im selben Team vornehmen. Erstautor Christian Klicpera ist kurz nach dem Erscheinen der ersten Auflage erkrankt und im Jahr 2012 verstorben. Gerade weil für ihn die Sorge um das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen stets im Mittelpunkt seiner Forschung und seiner Bemühungen stand, musste dieses Buch überarbeitet und aktualisiert werden. Möglich wurde dies, weil zusätzlich Edvina Bešić in der Überarbeitung dieses Buches ihre Expertise einbrachte.

Unser Dank gilt den beiden Lektorinnen des Facultas-Verlags, deren professionelle Begleitung der Qualität dieses Buches sehr zugute gekommen ist und deren unterstützende Betreuung die rasche Umsetzung für unsere Studierenden ermöglichte.

Wir wünschen dem Buch nicht nur, dass es viele interessierte Leserinnen und Leser findet, sondern dass es auch dazu beiträgt, dass psychische Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen insgesamt besser verstanden und Rahmenbedingungen und Unterstützungsformen geschaffen werden, die ihnen ein sicheres und glückliches Aufwachsen ermöglichen.

Barbara Gasteiger-Klicpera Edvina Bešić

Graz, im Herbst 2018

Vorwort

Lehre und Forschung der Klinischen Psychologie haben sich in den letzten Jahrzehnten in eine Klinische Psychologie des Erwachsenenalters und eine des Kindes- und Jugendalters differenziert. Dafür sind vor allem zwei Gründe verantwortlich: Psychische Schwierigkeiten zeigen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter besondere altersspezifische Ausprägungen. Qualitative Unterschiede in den Störungsbildern spiegeln die jeweilige Entwicklungsstufe wider, sogar dann, wenn es sich um die gleichen Störungen handelt. Eine altersspezifische Färbung ist beispielsweise bei Depressionen zu beobachten, da sich diese im Kindesalter ganz anders äußern als im Erwachsenenalter. Außerdem gibt es spezifische Störungen, die im Kindesalter auftreten und im Erwachsenenalter deutlich weniger Relevanz besitzen, z. B. die Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen. Diese Aspekte sollen durch das Lesen dieses Buchs verdeutlicht werden.

Das vorliegende Werk richtet sich in erster Linie an Klinische Psychologen, ist aber auch für Studierende der Erziehungswissenschaft und vor allem für Lehramtsstudierende von hoher Relevanz.

In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dass die Schule und die Lehrer häufig die Aufgabe der Primär- und Sekundärprävention von Verhaltensschwierigkeiten und emotionalen Problemen übernehmen müssen und dabei (neben den Ärzten) auch als erste Anlaufstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche eine wichtige Rolle spielen. Außerdem ist es notwendig, in der Gestaltung des Unterrichts auf die besonderen Probleme der Kinder Rücksicht zu nehmen und den Unterricht so zu strukturieren, dass sich sowohl hyperaktive als auch ängstliche und zurückgezogene Kinder wohlfühlen und in ihren Lernprozessen unterstützt werden. Für diese Aufgabe benötigen Lehrer und Pädagogen ein spezielles Fachwissen, das ihnen in ihrer Ausbildung vermittelt werden sollte.

In dem nun vorliegenden Buch konnten nicht alle Störungsbilder der Klinischen Psychologie des Kindes- und Jugendalters dargestellt werden. Es wird also noch erforderlich sein, manche Störungsbilder oder auch allgemeinere Beiträge zur klinischen Entwicklungspsychologie zu ergänzen. Es war nötig zu entscheiden, welche Inhalte sowohl für Lehrer und Pädagogen als auch für Psychologen relevant sein könnten. Rückmeldungen zum Buch sind willkommen (am besten per E-Mail an gasteiger@weingarten.de).

Wir hoffen, dass dieses Buch viele interessierte Leser findet und hilfreiche Anregungen bietet, um Kinder mit besonderen Schwierigkeiten besser verstehen und sie damit auch besser unterstützen zu können.

Christian Klicpera Barbara Gasteiger-Klicpera

Wien und Weingarten, September 2007

1 Inhaltsverzeichnis

2  Vorwort zur 2. Auflage

3  Vorwort

1 Klassifikation psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter

5  1.1 Grundprinzipien bei der Identifizierung charakteristischer Formen von psychischen Störungen

6  1.2 Neuere Geschichte der Klassifikation psychischer Störungen

7  1.3 Gefahren der Klassifikation

2 Angststörungen

9  2.1 Die Rolle von Furcht und Angst in der Entwicklung von Kindern

10  2.2 Bedingungsgefüge bei Angststörungen

11  2.3 Allgemeines zur Behandlung und Prävention

12  2.4 Einteilung der Angststörungen

13  2.5 Trennungsangst

14  2.6 Generalisierte Angststörung bzw. übermäßige Ängstlichkeit und Besorgtheit bei Kindern

15  2.7 Panikstörung

 

16  2.8 Sozialphobie

17  2.9 Spezifische Phobien

18  2.10 Prävention

19  2.11 Therapie

20  3 Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

21  3.1 Diagnostische Kriterien

22  3.2 Symptomatik

23  3.3 Epidemiologie

24  3.4 Untergruppen

25  3.5 Komorbidität und Differenzialdiagnose

26  3.6 Verlauf

27  3.7 Ursachen

28  3.8 Behandlung und Prognose

29  4 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

30  4.1 Diagnostische Kriterien der PTBS (nach DSM-5)

31  4.2 Symptome der PTBS bei Kindern unter sechs Jahren

32  4.3 Häufigkeit

33  4.4 Verlauf

34  4.5 Komorbidität

35  4.6 Diagnostik

36  4.7 Behandlung

37  5 Depressive Störungen

38  5.1 Symptome der Depression bei Kindern und Jugendlichen

39  5.2 Klassifikation

40  5.3 Diagnostik und diagnostische Instrumente

41  5.4 Häufigkeit, Risikofaktoren

42  5.5 Komorbidität

43  5.6 Verlauf

44  5.7 Ursachen der Depression

45  5.8 Therapie der Depression

46  6 Suizide und Suizidversuche

47  6.1 Definition und Klassifikation

48  6.2 Epidemiologie

49  6.3 Klinisch-psychologische Störungen bei Suizid und Suizidversuchen

50  6.4 Ursachen

51  6.5 Prognose und Verlauf

52  6.6 Prävention

53  6.7 Therapie

54  7 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

55  7.1 Diagnostische Kriterien und Klassifikation

56  7.2 Prävalenz

57  7.3 Komorbidität

58  7.4 Symptomatik

59  7.5 Soziale Anpassungsschwierigkeiten hyperaktiver Kinder

60  7.6 Verlauf der Hyperaktivität

61  7.7 Die Frage nach den zugrunde liegenden Mechanismen

62  7.8 Ursachen der Hyperaktivität

63  7.9 Interventionen

64  8 Störungen des Sozialverhaltens (dissoziale Störungen)

65  8.1 Definition

66  8.2 Diagnostik

67  8.3 Häufigkeit

68  8.4 Verlauf

69  8.5 Erklärungsansätze

70  8.6 Prävention und Intervention

71  9 Alkoholkonsumstörung

72  9.1 Definition

73  9.2 Epidemiologie

74  9.3 Klinisches Bild

75  9.4 Ätiologie und Genese

76  9.5 Untergruppen

77  9.6 Prävention

78  9.7 Verlauf und Prognose

79  9.8 Therapie

80  10 Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen

81  10.1 Definition

82  10.2 Auswirkungen des Drogengebrauchs: die häufigsten Substanzen

83  10.3 Prävalenz

84  10.4 Verlauf

85  10.5 Komorbidität

86  10.6 Ursachen

87  10.7 Therapie

88  11 Essstörungen im Kleinkindalter

89  11.1 Häufigkeit von Ernährungsstörungen

90  11.2 Behandlung

91  11.3 Nichtorganische Gedeihstörung (NOFTT/„Non-Organic Failure to Thrive“)

92  12 Essstörungen im Jugendalter

93  12.1 Anorexia nervosa

94  12.2 Bulimia nervosa

95  12.3 Binge-Eating-Störung (BES)

96  13 Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexueller Missbrauch

97  13.1 Definition

98  13.2 Epidemiologie

99  13.3 Kindesvernachlässigung

100  13.4 Körperliche Misshandlung

101  13.5 Sexueller Missbrauch

102  Fragenkatalog

103  Stichwortverzeichnis

1 Klassifikation psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter

In der Klinischen Psychologie ist in den letzten Jahrzehnten eine besondere Wertschätzung für die Klassifikation psychischer Störungen festzustellen. Dies gilt mindestens so sehr für die Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters wie für jene des Erwachsenenalters und wird darauf zurückgeführt, dass eine angemessene Klassifikation eine systematische Sammlung von Erfahrungen

– über die Genese von Störungen,

– über den Verlauf von Störungen,

– über Einflussfaktoren auf den Verlauf sowie

– über den Erfolg von therapeutischen Interventionen bei bestimmten Störungen

ermöglicht. Zudem wurde deutlich, dass die allgemeine Verbreitung eines einheitlichen Klassifikationssystems die Kommunikation wesentlich erleichtert, weil dadurch in komprimierter Form wichtige Informationen über die Art der Schwierigkeiten mitgeteilt werden können. Dies kommt nicht nur der wissenschaftlichen Kommunikation zugute, sondern verbessert auch Zuweisungsentscheidungen innerhalb des psychosozialen Versorgungsnetzes und spezifische Indikationsstellungen für Therapien. Somit können gesundheitspolitische Maßnahmen auf eine bessere Grundlage gestellt werden, indem etwa die Häufigkeit bestimmter psychischer Störungen besser untersucht und aufgrund der erworbenen Zahlen eine Bedarfsplanung für die psychosoziale Versorgung der Bevölkerung möglich wird. Schließlich wird daran die Hoffnung geknüpft, dass die Trennung der Klinischen Psychologie in verschiedene Schulen durch die vorrangige Orientierung an einzelnen Störungsbildern auf eine klare empirische Grundlage gestellt und damit zugunsten effektiver störungsspezifischer Interventionen überwunden werden kann.

1.1 Grundprinzipien bei der Identifizierung charakteristischer Formen von psychischen Störungen

Gegenüber der Auffassung, dass es lediglich eine ungeheure Mannigfaltigkeit psychischer Probleme gibt, dominierte bereits vor fünfzig Jahren die Überzeugung – wie Jaspers (1965) in seinem auch heute noch lesenswerten Überblick über die Geschichte der psychiatrischen Krankheitslehre feststellt –, dass es in der Psychiatrie – ähnlich wie in anderen Bereichen der Medizin – natürliche Krankheitseinheiten geben müsse. Dieser Auffassung folgend, wurden verschiedene Zugänge entwickelt, um verschiedene Formen psychischer Störungen zu definieren und voneinander abzugrenzen.

Eine erste Möglichkeit, die besondere Eigenart psychischer Probleme zu kennzeichnen, liegt darin, die im Vordergrund stehenden Beschwerden als Ausgangspunkt der Abgrenzung heranzuziehen. Im Laufe der Entwicklung haben fast alle psychopathologischen Symptome als Krankheitseinheiten fungiert: Halluzinationen, Wahn, die Inhalte mancher Handlungen (z. B. Pyromanie, Kleptomanie). Auch wenn die Definition psychischer Probleme über ein im Vordergrund stehendes Symptom heute eher als unzureichend betrachtet wird, so gibt es in den gegenwärtigen Klassifikationssystemen doch weiterhin eine Reihe an Störungen, bei denen dies der Fall ist (etwa das Einnässen und Einkoten).

 

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, aus Symptomverkoppelungen die Einheit eines „Symptomenkomplexes“ – ein Begriff, den bereits Jaspers (1965) zur Kennzeichnung dieser Form von Einheitsbildung eingeführt hat – zu konstruieren. Ausgangspunkt ist in diesem Fall entweder die Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens, also die Identifizierung eines Musters, das auch mit statistischen Methoden nachvollziehbar sein müsste, oder die Bildung einer Einheit, die durch das Zusammenwirken mehrerer Gesichtspunkte zustande kommt, sich aber trotzdem – um mit Jaspers (1965) zu sprechen – durch die anschauliche Erfahrung gleichsam aufzwingt. Hierbei sollte ein innerer Zusammenhang zwischen den Symptomen bestimmend sein, indem diese gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen oder ein erklärbarer Zusammenhang zwischen ihnen besteht. Dieses Vorgehen erfordert eine sorgsame klinische Beobachtung und Analyse. Während die klassische Psychopathologie dies in erster Linie durch eine prägnante Beschreibung psychischer Störungen anhand konkreter Fallbeispiele geleistet hat, steht heute das Bemühen um genaue Definitionen einzelner Merkmale sowie deren Ausprägungsgrad im Vordergrund, wodurch eine Replikation der Beobachtungen und eine statistische Analyse von Zusammenhängen zwischen den Einzelmerkmalen möglich wird.

Bereits frühzeitig versuchte man, durch die Bestimmung der psychologischen Grundstruktur einer Störung die Beschreibung von Symptomenkomplexen zu vertiefen. Während im 19. Jahrhundert v. a. die Assoziationslehre wegweisend war, wurde später die Entwicklungsdynamik als Grundlage herangezogen. Die Frage, inwieweit es tatsächlich gelungen ist, psychologische Grundstrukturen bestimmter Störungen nachzuweisen, wird sehr unterschiedlich beurteilt. In der gegenwärtigen Klassifikation psychischer Störungen ist dieser Ansatz stark in den Hintergrund getreten, da die Definition psychischer Störungen unabhängig von den unterschiedlichen Standpunkten verschiedener theoretischer Schulen sein soll. Trotzdem beeinflusst dieser Gesichtspunkt auch heute noch die Definition bestimmter psychischer Störungen, so waren bei der Beschreibung einiger Persönlichkeitsstörungen, aber auch der dissoziativen Störungen die psychodynamischen Modelle wegweisend.

Ein anderer Versuch bestand darin, über die Ursachen psychischer Störungen zu Einheiten zu gelangen. So wurde z. B. im 19. Jahrhundert die Degeneration – ausgehend von der französischen Psychiatrie – als Ursache bestimmter Störungen aufgefasst. Auch die Suche nach umschriebenen Krankheitsprozessen, nach neuropathologischen, neurophysiologischen und neurochemischen Befunden oder nach genetischen Störungen, die für bestimmte psychische Krankheiten verantwortlich sein könnten, stellen Beispiele für die Bemühung dar, über die Klärung der Ursachen zu einer objektiven Basis für die Klassifikation psychischer Störungen zu gelangen. Die Definition psychiatrischer Krankheitsbilder bzw. klinisch-psychologischer Störungen über deren Ursachen blieb bis heute jedoch eine weitgehend unerfüllte Forderung.

Einen wesentlichen Fortschritt bedeutete im 19. Jahrhundert die Forderung Kahlbaums, neben einer umfassenden Beobachtung des klinischen Erscheinungsbildes auch den Verlauf als Grundlage für die Bildung von Krankheitseinheiten zu betrachten. Diese Forderung wurde von Kraepelin (1909–1915) aufgegriffen. Von Letzterem stammt der Ansatz, v. a. die Ausgänge von psychischen Krankheiten zu studieren. Daraus ergibt sich die Einteilung in heilende und niemals heilende psychische Krankheiten. Kraepelin knüpfte daran die Erwartung, dass die Kenntnis des Verlaufs die psychologische Struktur bzw. die psychologische Grundform des Krankheitsvorganges erkennen lässt. Krankheitsbilder sollten die gleiche Ursache, die gleiche psychologische Grundform, die gleiche Entwicklung und den gleichen Verlauf, den gleichen Ausgang und den gleichen Hirnbefund aufweisen.

1.2 Neuere Geschichte der Klassifikation psychischer Störungen

Die Klassifikation psychischer Störungen durch Kraepelin hat sich in den meisten Ländern relativ rasch durchgesetzt. Trotzdem haben verschiedene Staaten ihre eigenen Traditionen ausgebildet und etliche Denkschulen entwickelten eigene Klassifikationsansätze. Ein intensives Bemühen um die internationale Vereinheitlichung dieser Klassifikationen ist erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg festzustellen. Eine internationale Expertengruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) arbeitete ein Klassifikationssystem aus, in dem jede psychische Störung kurz beschrieben wurde.

In den 1950er-Jahren begann man, sich auf empirischer Basis mit der Frage der klinisch-psychologischen bzw. psychiatrischen Diagnostik auseinanderzusetzen. Diese Arbeiten zeigten, dass selbst bei Verwendung eines einheitlichen Klassifikationssystems große Unterschiede zwischen verschiedenen PsychiaterInnen bzw. PsychologInnen bestanden, die Klassifikation also wenig reliabel war (Kendell, 1978). Verschiedene Ursachen dieser geringen Übereinstimmung wurden identifiziert, etwa unterschiedliche diagnostische Präferenzen einzelner PsychiaterInnen, eine mangelnde Systematik bei der Informationserhebung, die unterschiedliche Bewertung und Gewichtung einzelner Symptome bei der diagnostischen Entscheidung oder die unterschiedliche Handhabung der Möglichkeit des Stellens einer Mehrfachdiagnose.

Weiters zeigte sich, dass auch zwischen verschiedenen Ländern systematische Unterschiede in der diagnostischen Praxis bestanden. Der bekannteste Versuch, diesen Unterschieden nachzugehen und die Ursachen dafür aufzuspüren, ist das UK-US-Diagnosen-Projekt (Cooper, Kendell, Gurland et al., 1972), in dem die Ursachen für die Tatsache eruiert wurden, weshalb in den USA die Diagnose einer Schizophrenie deutlich häufiger gestellt wurde als in England.

Aus den negativen Erfahrungen wurden Anforderungen an ein Klassifikationssystem abgeleitet, die auf eine möglichst große Reliabilität, aber auch auf eine bessere Brauchbarkeit der diagnostischen Kategorien hinzielten:

1. Reliabilität

Deren Notwendigkeit wurde besonders betont:

– Nur jene Unterscheidungen sind sinnvoll, die eine ausreichende Beurteilerübereinstimmung aufweisen, über die somit zwischen verschiedenen PsychologInnen und PsychiaterInnen eine hinreichende Verständigung erzielt werden kann.

– Angesichts der Pluralität der Konzeptionen psychischer Störungen und der vielfältigen Theorieansätze ergibt sich die Notwendigkeit, sich auf Einteilungen zu stützen, die weitgehend theorieunabhängig bzw. deskriptiv sind und Merkmale erfassen, über deren Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein ein Konsens erzielbar ist.

– Die Spezifität der intentionalen Definition muss möglichst groß sein. Je mehr Merkmale angeführt werden, desto größer ist die Notwendigkeit diagnostischer Regeln.

2. Deckungsumfang

In einem Klassifikationssystem sollten möglichst alle Formen psychischer Störungen erfasst werden. Zudem sollten die Schwierigkeiten aller PatientInnen diagnostizierbar sein, nicht nur jene von PatientInnen, die ein sehr typisches Störungsbild zeigen. Dies steht in gewissem Widerspruch zur Reliabilität, da die Übereinstimmung in den weniger klaren Fällen naturgemäß geringer ist.

3. Deskriptive Validität

Die Homogenität der diagnostischen Kategorien sollte möglichst groß sein, das heißt, es sollten nur Gruppen zusammengefasst werden, die tatsächlich viel gemeinsam haben.

4. Prädiktive Validität

Die Stellung einer Diagnose ist nur sinnvoll, wenn daraus Aussagen über den weiteren Verlauf, die angemessene Form der Behandlung und Ähnliches ableitbar sind.

Die letzten Jahrzehnte waren durch das Bemühen gekennzeichnet, diesen Anforderungen zu entsprechen und die Zuverlässigkeit sowie die Aussagekraft der Klassifikation psychischer Störungen zu erhöhen. Folgende Entwicklungen sind hervorzuheben:

– Statt allgemeiner Beschreibungen der hervorstechenden Merkmale psychischer Störungen wurden genaue, operationalisierte Kriterien formuliert, die eine einheitliche Entscheidungsfindung erlauben sollten. Dabei wurde nicht nur festgehalten, welche Symptome bzw. Merkmale als Kriterium für eine Diagnose vorhanden sein müssen, sondern auch, welches Gewicht diesen Merkmalen für die Diagnose zukommt und welche Bedingungen ausgeschlossen werden müssen, damit eine Diagnose gestellt werden kann.

– Bei der Diagnostik psychischer Störungen sind in vielen Fällen verschiedene Ebenen zu beachten – ein Teil der PatientInnen weist auch körperliche Krankheiten auf, bei anderen ist die Fähigkeit zum Zurechtkommen in der Umwelt durch kognitive Beeinträchtigungen, wieder bei anderen durch äußere Belastungen erschwert. Bei einem Teil entwickeln sich besondere Probleme bzw. Symptome vor dem Hintergrund einer bereits lang andauernden Persönlichkeitsstörung. Da sich zeigte, dass die Diagnostik zu einem Gutteil deshalb so uneinheitlich war, weil diese verschiedenen Ebenen nur zum Teil berücksichtigt wurden, wurden „multiaxiale“ Diagnosesysteme entwickelt.

– Die Klassifikation psychischer Störungen wird immer umfassender. Es besteht eine starke Tendenz zur Ausweitung dessen, was als spezielle Form einer psychischen Störung betrachtet wird. So hat sich die Zahl der diagnostizierbaren psychischen Störungen im offiziellen Diagnosesystem der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung von der ersten (1952) über die zweite (1968) bis zur dritten Fassung (1980) von etwas über 100 auf über 180 und schließlich auf über 260 Störungen erhöht (Garfield, 1993). Dabei wurden statt des langsamen Prozesses einer allmählichen Durchsetzung neuer diagnostischer Kategorien die Komiteearbeit und die Mehrheitsentscheidung eingeführt. Allerdings wurde auch ein Mechanismus der empirischen Überprüfung eingebaut: die sogenannten Feldversuche, in denen neue Vorschläge zur Definition psychischer Störungen auf ihre Brauchbarkeit hin (z. B. Häufigkeit der Verwendung, Beurteilerübereinstimmung) geprüft wurden.

– Als ein weiterer Schwachpunkt in der Diagnostik psychischer Störungen wurde die Informationserhebung ermittelt. Im Wesentlichen stützt sich die klinischpsychologische Diagnostik auf die Informationserhebung mittels eines Gesprächs bzw. klinischen Interviews mit den PatientInnen. Um die Möglichkeit zu minimieren, dass Informationen deshalb nicht in die Diagnose eingehen, weil nicht danach gefragt wurde, sind in den letzten Jahren zahlreiche standardisierte psychiatrische bzw. klinisch-psychologische Interviews entwickelt worden – zum Teil mit Leitfäden, die genau definieren, wie die erhobenen Informationen bei der Diagnosestellung zu werten sind.

Diese Entwicklungstendenzen finden im amerikanischen Klassifikationssystem für psychische Störungen ihren klarsten Ausdruck. Die dritte Fassung dieses Systems, DSM-III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, American Psychiatric Association (APA)), die 1980 herausgegeben und 1987 nochmals überarbeitet wurde (DSM-III-R, APA), hatte einen sehr großen Einfluss auf die heutige Konzeption von Klassifikationssystemen. In der vierten Revision, dem DSM-IV (APA, 1984), wurde bei kleineren Änderungen an den wesentlichen Komponenten festgehalten.

Das DSM-IV war multiaxial, mit folgenden fünf Achsen:

– Achse I beschrieb die klinischen Syndrome, die in 17 allgemeinere Kategorien eingeteilt wurden (z. B. affektive Störungen, Angststörungen, somatoforme Störungen, schizophrene Störungen). Neben der Art der Schwierigkeiten wurde auch der Schweregrad der Störung angegeben, wobei bei allen Syndromen zwischen einer leichten, mittleren und schweren sowie zwischen einer partiell und voll remittierten (rückgebildeten) Störung unterschieden wurde.

– Achse II beschrieb Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen – z. B. eine allgemeine Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung (geistige Behinderung), aber auch umschriebene Entwicklungsstörungen wie etwa Sprachentwicklungsstörungen – und Persönlichkeitsstörungen bei Erwachsenen (paranoide, schizoide, narzisstische, antisoziale und hypersensitive Störungen sowie Borderline).

– Auf Achse III wurden körperliche Krankheiten bzw. körperliche Zustände festgehalten, die gleichzeitig gegeben waren (ohne dass diese mit der psychischen Störung in einem ursächlichen Zusammenhang stehen mussten).

– Achse IV wurde der Schweregrad psychosozialer Belastungsfaktoren (auf einer Skala von 1 = keiner bis 6 = katastrophal) festgehalten, wobei zwischen akuten Ereignissen und länger anhaltenden Umständen unterschieden wurde. Die Belastungen, denen ein unterschiedlicher Schweregrad zugemessen wurde, wurden beispielhaft beschrieben, getrennt für Erwachsene und Kinder bzw. Jugendliche (z. B. wurde als Beispiel für ein katastrophales akutes Ereignis für Erwachsene der Tod eines Kindes oder der Selbstmord des Ehepartners angeführt).

– Auf Achse V wurde die derzeitige globale psychische, soziale und berufliche Leistungsfähigkeit sowie der höchste Stand der Leistungsfähigkeit im letzten Jahr auf einer Skala von 1 bis 90 eingestuft. Diese Skala sollte die Beeinträchtigung des Patienten auf einem hypothetischen Kontinuum zwischen Gesundheit und schwerster psychischer Krankheit angeben.

Zusätzlich können jene Bedingungen, die nicht als eigentliche psychische Störungen zu werten sind, aber Anlass für die Vorstellung in der klinischen Einrichtung sind (z. B. Eheprobleme, Arbeitsschwierigkeiten), mithilfe sogenannter „V-Codes“ angegeben werden.

Der große Einfluss des DSM-III bzw. seiner Nachfolger ist wohl v. a. auf die genauen Definitionskriterien zurückzuführen. Er ist zudem dadurch bedingt, dass bei der Veröffentlichung versucht wurde, das verfügbare Wissen über die Merkmale der verschiedenen Störungen, die Häufigkeit und den Verlauf sowie prädisponierende Faktoren für alle Störungen möglichst umfassend in einem Handbuch darzustellen.

Es ist jedoch zu betonen, dass im DSM-III mit einigen Grundzügen der älteren psychiatrischen Klassifikationen gebrochen wurde, v. a. mit der grundlegenden Polarität zwischen Neurosen und Psychosen. Am klarsten wird dies bei der Einteilung der Depressionen, die alle – unabhängig von den klassisch unterschiedenen Subformen – zu den affektiven Störungen gerechnet werden. Anstelle des älteren hierarchisch konzipierten Systems der psychiatrischen Klassifikation stehen nun verschiedene Störungen gleichsam gleichberechtigt nebeneinander. Dies hat dazu geführt, dass deutlicher geworden ist, dass ein Patient/eine Patientin gleichzeitig mehrere Formen psychischer Störungen haben kann und dass manche Störungen sogar sehr häufig gemeinsam auftreten, z. B. affektive Störungen und Angststörungen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, welche Konsequenzen dies für den weiteren Verlauf der psychischen Störungen und für die Behandlung dieser PatientInnen hat. Trotz des großen Einflusses des amerikanischen Systems orientiert sich die offizielle Diagnostik in den meisten Ländern – auch in Österreich – an einem anderen System: der ICD („International Classification of Diseases“) der WHO (Dilling, Mombour, & Schmidt, 1991), deren gegenwärtig gültige Fassung die zehnte Version ist. Der Entwurf für die elfte Version wurde schon vorgestellt, das ICD-11 wird aber erst ab 2022 gelten. Trotz des Bemühens um eine genauere Fassung der diagnostischen Kriterien hat die ICD bisher auf eine Operationalisierung der diagnostischen Kriterien verzichtet, allerdings hat sie ebenfalls das Format einer mehrachsigen Diagnose angenommen, wobei die Achsen weitgehend jenen des DSM-IV entsprechen.