Melodie der Liebe

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Melodie der Liebe
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1 ~ 1885

Der Earl of Wentworth lag im Sterben.

Im Zelt herrschte eine unerträgliche Hitze, obgleich es aus dem gleichen schwarzen Material wie die Beduinenzelte gefertigt war. Kein Lüftchen bewegte die Blätter an den Palmen in der Oase.

Roberta tauchte ein Stück Stoff in das Wasser, das sie aus einer Ziegenlederflasche in eine Schüssel gegossen hatte und das beinahe ebenso warm wie die Luft war. Mit dem Tuch betupfte sie die Stirn ihres Vaters. Er hatte lange Zeit geschlafen oder war ohne Bewußtsein gewesen, nun aber öffnete er die Augen.

»Möchtest du etwas trinken, Papa?« fragte sie.

Einen Moment glaubte sie schon, ihr Vater habe sie nicht gehört, doch dann nickte er leicht. Sie holte das Glas mit Brandy, das sie, um es zu kühlen, in eine Schale mit Wasser gestellt hatte.

Sie hob vorsichtig seinen Kopf und hielt ihm das Glas an die Lippen. Der Earl war sehr bleich durch die Krankheit, aber er sah noch immer gut aus. Kein Wunder, daß so viele Frauen ihn lieben, dachte Roberta unwillkürlich.

Er nahm ein paar kleine Schlucke zu sich, und es schien, als ob ihn das ein wenig beleben würde, denn als sie seinen Kopf sanft auf das Kissen bettete, begann er zu sprechen.

»Es tut mir leid, Liebling.«

»Was denn, Papa? Du kannst doch nichts dafür, daß du krank bist!«

»Ich werde sterben - das weißt du«, entgegnete der Earl. »Und noch dazu an einem sehr ungelegenen Ort.«

Roberta schrie leise auf.

»So etwas darfst du nicht sagen, Papa! Du darfst mich nicht verlassen! Was sollte ich ohne dich anfangen?«

Der Earl holte tief Luft, als müsse er all seine Kraft aufbringen.

»Hör zu, mein geliebtes Kind, wir haben nicht mehr viel Zeit. Wenn ich tot bin, begrabe mich hier im Sand.«

Roberta hätte ihm widersprochen, doch merkte sie, daß das Reden ihren Vater größte Mühe kostete. Also schwieg sie lieber.

»Hassan wird dich nach Algerien bringen, in Sicherheit«, fuhr ihr Vater fort, als denke er laut. »Sage den Männern, du kannst sie erst auszahlen, wenn ihr in Algier seid. Dadurch vermeidest du eventuelle Schwierigkeiten.«

»Ja, Papa, das werde ich tun«, murmelte Roberta leise. Danach herrschte Stille im Zelt. Ihr Vater hatte die Augen wieder geschlossen, so daß Roberta glaubte, er sei wieder eingeschlafen, doch schließlich sagte er: »Ich habe darüber nachgedacht wie unangenehm es für dich wäre, nach Hause zurückzukehren.«

»Ja, Papa, das wäre es. Deshalb darfst du mich jetzt nicht allein lassen! Du weißt, wie mich die Familie behandeln würde, wenn ich zurückkäme.«

Der Earl of Wentworth nickte, als pflichte er ihr bei. Nach einem Moment des Schweigens meinte er: »Fahr zu deiner Tante Margaret - sie ist von meinen Geschwistern die netteste und ich denke, du wirst glücklich bei ihr sein.«

Verdutzt blickte Roberta ihn an.

»Erinnerst du dich nicht?« fügte der Earl hinzu, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Deine Tante Margaret war mir ähnlicher als meine anderen Geschwister - sie lief mit einem amerikanischen Prediger davon.«

»Ach ja!« rief Roberta aus. »Jetzt erinnere ich mich!«

»Ihr Nachname ist Dulaine. Unter meinen Papieren bei der Bank in Algier findest du auch einen Brief von ihr, der ist allerdings fast zwei Jahre alt.«

»Aber Amerika? Das ist so weit weg, Papa!«

»Ja, ich weiß, mein Kind. Doch kannst du nur zwischen zwei Möglichkeiten wählen: Entweder lebst du bei deiner Großmutter und wirst für deine Sünden bestraft, oder du beginnst ein ganz neues Leben in einer neuen Welt, bei Tante Margaret.« Seine blassen Lippen verzogen sich zu einem zaghaften Lächeln, als er hinzufügte: »Ich weiß, für welches Leben ich mich entscheiden würde.«

Roberta nahm sich mit aller Kraft zusammen und erwiderte: »Ja, Papa, du hast recht, das wird eine lange Reise, aber wenn du nicht bei mir bist, wird es ziemlich langweilig werden.«

»Ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben, mein Liebling. Ich würde gern Amerika sehen.«

Er schloß erneut die Augen. Es mußte ihn unsagbare Mühe gekostet haben zu sprechen. Roberta hielt ihm das Glas mit Brandy an die Lippen, und er nahm gehorsam zwei Schlucke. Aber es schien ihr, als sei er schon sehr weit weg von ihr. Sie hockte sich neben sein Lager, eine Matratze auf dem Sandboden, und dachte verzweifelt nach, ob sie nicht irgendetwas unternehmen könne.

Ja, ihr Vater hatte recht - er würde sterben, das wußte sie. Dasselbe Fieber hatte seine Geliebte einen Monat zuvor erfaßt, und sie war daran gestorben. Sie hatten sie vor den Toren eines kleinen arabischen Dorfes begraben, nicht einmal ein Kreuz hatten sie auf ihr Grab stellen können.

Warum kann ich nicht auch sterben? dachte Roberta hoffnungslos. Dem Fieber, das sich in der Karawane verbreitet hatte, waren auch zwei junge Kameltreiber zum Opfer gefallen und Francine, die der Earl so sehr geliebt hatte. Dann hatte das Fieber ihn erfaßt. Er war schwächer und schwächer geworden, bis er keine Kraft mehr hatte weiterzuleben.

Wenn Roberta zurückblickte, wunderte sie sich, daß sie so lange ohne Krankheiten oder andere Rückschläge ihre merkwürdigen faszinierenden Reisen durch Nordafrika hatten fortsetzen können. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, daß sie einmal ein solches Leben führen würde, als sie damals, ausgestattet mit dem Unabhängigkeitsdrang und Abenteuergeist ihres Vaters, so mutig gewesen war, aus dem düsteren kalten Haus in Essex davonzulaufen. Das Haus, in dem sie mit ihren Verwandten gewohnt hatte, die ununterbrochen an ihr herumkritisiert und ihr vorgehalten hatten, welche Schande ihr Vater über sie alle gebracht habe. Diese ständigen Vorhaltungen und Nörgeleien waren ihr unerträglich gewesen, und sie hatte nur zu gut verstanden, daß ihr Vater es nach dem Tode ihrer Mutter in England nicht mehr ausgehalten hatte.

Er hatte Worth Park, den Besitz seiner Vorfahren, eines Morgens verlassen, ohne jemandem ein Wort zu sagen, und war nie wieder zurückgekehrt. Der Umstand, daß er die Gattin des Lord Lieutenant der Grafschaft mit sich genommen hatte, machte sein Benehmen in den Augen derer, die zurückblieben, nicht gerade verzeihlicher.

Robertas Großmutter, die verwitwete Countess, war mit Lady Emily, ihrer jüngsten, unverheirateten Tochter, erschienen, um den Haushalt von Worth Park aufzulösen. Roberta hatten die beiden Frauen mit sich nach Essex genommen.

Nur zu gut erinnerte sich Roberta noch daran, wie verzweifelt sie gewesen war, als sie nach dem Tod ihrer Mutter zwei Jahre zuvor nun auch noch ihren Vater, die Pferde, die sie liebte, und dazu die Dienstboten, die sie seit ihrer frühesten Kindheit umsorgt hatten, verlieren sollte. Obendrein entließ die Großmutter noch Robertas Gouvernante, mit der Begründung, daß sie leichtfertig sei. Lady Emily sollte von nun an Roberta Unterricht geben. Und zusätzlich wurde täglich eine ältliche Lehrerin, die nicht mehr im Amt war, aus dem Nachbardorf geholt, um Roberta in den Fächern zu unterrichten, in denen ihre Tante nicht bewandert war.

Roberta, die sehr intelligent war, langweilten diese Unterrichtsstunden, ebenso das Leben, das sie nun führte - ein Leben an der Seite zweier älterer Damen, die sich besonders darin einig waren, Robertas Vater lautstark zu verurteilen. Täglich mußte das Mädchen wahre Schimpfkanonaden über sein so schändliches Verhalten über sich ergehen lassen. Und gab sie sich einmal Mühe, charmant zu sein, hübsch zu wirken oder auch nur zu lachen, so brachte ihr das sofort die Bemerkung ein, sie erinnere die beiden an den sündigen Duncan.

Wäre Roberta jünger gewesen, hätte sie vielleicht mit der Zeit selbst geglaubt, daß ihr Vater durch und durch unmoralisch und schlecht sei, wie die beiden alten Damen es darstellten. Sie war jedoch beinahe vierzehn gewesen, als er damals fortging, und sie erinnerte sich noch lebhaft an seinen Charme und sein gutes Aussehen und daran, daß sich die allgemeine Stimmung augenblicklich hob, wo immer er auftauchte, und auch an die Blicke der Frauen, die sie ihm zuwarfen.

Und dann erinnerte sie sich noch daran, wie glücklich sie alle zusammen gewesen waren, als ihre Mutter noch lebte. Es gab kein Wochenende, an dem sie nicht zu einer Gesellschaft in ihrem Hause luden, kaum einen Tag, an dem nicht irgendjemand zu Besuch kam, der oft auch über Nacht blieb. Im Winter gingen sie viel jagen, und im Sommer machten sie Bootsfahrten auf dem See und veranstalteten Picknicks im Wald. All ihre Unternehmungen waren von schallendem, fröhlichem Lachen begleitet.

Nur Roberta hatte wirklich gewußt, wie elend ihrem Vater nach dem Tode ihrer Mutter zumute war, als das Haus auf einmal finster und ohne Freude war. Damals hatte er begonnen, gelegentlich nach London zu fahren, um zu vergessen und bei jeder Rückkehr aus London hatte er etwas besser ausgesehen. Er erzählte ihr immer die neuesten amüsanten Geschichten aus den Theatern, die er dort besuchte, von den großen Abendgesellschaften, die er sehr genoß, und von den Menschen, die er dort kennenlernte.

Manchmal kam ihr der Gedanke, daß bei diesen Anlässen wohl kaum hoch angesehene Persönlichkeiten aus der Gesellschaft teilnahmen, wie es früher bei ihnen zu Hause üblich war. Ihr Vater erzählte ihr begeistert von den Tänzerinnen und Unterhaltungskünstlern in den Varieté-Theatern und von den lustigen Abenden, die er bei »Romano« oder in einem anderen berühmt-berüchtigten Restaurant verbracht hatte, wohin er sie bestimmt niemals mitgenommen hätte. Die Ausflüge ihres Vaters nach London wurden immer häufiger. Und eines Tages änderte sich plötzlich alles.

Nun zog er es wieder vor, sich auf dem Land aufzuhalten. Er ritt mit der hübschen Lady Bingham aus - der zweiten Frau des Lord Lieutenant, die um viele Jahre jünger war als ihr Mann. Roberta war fasziniert von ihrer Schönheit und wünschte sich, wenn sie erwachsen wäre, wie sie auszusehen.

 

Manchmal durfte sie mit ihrem Vater und Lady Bingham ausreiten oder mit ihnen eine Bootsfahrt auf dem Fluß machen, und gelegentlich gingen sie gemeinsam zum Essen aus.

Im Sommer, wenn es heiß war, ließ der Earl draußen im griechischen Tempel am Ende des Gartens servieren. Es war fast so, als wäre Robertas Mutter wieder da; ihr Vater lachte wieder, und was sie und Lady Bingham auch sagten, es amüsierte ihn alles. Das Haus war erneut von Freude und Glückseligkeit erfüllt.

Doch eines Tags war der Earl plötzlich verschwunden. Am Abend zuvor hatte er beim Gute-Nacht-Sagen Roberta fest an sich gedrückt und sehr ernst zu ihr gesagt: »Du wirst allmählich erwachsen, mein Schatz, und du wirst eine sehr hübsche Frau werden, oder besser gesagt, liebreizend. Ich muß an deine Zukunft denken und dafür sorgen, daß du eine Anstandsdame bekommst, die dich in die Gesellschaft einführt, damit du den passenden Ehemann findest.«

»Bis dahin ist noch so viel Zeit, Papa«, hatte Roberta lachend erwidert. »Außerdem rede ich viel lieber mit dir und tanze auch am liebsten mit dir. Ich habe gar kein Verlangen danach, mit irgendeinem anderen Mann zusammen zu sein.«

Der Vater hatte sie noch fester an sich gedrückt. »Danke, mein Liebling. Das ist ein herrliches Kompliment. Aber das Leben, das ich führe, ist, was dich anbelangt, nicht gerade beispielhaft.«

Roberta hatte nicht verstanden, was er meinte; es war ihr auch egal, denn sie war sehr schläfrig. Sie hatten zusammen einen wunderschönen Tag verbracht, nur der Vater und sie. Sie mochte Lady Bingham sehr und fand ihre Gesellschaft amüsant, doch noch lieber hatte sie ihren Vater für sich allein. Kurz nach dem Frühstück hatten sie einen Ausritt über den gesamten Besitz gemacht, fast so, als wollte ihr Vater ihn inspizieren. Mittags hatten sie in einem Gasthof ein paar Kilometer von ihrem Haus entfernt Brot und Käse gegessen und Apfelwein getrunken und waren dann erst am Spätnachmittag nach Hause zurückgekehrt. Sie gingen noch in die Ställe und blieben lange bei den Pferden, um sie zu beobachten, erst später begriff sie, daß er sich an diesem Nachmittag von den Pferden verabschiedet hatte.

Abends hatte er ihr noch eine besonders große Freude gemacht - sie durfte ganz allein bei ihm im Speiseraum essen, wozu sie ihr hübschestes Kleid angezogen hatte.

Ihr Vater plauderte mit ihr wie mit einer Erwachsenen, und sie durfte sogar ein kleines Glas Sekt trinken.

Später, als sie im Bett lag und er zu ihr kam, hatte er nach dem Gutenachtkuß gesagt: »Gib gut auf dich acht, mein bewundernswertes kleines Mädchen, und vergiß nicht, daß ich dich liebe!«

»Ich dich auch, Papa. Du bist der wundervollste Vater, den je ein Mädchen gehabt hat!«

Der Earl hatte tief Luft geholt, bevor er sich zu ihr herabbeugte um sie auf die Stirn zu küssen. Dann hatte er ohne ein weiteres Wort das Zimmer verlassen, und sie war eingeschlafen.

Am folgenden Morgen fand sie eine Nachricht von ihm; er sei nach Frankreich gefahren und habe seine Mutter gebeten, sich um Worth Park zu kümmern und Roberta zu sich nach Essex zu nehmen. Zuerst hatte Roberta nicht geglaubt, daß er für immer weggegangen sei. Als sie jedoch erfuhr, daß er Lady Bingham mit sich genommen hatte, und sich ausmalte, daß dies zu einem riesigen Skandal würde, war ihr klar, daß er niemals mehr für längere Zeit nach England zurückkehren konnte.

Der Lord Lieutenant weigerte sich auch noch, in eine Scheidung von seiner Frau einzuwilligen, ein Umstand der, sollten der Earl und Lady Bingham je nach England zurückkehren, dazu führte, daß man sie aus der Gesellschaft gänzlich ausschloß und sie nie wieder bei Hof empfing - was Robertas Großmutter bei jedem Anlaß betonte.

»Wie konnte dein Vater so etwas Entsetzliches tun!« mußte sich Roberta oft anhören. »Ein Mann in seiner Stellung hätte es besser wissen müssen! Er hat den Namen unserer Familie in den Schmutz gezogen! Er sollte sich wirklich schämen!«

Manchmal kam Roberta der Gedanke, die Großmutter und Tante Emily machten diese ätzenden Bemerkungen, die sie so verletzten, absichtlich immer wieder, um sie ihr förmlich einzubläuen.

Zwei Jahre später erfuhr sie, als sie einmal dem Klatsch der Dienstboten lauschte, daß Lady Bingham zurückgekehrt sei und ihr Gatte ihr verziehen habe. Trotzdem wollten viele der Bewohner der Grafschaft nichts mehr mit ihr zu tun haben, und bei Hofe wurde sie auch nicht mehr empfangen.

Als Roberta eines Tages auf dem Wege in den Salon war, hörte sie, wie Tante Emily zu einer Besucherin sagte: »Kein Ehrenmann hätte sich einer Frau gegenüber, die nicht besser als eine Hure ist, großzügiger verhalten können.«

Die Worte ließen Roberta aufhorchen, und sie blieb stehen.

»Und was ist aus Ihrem Bruder geworden?« fragte jetzt die Besucherin ihre Tante. »Er ist wirklich der bestaussehende Mann, der mir je begegnet ist!«

»Leider ist das auch sein Verderben gewesen«, erwiderte Lady Emily bitter. »Er wird sich bestimmt mit einer anderen Frau, trösten.«

»Sie denken nicht, daß er wieder herkommen wird?«

»Nein, das denke ich kaum!«

Einen Moment schwiegen beide.

»Wo hält er sich denn zur Zeit auf?« erkundigte sich die Besucherin.

»Bis vor kurzem lebte er in Spanien«, hörte Roberta die Tante sagen. »Doch kürzlich erfuhr ich zufällig durch einen unserer Vetter, daß er sich für das Frühjahr in Paris ein Haus gemietet hat.«

Der sarkastische, Roberta so vertraute Unterton lag wieder in der Stimme ihrer Tante.

Roberta begriff, daß all die Verleumdungen, die etwas abgeklungen waren, wieder von vorne beginnen würden.

Das ertrage ich einfach nicht mehr! dachte sie verzweifelt. Noch einmal zwei Jahre lang diese Tyrannei, bis ich dann vielleicht heirate, wie es von mir erwartet wird! Immer wieder aufs Neue diese Vorwürfe gegen den Vater, denen sie nichts entgegenzusetzen hatte.

Roberta betrat den Salon nicht, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. Sie ging die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, setzte sich ans Fenster und blickte hinaus. Doch sie nahm die ersten grünen Frühlingsknospen an den Bäumen gar nicht wahr; die goldgelben Narzissen im hohen Gras, die vor kurzem geborenen Lämmer, die zum ersten Mal über die Wiesen hüpften. Sie sah nur im Geiste ihren lachenden, augenzwinkernden Vater vor sich. Und mit einem Mal hatte sie das Gefühl, das Leben sei unsagbar aufregend und sie könne alles erreichen, was sie nur wolle, ja sogar den Mond.

Er ist allein, sagte sie sich. Jetzt kann ich zu ihm fahren.

Sie war zwar erst sechzehn, hatte jedoch eine Auffassungsgabe und einen Scharfsinn entwickelt, die ihrem Alter weit voraus waren - »etwas, was sich bei einer jungen Dame nicht gerade vorteilhaft macht«, wie ihre Lehrerin aus dem Dorf sich gelegentlich etwas spitz ausdrückte.

Sorgfältig schmiedete Roberta ihre Pläne. Selbstverständlich durfte sie nicht allein nach Paris reisen. Sie dachte daran, daß die Großmutter eine ältere Hausangestellte von Worth Park mit nach Essex genommen hatte und ihr ein kleines Häuschen zur Verfügung gestellt hatte. Die Dienerin war darüber nicht gerade glücklich, da man sie einfach aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen hatte. Sie hatte ihr ganzes Leben in Worth Park gearbeitet und dort unter den Dienstboten oder im Dorf in der Nähe all ihre Freunde gehabt. Als sie damals die Countess bat, sie aus den Diensten der Wentworths zu entlassen, hatte sie gehofft, zurück nach Worth Park geschickt zu werden; doch die Countess hatte absolut nichts mehr mit dem Besitz ihres Sohnes, der inzwischen von Anwälten verwaltet wurde, zu tun haben wollen. So mußte Gracie, die alte Dienstmagd, in einem Häuschen im Dorf leben.

Da Gracie für Roberta den einzigen Kontakt darstellte, den sie noch zu ihrem eigentlichen Zuhause hatte, besuchte sie sie mindestens einmal in der Woche, und sie plauderten über die alten Tage, als ihre Mutter noch lebte. Gracie verehrte den Earl of Wentworth sehr, und niemand konnte sie dazu bringen, auch nur ein einziges Wort zu seinen Ungunsten zu sagen. Deshalb genoß es Roberta sehr, Gracie zuzuhören, die ihren Vater in höchsten Tönen lobte.

Am darauffolgenden Morgen ritt Roberta in Begleitung eines Dieners zu Gracies Haus. Dem Diener befahl sie, zu warten und ihr Pferd zu halten, dann ging sie hinein.

»Ach, Sie sind es, M’lady!« rief Gracie erfreut. »Ich warte schon ungeduldig darauf, daß ich Sie sehe. Ich muß Ihnen unbedingt etwas erzählen!«

»Ich weiß schon Bescheid, Gracie. Du hast gehört, daß Lady Bingham wieder zu Hause ist.«

»Oh, Sie wissen es schon?« Gracie war sichtbar enttäuscht. Sie hatte die Erste sein wollen, die es Roberta erzählte.

»Ja, ich weiß es bereits. Aber da Papa jetzt allein ist, werde ich zu ihm fahren, Gracie.«

»Nein, das können Sie doch nicht tun, M’Lady!« protestierte Gracie entsetzt. »Was wird die Countess dazu sagen?«

»Ganz sicherlich eine Menge, Gracie, aber erst, wenn ich nicht mehr hier bin!«

»Sie meinen, Sie wollen zu Ihrem Vater, ohne der Countess etwas davon zu sagen?«

»Ja. Sie kann dann raten, wohin ich gefahren bin.« Roberta lächelte. »Ich werde nach Paris fahren, um Papa zu finden. Und du kommst mit, Gracie!«

Gracie, die im Alter von neunundsechzig Jahren noch äußerst unternehmungslustig und gut zu Fuß war, sah sie voller Überraschung an.

»Sagten Sie, ich soll mit Ihnen fahren, M’Lady?«

»Ja, Gracie. Du weißt, daß ich nicht allein reisen darf. Mama hätte das niemals gebilligt. Deshalb mußt du mich begleiten.«

Gracie holte aufgeregt Luft, und weil sie Roberta über alles liebte und die Aussicht auf eine Reise ihr sehr verlockend schien, erklärte sie sich sofort einverstanden.

Die Situation, in der sich Roberta nun befand, war zwar nicht leicht zu meistern, aber hatte Roberta sich erst einmal zu etwas entschlossen, so war sie genauso beharrlich wie ihr Vater, und nachdem die ersten Schritte getan waren, lief alles mehr oder weniger wie von selbst.

Sie verfügte über kein Bargeld, da sie nur selten zum Einkaufen ging und sie von ihrer Großmutter nur Taschengeld in der Höhe bekam, wie sie selbst es als junges Mädchen von ihren Eltern erhalten hatte. Das reichte keinesfalls, um nach Paris zu reisen. Sie beschloß, bis zum Monatsende zu warten, weil dann die Dienstboten und die Arbeiter, die auf dem Besitz tätig waren, ausbezahlt wurden. Das bedeutete, daß der Verwalter des Grundstückes - ein etwas schwerfälliger Mann mittleren Alters - am Nachmittag vor dem Monatsende nach Hall kam, um sich im Verwalterbüro, wie der Raum allgemein genannt wurde, einzurichten und das Geld zu zählen, das die Leute am darauffolgenden Morgen erhielten. Sobald er alles ordentlich in kleinen Beuteln verstaut hatte, schloß er sie über Nacht im Safe ein und händigte den dazugehörigen Schlüssel der Großmutter aus.

An dem betreffenden Nachmittag wartete Roberta, bis sie hörte, wie sich der Verwalter von ihrer Großmutter verabschiedete. Wie üblich legte die alte Lady den Schlüssel in die rechte Schublade ihres Schreibtisches und begab sich nach oben, um sich für das Abendessen umzukleiden.

Roberta eilte zum Schreibtisch, nahm den Schlüssel und öffnete den Safe. In wenigen Minuten war sie fertig und hatte das gesamte Geld aus den Beuteln in eine kleine Kassette geleert, die sie mitgebracht hatte. Dann schrieb, sie auf einen Zettel: »Das Geld habe ich genommen. Du wirst es von meinem Vater, dem Earl of Wentworth, zurückerhalten.«

Sie unterzeichnete die Notiz mit einem Schnörkel, legte sie so in die Schreibtischschublade, daß ihre Großmutter sie gleich sehen mußte, wenn sie diese öffnete, und den Schlüssel zum Safe dazu. Anschließend ging sie, wie jeden Abend, die Treppe hinauf, wünschte ihrer Großmutter und ihrer Tante eine gute Nacht und zog sich in den Schulraum zurück, in dem sie wie gewöhnlich allein aß. Da sie erst sechzehn war, durfte sie nur zu besonderen Anlässen die Mahlzeiten mit den beiden Damen einnehmen. Sie zog es ohnehin vor, für sich zu sein beim Essen, da sie dann dabei lesen konnte. Sie langweilte sich immer, wenn sie bei der Großmutter und Tante Emily im Speisesaal sitzen mußte, weil sich dort das Essen, das von einem Diener und zwei Lakaien serviert wurde, sehr lang hinzog.

An diesem Abend allerdings war sie zum Lesen viel zu aufgeregt. Sie rührte das Essen, das zwar gut zubereitet war, dem jedoch jegliche Abwechslung fehlte, nicht an und ließ es wieder in die Küche bringen. Dann zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück, um sich zu vergewissern, daß für den folgenden Morgen alles vorbereitet war.

 

Am schwierigsten war das Problem zu lösen gewesen, von der Großmutter unbemerkt die Kutsche, die man im Ort mieten konnte, zu bestellen.

Gracie war jedoch auf eine Idee gekommen: »Ich kann einfach sagen, eine Verwandte von mir sei schwer krank geworden, und Tom Hanson würde mich mit seiner Kutsche zum Bahnhof bringen. Der kommt jederzeit zu mir.«

»Ja, das ist eine prima Idee, Gracie! Warum bin ich denn nicht selbst darauf gekommen? Sag ihm, er soll morgens um halb fünf vor deinem Haus eintreffen. Dann können wir mit dem Milchzug nach London fahren, der, soweit ich weiß, um fünf Uhr von Chelmsford abfährt.«

»Gut, das mache ich, M’Lady.«

Am nächsten Morgen, bei Anbruch der Dämmerung, eilte Roberta zu den Ställen. Sie hatte lediglich eine kleine Reisetasche bei sich mit zwei ihrer leichtesten Kleider und den notwendigsten Dingen darin. Die Kleider hatte ihr die Großmutter ausgesucht, und sicherlich fand ihr Vater sie genauso unvorteilhaft wie Roberta selbst und würde ihr etwas Neues anzuziehen kaufen. Das besonders schlichte Reisekleid und der Mantel, den sie darüber trug, machten da keine Ausnahme. In dieser Sonntagskleidung fühlte sie sich immer wie aus dem Waisenhaus. Ihr Hut, ebenfalls in Dunkelblau wie ihre restliche Ausstattung, war mit blauen, bereits fahl gewordenen Bändern besetzt.

Es bereitete ihr keine Schwierigkeiten, eines der Pferde zu satteln und die Reisetasche vor sich haltend zu Gracie zu reiten. Als sie Gracies Haus erreichte, sah sie Tom Hansons Kutsche bereits davorstehen. Ihr Herz hüpfte aufgeregt. Der Kutscher ging gerade zur Haustür, um zu klopfen. Im Haus brannte Licht, Gracie mußte also fertig sein. Als Roberta, etwas umständlich wegen der Reisetasche, die sie noch immer hielt, vom Pferd stieg, drehte sich Tom Hanson um. Verblüfft sah er sie an.

»Guten Morgen, M’Lady. Wohin sind Sie denn unterwegs?«

»Ich fahre mit Gracie mit, Tom. Das ist eine lange Reise, und sie sollte nicht allein fahren in ihrem Alter. Daher werde ich sie begleiten.«

»Das ist aber sehr freundlich von Ihnen!« rief Tom aus. »Und was machen wir mit dem Pferd?«

»Das lasse ich im Dorfpark frei, es wird nicht weit fortlaufen. Und vielleicht könntest du es, wenn du vom Bahnhof zurückkehrst, zu uns nach Hause bringen.«

Der Kutscher kratzte sich am Kopf.

»Klar, M’Lady. Aber... wieso machen das die Stallknechte nicht?«

»Weißt du, als ich aufbrach, schliefen die noch«, erwiderte Roberta leichthin. »Es hätte zu lange gedauert, sie erst zu wecken.«

Tom lachte. Gewiß würde dies ein Witz werden, den sich die Stallknechte wochenlang immer wieder erzählten.

Sie brachen auf. Es würde mindestens vier bis fünf Stunden dauern, bevor jemand im Hause der Großmutter Robertas Abwesenheit bemerkte. Und dann war es zu spät, sie noch aufzuhalten, selbst wenn die Großmutter gleich vermutete, in welche Richtung sie gefahren war. Sie hatte zwar eine Nachricht zurückgelassen, jedoch klugerweise nicht erwähnt, daß sie zu ihrem Vater reiste; dadurch hatte sie verhindert, daß die Großmutter der Zollstation in Dover telegrafierte, sie nicht außer Landes zu lassen. Sie hatte nur geschrieben, sie habe ganz plötzlich erfahren, eine Busenfreundin von ihr sei erkrankt, und sie sei deshalb mit dem Frühzug zu ihr gefahren in Begleitung von Gracie, da sie, ihre Großmutter, eine Reise allein bestimmt nicht gebilligt hätte. Das klang so einleuchtend daß die Großmutter wohl nicht auf die Idee kommen würde, Roberta unternähme etwas so Unvorstellbares wie eine Reise nach Paris.

Später, wenn Roberta einmal wieder an den Aufbruch an diesem Morgen zurückdachte, wunderte sie sich oft, daß alles so glatt verlaufen war. Sie erreichten rechtzeitig den Morgenzug nach Dover, und bald nach ihrer Ankunft am Nachmittag fuhr der Dampfer los, der den Ärmelkanal überquerte.

Da Roberta eine beträchtliche Summe Geld aus dem Safe genommen hatte, konnte sie es sich leisten, komfortabel zu reisen, so daß die Fahrt nicht anstrengend wurde, abgesehen davon, daß sie die ganze Nacht bis Paris unterwegs sein würden.

Als sie Paris erreichten, sah sich Roberta dem ersten richtigen Problem gegenüber: Sie mußte ihren Vater ausfindig machen. Er schalt sie später, weil sie sich, ohne seine genaue Adresse zu kennen, auf solch ein Abenteuer eingelassen hatte.

»Da waren zwei Dinge, die ich nie vergessen habe«, entgegnete Roberta daraufhin unbeeindruckt. »Erstens, daß ich damals, als du mit Mama in Paris warst, meine Briefe an euch an den Traveller Club schickte, und zweitens, daß du mir einmal erzählt hast, daß deine Bank in Paris sich in der Rue de la Paix befindet.«,

»Daran hast du dich noch erinnert?« fragte der Earl erstaunt.

»Ja, wohl deswegen, weil ihr auf eine so begeisterte Art von der Rue de la Paix spracht. Es hörte sich an, als sei das die aufregendste Straße der ganzen Welt.«

»Ja, für deine Mutter war sie das auch!« lachte der Earl. »Dort hat nämlich Mr. Worth sein Geschäft, und keine Frau, die Paris besucht, widersteht der Versuchung, gleich eine seiner Kreationen zu erstehen.«

Das kann ich verstehen, dachte Roberta, denn die Kleider, die ihre Mutter bei Worth gekauft hatte, waren das Wundervollste, was sie je zu Gesicht bekommen hatte.

Weil die Bank bei ihrer Ankunft in Paris noch geschlossen war, ging sie mit Gracie, die inzwischen so erschöpft war, daß sie schon keine Fragen mehr stellte, in ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs. Dort frühstückten sie erst einmal ausgiebig und warteten dann in dem gemütlichen Gesellschaftsraum bis kurz nach acht.

Als sie sich schließlich auf dem Wege in die Rue de la Paix befanden, sank Gracies Kopf vor Müdigkeit immer wieder vornüber, obwohl sie einen Großteil der Zugfahrt verschlafen hatte. Roberta war hingegen so hellwach wie die Vögel, die jetzt in den Parkanlagen ihr Morgenlied zwitscherten.

In der Bank erklärte Roberta dem Direktor, wer sie war, und er gab ihr die Adresse ihres Vaters ohne Umschweife.

Um halb zehn Uhr hielt die Kutsche, die Roberta und Gracie gemietet hatten, vor einem hohen, vornehm wirkenden Haus in einer ruhigen Seitenstraße der Champs-Elysees. Der Earl of Wentworth saß beim Frühstück, als das französische Dienstmädchen, das sich nicht erst die Mühe machte, den Besuch anzukündigen, die Tür öffnete und Roberta hereinbat.

Ihr Vater starrte sie fassungslos an, als glaube er zu träumen. Roberta lief auf ihn zu, und er sprang auf und rief: »Mein Gott, Roberta, bist du es wirklich!?«

»Ja, Papa, ich bin es! Erkennst du mich noch?« Sie lächelte glücklich, doch war ihr, als müsse sie gleich weinen, weil diese aufregende Reise nun ein Ende hatte.

Sie fiel dem Vater in die Arme, und er drückte sie an sich, küßte sie auf die Wange und fragte: »Warum bist du hier? Was ist passiert? Wieso hast du mich nicht benachrichtigt?«

»Ich bin fortgelaufen, Papa«, antwortete Roberta atemlos, »wie du damals. Ich hörte, daß du wieder allein bist. Ich konnte Großmutters und Tante Emilys Gejammer und Gezeter nicht länger ertragen. Es ist alles wieder von vorn losgegangen, seit Lady Bingham zu ihrem Mann zurückgekehrt ist. Sie schimpfen dauernd auf dich und machen dich schlecht, und ich halte das nicht mehr aus!«

Der Vater preßte sie an sich.

»Mein Mädchen! Das ist wirklich unglaublich, aber schön! Ich freue mich so, dich zu sehen! Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich dich vermißt habe!«

»Und ich dich, Papa!« Nun rollten ihr plötzlich Tränen die Wangen hinunter, und sie küßte ihren Vater immer wieder, als könne sie nicht glauben, daß sie ihn wirklich wieder hatte.