Flüchtlinge im Handwerk integrieren und beschäftigen

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Flüchtlinge im Handwerk integrieren und beschäftigen
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Anouschka Wasner

Flüchtlinge im Handwerk integrieren und beschäftigen

Potenziale erkennen | Chancen nutzen | Perspektiven schaffen


Diese Publikation wurde mit äußerster Sorgfalt bearbeitet, Verfasser und Verlag können für den Inhalt jedoch keine Gewähr übernehmen.

1. Auflage 2016

© 2016 by Holzmann Medien GmbH & Co. KG, 86825 Bad Wörishofen

Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, fotomechanischen Wiedergabe und Übersetzung, nur mit Genehmigung durch Holzmann Medien.

Das Werk darf weder ganz noch teilweise ohne schriftliche Genehmigung des Verlags in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm, elektronische Medien oder ähnliches Verfahren) gespeichert, reproduziert oder sonst wie veröffentlicht werden.

Lektorat: Achim Sacher, Carmen Kirchner, Holzmann Medien | Buchverlag

Herstellung/Satz: Markus Kratofil, Holzmann Medien | Buchverlag

Bildquelle Umschlag: Tim Wegner | handwerk magazin

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN (Print): 978-3-7783-1168-4 | Artikel-Nr.: 1551.01

ISBN (E-Book): 978-3-7783-1169-1 | Artikel-Nr.: 1551.99

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

während wir in diesen Tagen die letzten Korrekturen an diesem Buch vornehmen, wurde die Reporterin und Publizistin Carolin Emcke mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Dazu hat sie in der Frankfurter Paulskirche eine viel beachtete Dankesrede gehalten. Sie stellte darin Dinge klar, von denen man im Augenblick befürchten muss, dass sie einige Menschen in diesem Land scheinen vergessen zu haben.

Sie sagte „Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird. Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist der Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft.“ Sie erinnerte uns daran, auf was wir uns alle einmal geeinigt haben. Denn so steht das alles bereits im Grundgesetz. Asyl ist als Grund- und Menschenrecht dort verankert.

Ich erinnere mich, wie wir im Herbst 2015 unsere erste Umfrage in der Handwerksorganisation machten, wie Kammern und Verbände die Integration der Menschen unterstützen, die in jenem Tagen zu Zehntausenden unser Land erreichten. Ich erinnere mich an die ersten Recherchen, Hintergrundgespräche und Interviews.

Wir schrieben damals in der Titelgeschichte der November-Ausgabe: „Überall in Deutschland starten Handwerkskammern zusammen mit Betrieben und Behörden praxisorientierte Projekte und Initiativen, um Flüchtlinge in Arbeit und Ausbildung zu bringen. Das Engagement ist riesig. Die Schlagzeile lautete „Das Handwerk handelt!“. Was uns in den unzähligen Gesprächen und Mails mit Betrieben, Politikern und Funktionären entgegenkam, war genau diese Haltung, die Carolin Emcke in ihrer Rede beschreibt.

Für dieses Buch haben wir eine zweite große Umfrage in der Handwerksorganisation durchgeführt. Mehr als 45 Kammern wirkten mit. Das Engagement ist nicht weniger geworden. Im Gegenteil. Und es wird immer noch gespeist von der gleichen Haltung.

Dieses Buch ist ein Ratgeber, wie Sie einen Geflüchteten in Ihrem Betrieb beschäftigen können, was Sie beachten müssen und wie Sie so ein Projekt angehen können. Es gibt aber auch einen Überblick – den ersten überhaupt – was die Handwerksorganisation in ganz Deutschland für die Integration in die Betriebe auf die Beine gestellt hat. Es sagt Ihnen, wo Sie Rat, Unterstützung und Hilfe bekommen. Und das wollten wir aufschreiben.

München, im November 2016

Olaf Deininger

Chefredakteur „handwerk magazin“

Was wir mit diesem Praxisratgeber erreichen möchten!

Wer Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, in seinem Betrieb beschäftigen möchte (oder es bereits tut), kann sich der Idee aus verschiedenen Gründen genähert haben: Möglicherweise haben Sie jemanden kennengelernt und wollen genau diesem Menschen eine Chance geben, sich ein neues Leben aufzbauen. Oder Sie haben Schwierigkeiten, für Ihr Unternehmen geeignete Mitarbeiter/Fachkräfte zu finden, und möchten auf diesem Weg versuchen, Ihr betriebliches Problem zu lösen.

Vielleicht ist es Ihnen aber auch wichtig, etwas beizutragen zu einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung, indem Sie Geflüchtete in die Arbeitswelt unseres Landes integrieren. Dann wird Sie die Öffentlichkeit als ein weltoffenes und engagiertes Unternehmen wahrnehmen.

Häufig ist es vermutlich eine Mischung aus verschiedenen Motiven, die den Anstoß gibt, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Konkret stehen Sie möglicherweise gerade vor einer dieser Überlegungen:

 Ich kenne jemanden, den ich beschäftigen möchte, und möchte in Erfahrung bringen, ob und wie ich das Beschäftigungsverhältnis gestalten kann. Oder:

 Ich überlege, welche Möglichkeiten mein Betrieb bietet, und möchte dann eine geeignete Person aus dem Kreis der Geflüchteten finden. Oder:

 Ich habe bereits eine Idee, wie das Beschäftigungsverhältnis gestaltet werden kann, möchte aber Tipps und Erfahrungswerte sammeln, wie man möglichen Schwierigkeiten begegnen kann.

Für jeden dieser Ausgangspunkte werden Sie in unserem Ratgeber wichtige Informationen, Hilfen, Tipps und Anregungen finden. Sollten Sie dabei einige wenige Inhalte doppelt vorfinden, so liegt das daran, dass wir versuchen, alle wichtigen Informationen zu einem Thema zusammenzustellen – manche Informationen sind deswegen an mehreren Stellen notwendig.

Dabei befindet sich sowohl die Gesetzeslage wie auch die Realität in sehr dynamischen Prozessen, die sich durch große Komplexität und damit auch Unübersichtlichkeit auszeichnen. Nicht umsonst wird von Akteuren in den entsprechenden Bereichen immer wieder gefordert, doch zumindest die Gesetzeslage und die Fördermöglichkeiten überschaubarer zu machen und sie realtitätsnäher zu gestalten. Auch wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich noch während des Zusammentragens der aktuellen Sachlage juristische und verwaltungstechnische Rahmenbedingungen schon wieder geändert haben oder neue Initiativen entstanden sind. Denn nach langen Jahren des Wegschauens ist die Dringlichkeit, mit der neue Wege gesucht werden müssen, jetzt auch in der Politik und in den wirtschaftlichen und sozialen Institutionen angekommen. Heute gibt es immer mehr – wenn auch auf den ersten Blick unsortierte und unübersichtliche – regionale und überregionale, institutionelle und private Förderinitiativen: von der finanziellen Unterstützung für Betrieb und Geflüchtete über die Hilfe zur Alltagsbewältigung bis hin zur Traumatherapie. Alles bis vor Kurzem keine Selbstverständlichkeit.

So wurde während unserer Recherchephase u. a. das Integrationsgesetz verabschiedet, das an vielen einzelnen Stellen auf die Inhalte einwirkt, die wir mit diesem Ratgeber vermitteln wollen. Was die Integration der Geflüchteten in die Arbeitswelt betrifft, scheint das Gesetz, das im August 2016 in Kraft getreten ist, die Weichen in eine positive Richtung zu stellen. So macht z. B. die sogenannte „3+2-Regelung“, die Betrieben und geduldeten Flüchtlingen den Aufenthalt während einer Berufsausbildung sowie zwei Jahre im Anschluss an die Ausbildung zusagt, eine betriebliche Planung möglich und gibt den Geflüchteten etwas Boden unter den Füßen, damit sie sich besser auf ihre Ausbildung konzentrieren können.

Leider muss aber auch erwähnt werden, dass das Integrationsgesetz neben diesem Lob auch Kritik von Akteuren in der Flüchtlingshilfe erhalten hat, da es über die im Gesetz enthaltenen Sanktionsandrohungen den Anschein erweckt, als wollten sich Flüchtlinge generell nicht integrieren. Auch sehr kritisch gesehen wird, dass verschiedene Personengruppen unterschiedlich behandelt werden: Während Geflüchtete mit statistisch guten Bleibechancen gute Integrationshilfen angeboten bekommen, sind Menschen, die aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland stammen oder rechnerisch keine guten Bleibeperspektiven haben, von Integrationsmaßnahmen ausgeschlossen - dabei berücksichtigt eine statistische Chance nicht den Einzelfall, dem damit oft das Schicksal zugeschrieben ist, jahrelang nicht nur mit der Angst vor Abschiebung, sondern auch ohne Integrationshilfen wie Sprachkurse oder Fördermaßnahmen zur Beschäftigungsaufnahme leben zu müssen. Gesellschaftliche Teilhabe wird damit sehr schwierig.

Der vorliegende Ratgeber kann nicht auf alle Konstellationen von Aufenthaltstiteln, länder- und kommunenspezifischen Regelungen, betrieblichen Bedingungen und persönlichen Merkmalen der Geflüchteten eingehen. Trotz aller Sorgfalt und Bemühungen lässt es sich auch nicht verhindern, dass in diesem Ratgeber eventuell Inhalte zu finden sind, die kurz nach Drucklegung bereits nicht mehr ganz aktuell sind. Insofern erhebt er keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir empfehlen Ihnen deshalb, auch nach lokalen bzw. neuen Angeboten zu recherchieren, die wir hier nicht erfassen konnten. Als erster Ansprechpartner bieten sich dazu Ihre Handwerkskammer, die Agentur für Arbeit und die lokalen Flüchtlingsräte an.

 

Für Politik und Institutionen bringt die bestehende Undurchsichtigkeit weiterhin den Auftrag mit sich, mehr Planungssicherheit und Tranzsparenz für die Betriebe und die Geflüchteten herzustellen, was Aufenthalt, Arbeitserlaubnis und Ausbildungsförderung betrifft. Ebenso ist die Politik dazu aufgefordert, so viele Hebel wie möglich in Gang zu setzen, damit alle Menschen, die in diesem Land leben, hier auch ihren Platz finden können.

In erster Linie wollen wir Sie mit diesem Ratgeber ermutigen. Wir möchten zeigen, dass es unter verschiedenen Aspekten herausfordernd sein kann, Geflüchtete zu beschäftigen. Wir hoffen, dass die zusammengetragenen Informationen und Erfahrungen erkennen lassen, wo es Komplikationen geben kann – insbesondere jedoch, dass es Wege und Hilfen gibt, damit konstruktiv umzugehen.

Unser Ratgeber soll also helfen, eventuelle Schwierigkeiten realistisch einzuschätzen, aber gleichzeitig und vor allem eine Aufforderung sein, die großen Chancen und Potenziale zu nutzen, die in der Beschäftigung von Geflüchteten im Handwerk liegen – für die Geflüchteten, für unsere Betriebe und für die Gesellschaft.

Wenn Sie Anregungen, Fragen oder Tipps haben, freuen wir uns sehr über Ihre Rückmeldung an redaktion@handwerk-magazin.de.

Wiesbaden, im November 2016

Anouschka Wasner und

Holzmann Medien

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

1. Flüchtlinge im Handwerk – eine Win-win-Situation?

1.1 Wer ist das eigentlich – der „Flüchtling“?

1.2 Was motiviert das Handwerk, die Chance zu nutzen?

1.3 Migration bereichert unsere Arbeitswelt und Ihr Unternehmen

1.4 Diversity – Unterschiede als Ressource erkennen!

1.5 Was spricht aus unternehmerischer Sicht für die Beschäftigung von Flüchtlingen im eigenen Betrieb? zilulfzuuilui iholp

2. Wann darf ein Geflüchteter beschäftigt werden?

2.1 Grundlagen für die Beschäftigungserlaubnis

2.2 Was gilt für Geflüchtete mit Aufenthaltstitel?

2.3 Was gilt für Geflüchtete ohne Aufenthaltstitel?

2.4 Die 3+2-Regelung für Geduldete in einem Ausbildungsverhältnis

2.5 Was gilt für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge?

2.6 Das Integrationsgesetz in Kürze

3. Den geeigneten Bewerber finden und einschätzen

3.1 Ist eine handwerkliche Ausbildung immer das Mittel der Wahl?

3.2 Alternativen erwägen, Überforderung vermeiden

3.3 Wie viel integrative Kapazitäten hat Ihr Unternehmen?

3.4 Bewerber mit Potenzial finden – mögliche Wege und Beratungsstellen

3.5 Bleibeperspektive einschätzen

3.6 Sprachniveau einschätzen und den Spracherwerb fördern

3.7 Berufsabschlüsse aus dem Ausland anerkennen

4. Fördermöglichkeiten für Betriebe und Geflüchtete

4.1 Wer hat Zugang zu Unterstützungen der Bundesagentur für Arbeit?

4.2 Zugang zu Arbeitsmarktmitteln für Geflüchtete und beschäftigende Betriebe

4.3 Zugang zu Arbeitsmarktmitteln für Geflüchtete

4.4 Programme zur beruflichen Bildung

5. Auf gute Zusammenarbeit!

5.1 Interkulturelle und soziale Kompetenz

5.2 Was ist ein Trauma, was eine posttraumatische Belastungsstörung?

5.3 Was braucht der neue Mitarbeiter, damit der Einstieg gelingt?

5.4 Was brauchen Vorgesetzter und Team, damit der Einstieg gelingt?

5.5 Was tun, wenn sich Mitarbeiter oder Kunden diskriminierend verhalten?

6. Initiativen der Handwerkskammern

7. Hilfe im Netz

7.1 Links mit mehrsprachigen Angeboten für Ihren neuen Mitarbeiter

7.2 Links zu unternehmerischen Organisationen, die sich für Flüchtlinge engagieren

7.3 Weitere nützliche Links

8. Glossar

Literaturverweise

Die Autorin

Stichwortverzeichnis

1. Flüchtlinge im Handwerk –
eine Win-win-Situation?
1.1 Wer ist das eigentlich – der „Flüchtling“?

An wen denken Sie, wenn Sie sich einen „Flüchtling“ vorstellen? An den 20-jährigen schlaksigen Jungen mit dunkler Haut und Baseballkappe oder an die ältere Frau mit Kopftuch, die nur wenige Worte Deutsch spricht? An den bescheiden wirkenden Lehrer aus Syrien oder an das traumatisierte minderjährige Mädchen, das alleine aus Äthiopien nach Deutschland geflohen ist und viel zu schüchtern ist, um mit Ihnen zu sprechen?

Auch wer versucht, sich von Vorurteilen fernzuhalten, muss erkennen: Es gibt wenige Lebensrealitäten, die in unserer Gesellschaft so über einen Kamm geschoren werden, wie das Phänomen „Flüchtling“. Dabei sind es unendlich viele Personengruppen, die auf ihrer Suche nach Zuflucht nach Deutschland kommen: Frauen, Männer, Kinder aller Alterstufen, aus allen gesellschaftlichen Schichten, mit den verschiedensten Ansichten zu Religion, mit den unterschiedlichsten schulischen und beruflichen Ausbildungen und Fähigkeiten, politischen Hintergründen und Erfahrungen, auf dem Land oder in der Stadt Sozialisierte – und jede und jeder von ihnen ist wie alle Menschen mit den unterschiedlichsten individuellen Erfahrungen und Eigenschaften ausgestattet.

Menschen, die nach Deutschland flüchten, haben nur eine Gemeinsamkeit: Sie suchen Schutz vor etwas so Bedrohlichem, dass sie sich entscheiden, ihre Heimat, ihre Existenz sowie Familie und Freunde zu verlassen, um die beschwerliche, oft lebensgefährliche Flucht nach Europa anzutreten. Keiner flüchtet freiwillig. Äußere Umstände, die die Freiheit, Sicherheit und körperliche Unversehrtheit bedrohen, zwingen dazu. Flüchtlinge suchen Schutz, weil sie Angst davor haben, Opfer von Ermordung, Folter, Vergewaltigung, Inhaftierung, Versklavung oder Hunger zu werden.

Das ist auch aus Sicht der aufnehmenden europäischen Staaten die entscheidende Gemeinsamkeit geflüchteter Menschen. Die Genfer Flüchtlingskonvention definiert einen Flüchtling als eine Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und die aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aufgrund ihrer politischen Überzeugung begründete Furcht vor Verfolgung hat. Dabei kann der Geflüchtete nicht mit dem Schutz durch sein Heimatland rechnen. Nicht alle in Deutschland Zuflucht Suchenden erhalten auf dieser juristischen Grundlage ihren Schutzstatus (dazu an anderer Stelle mehr), gemeinsam ist jedoch allen mit Schutzstatus, dass sie sich bei Rückkehr in ihre Heimat in einer lebensbedrohlichen Situation befänden.

Für einen Handwerksbetrieb, der überlegt, einen Geflüchteten zu beschäftigen, ist das Wissen um diese Zusammenhänge deswegen wichtig, da die Bedingungen, unter denen die Person in Deutschland arbeiten kann, auf der Grundlage des Schutzstatus bzw. Aufenthaltstatus definiert werden (siehe Kapitel 2). Und da ein Flüchtling juristisch ein Flüchtling bleibt, solange er nicht die deutsche Staatsbürgerschaft erhält, ist dieser Status gegebenenfalls lange Zeit ein Thema.

Um die gute Nachricht vorwegzunehmen: Wurde ein nach Deutschland geflüchteter Mensch anerkannt und hat er einen Aufenthaltstitel erhalten, gelten für seine Beschäftigung keine Beschränkungen mehr, auch wenn er eben weiterhin als Flüchtling gilt. Und da der Aufenthaltstitel verlängerbar oder unbefristet ist, besteht in der Regel für ein beschäftigendes Unternehmen ab diesem Zeitpunkt Planungssicherheit. Anerkannte Flüchtlinge bilden die große Mehrzahl innerhalb der Personengruppe der Flüchtlinge!

Will man dagegen eine Person beschäftigen, deren Asylantrag noch nicht bearbeitet wurde bzw. die geduldet ist, ist die Sache mit dem Aufenthalts- und dem Beschäftigungsgesetz nicht so leicht zu überschauen. Leider kann diese Situation manchmal über mehrere Jahre, bei Geduldeten sogar Jahrzehnte andauern. Die erzwungene Untätigkeit (bzw. erschwerte Aktivitätsaufnahme) ist für die Betroffenen nicht nur psychisch extrem schwer zu ertragen. Gleichzeitig vergeht auch wertvolle Zeit, in der bereits viele Schritte in Richtung Integration erfolgen könnten. Diese Umstände können außerdem von jenen, die ein politisches Interesse daran haben, missbraucht werden, um das konstruierte Vorurteil, dass Asylbewerber faul sind und uns auf der Tasche liegen, zu schüren. Aus allen Blickwinkeln heraus ist es also wichtig, eventuelle Widrigkeiten zu überwinden und den Flüchtlingen so früh wie möglich ein Teilnehmen an der Arbeitswelt zu ermöglichen.

1.2 Was motiviert das Handwerk, die Chance zu nutzen?

Die naheliegendste Antwort auf die Frage, warum jemand einen geflüchteten Menschen in seinem Unternehmen beschäftigen möchte, ist doch: „Ja, warum denn nicht?“ Denn letztlich ist immer noch entscheidend, ob jemand sein Handwerk beherrscht – und nicht, aus welchem Land er kommt.

Gesellschaftlich betrachtet birgt die Frage eine schon fast zwingende Logik: Während Deutschland aus demografischen Gründen dringend Bedarf an Zuzugsreproduktion – also eine Erweiterung der Gesellschaft über Zuwanderung – benötigt, sind viele, in der Mehrzahl junge Menschen, aus anderen Ländern neu in dieses Land gekommen. Als einheimischer Bevölkerung bieten sich uns zwei Möglichkeiten: Entweder wir ergreifen die Chance und gestalten die Bedingungen so, dass über eine Integration in den Arbeitsmarkt gleichzeitig das Bedürfnis der Flüchtlinge, sich eine neue Existenz aufzubauen, befriedigt wie auch der Bedarf im hiesigen Arbeitsmarkt gedeckt wird und damit die Existenz manches Betriebes gesichert ist. Oder wir verharren untätig in der Hoffnung, dass wir nur alles Kommende ablehnen müssen, damit die Welt so bleibt, „wie sie immer war“ – und haben in jedem Fall eine Chance verspielt. Denn die Bedingungen für eine Integration in den Arbeitsmarkt müssen gestaltet werden, damit diese erfolgreich sein kann. Dabei lässt sich das, was jetzt nicht getan wird, irgendwann nicht mehr nachholen. [1]

 

Auch für den einzelnen Betrieb gibt es einige sehr konkrete Gründe, die für die Beschäftigung von Geflüchteten sprechen. Diese Gründe, auf die wir nach und nach eingehen werden, sind offensichtlich so überzeugend, dass viele Unternehmen, die bereits Erfahrungen in diesem Zusammenhang gemacht haben, mögliche Herausforderungen gerne in Kauf nehmen. Auch Handwerksbetriebe setzen jetzt bewusst auf jene Menschen, die ihre Hoffnung auf ihre neue Heimat setzen.

Einer der wichtigen anstoßenden Momente für das Engagement der Betriebe liegt tatsächlich in der Notwendigkeit: Für einige Unternehmen ist der vielzitierte Facharbeiter- und Lehrlingsmangel längst bittere Realität geworden. Sie sind kaum noch in der Lage, motivierte Auszubildende und passende Fachkräfte zu finden. Auch wenn diese Entwicklung in den einzelen Regionen unterschiedlich prognostiziert wird: In manchen Gewerken und in manchen Regionen treibt dieser Mangel die Betriebe bis an die existenzielle Grenze. Die Bewerber, die bei den Betrieben vorstellig werden, entsprechen nicht den Anforderungen, während die Handwerksberufe für jene, die auch angesichts gestiegener technischer Anforderungen ausreichend fit wären, an Attraktivität verloren zu haben scheinen – wer kann, versucht ein Studium zu absolvieren, weil er sich mehr davon verspricht.

Diese Lücke kann von den heute hier Ankommenden nicht ohne Übergangsphase ausgefüllt werden. Vielen fehlen zunächst die schulischen und beruflichen Voraussetzungen, um aus dem Stand heraus die Anforderungen zu erfüllen, die das Handwerk an seine qualifizierten Mitarbeiter stellen muss. Und es muss auch bedacht werden, dass sich Menschen, die durch Flucht nach Deutschland gekommen sind, in einer sehr speziellen Situation befinden: Sie haben meistens schwierige Erfahrungen machen müssen, sie kommen mit anderen Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten in das neue Land, sie sprechen die Sprache kaum oder gar nicht – sogar die Frage, ob sie überhaupt bleiben dürfen, ist oft lange unbeantwortet. Damit muss man bewusst umgehen.

Zuversichtlich stimmt angesichts dieser schwierigen Voraussetzungen (auf die wir in den folgenden Kapiteln eingehen werden) eine aktuelle, ins Positive weisende Einschätzung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zur Integration von Flüchtlingen in den deutschen Arbeitsmarkt. [2] Die verbesserte Einschätzung gründet sich u. a. darauf, dass in der jüngeren Vergangenheit endlich damit begonnen wurde, die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen wie z. B. mehr Sprachkursangebote und eine frühzeitigere Vermittlung in arbeitsfördernde Kurse, Praktika und Fortbildungen. Der Studie zufolge dauerte es 2014 rund zehn Jahre, bis die Mehrheit der Flüchtlinge in Beschäftigung war. Bis zu 20 Jahre dauerte es, bis die Beschäftigungsquote bei Flüchtlingen das Niveau der Inländer erreicht hatte. Experten gehen davon aus, dass heute nach fünf bis sechs Jahren 50 % der Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt integriert sein werden.

Das Handwerk hat an dieser Stelle gute Chancen, besonders integrativ zu wirken und selbst davon zu profitieren – und zwar nicht nur im Bereich Aushilfsjobs. Weit über 50 % der Asylsuchenden waren 2015 unter 24 Jahren alt, weitere über 25 % zwischen 25 und 34 Jahre alt [3] – eine große Zahl hat also keine Ausbildung, aber noch ein langes Erwerbsleben vor sich. Diese vielen jungen Menschen sind oft hoch motiviert, müssen aber teilweise zunächst befähigt [4] werden, weil sie manchmal jahrelang auf der Flucht waren und in ihren Heimatländern häufig weniger Bildungschancen hatten.

Und selbst in Ländern, in denen ein relativ hoher Bevölkerungsanteil über eine schulische Bildung verfügt, kann offensichtlich nicht unter allen Aspekten von Vergleichbarkeit ausgegangen werden: Studien zu mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen der heute 18-Jährigen zeigten, dass in Deutschland 16 % der Schülerinnen und Schüler nicht über die absoluten Grundkompetenzen hinauskommen, während das in Syrien beispielsweise 65 % der Schülerinnen und Schüler betrifft. Dieser Umstand müsse bei Überlegungen zur Arbeitsmarktintegration beachtet werden, sagen Experten und betonen die Notwendigkeit von Angeboten, die jedem der hier Ankommenden die besten Optionen liefert. Mehr Ausbildungsbegleiter, teilqualifizierende Berufsausbildungen – die im Handwerk angesichts des großen Bedarfs an qualifizierten Kräften wiederum kritisch gesehen werden – und mehr Gewichtsetzung auf die praktischen Anteile einer Ausbildung könnten einen schnelleren Berufseinstieg für jene ermöglichen, die sich vielleicht zunächst noch Grundkompetenzen aneignen müssen. [5]

Der Hinführung zu einem Berufseinstieg dienen auch überbetriebliche Maßnahmen (Kapitel 6), oft von den Kammern organisiert, die spezielle Zusatzlehrinhalte speziell für Geflüchtete vermitteln. Die Betriebe können große Hilfestellung geben, indem sie Praktikumsplätze zur Verfügung stellen und den jungen Menschen so ermöglichen, reale Erfahrungen zu machen, die sie auf ihre berufliche Laufbahn hier in Deutschland vorbereiten. Nach einer individuellen Vorbereitungszeit geht es dann darum, den jungen Geflüchteten in eine Ausbildung zu bringen.

Gleichzeitig bietet der Karriereweg in unserem handwerklichen Fortbildungssystem mit der am Anfang stehenden dualen Ausbildung aber auch eine besondere Attraktivität für jene Flüchtlinge, die den direkten Einstieg in eine qualifizierte Laufbahn schaffen können: noch nicht ausgebildete, aber über eine Grundbildung verfügende Flüchtlinge, die darauf brennen, hier einen guten Einstieg mit Perspektive zu finden, und Flüchtlinge, die bereits berufliche Erfahrungen mitbringen, Studiengänge begonnen hatten oder in technischen Berufen gearbeitet haben, die hier nicht voll anerkannt werden können. Immerhin haben 52 % der Menschen, die im Jahr 2015 einen Asylantrag gestellt haben, eine Mittelschule oder ein Gymnasium besucht. 65 % dieser Flüchtlinge sind im Herkunftsland bereits einer Erwerbstätigkeit nachgegangen, im Iran und Pakistan waren es rund 80 % [6] – eine recht hohe Zahl in Anbetracht des niedrigen Durchschnittsalters der Schutzsuchenden.

Um die hohe Attraktivität des Handwerks auch für jene, die bereits im Herkunftsland relativ gut ausgebildet wurden, einschätzen zu können, muss man sich vor Augen führen, welches berufliche Niveau über eine duale Ausbildung und die guten Fortbildungsmöglichkeiten in Deutschland erreicht werden kann. Nicht von ungefähr sind deutsche Handwerker international so geschätzt. Oft entspricht das, was in Deutschland eine handwerkliche Ausbildung ist, in den Herkunftsländern einer Art Studium bzw. einer berufsbezogenen Fachoberschule oder Fachhochschule.

Und gleichzeitig ermöglicht die Praxisorientierung der Handwerksausbildung für die Neuankömmlinge einen leichteren Zugang für die Menschen, die am Anfang ihres neuen Lebens neben dem beruflichen Einstieg auch noch mit dem Spracherwerb und dem Einfinden in das neue Land konfrontiert sind. Hier liegt eine große Chance für Handwerksbetriebe, qualifizierte und loyale Mitarbeiter an sich zu binden.

Menschen zu unterstützen, die gezwungen waren, aus ihrer Heimat zu flüchten, und sich hier ein neues Leben aufbauen müssen, sollte grundlegender Bestandteil einer gesellschaftlich-humanitären Motivation sein, Flüchtlinge bei ihrer Integration ins Arbeitsleben zu fördern – die Menschen sind nicht geflüchtet, um unseren Fachkräftemangel zu mildern, sondern mit der Hoffnung auf ein besseres bzw. überhaupt ein Leben. Aber um das Zusammengehen auf dem Arbeitsmarkt für den einzelnen Betrieb tragfähig zu machen, muss jeder einzelne „Deal“ funktionieren und eine Win-win-Situation daraus entstehen.

Das ist ein erreichbares Ziel: Betriebe, die aufgrund ihres für Flüchtlinge attraktiven Arbeitsumfeldes – durch sprachliche Flexibilität, kulturelle Aufgeschlossenheit und gute Arbeitsstrukturen – Menschen mit entsprechenden beruflichen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten einstellen konnten, haben gute Erfahrungen gemacht und wollen auch weiterhin auf diesem Weg motivierte und loyale Mitarbeiter an ihren Betrieb binden.

Die Werkstatt Kolbenfresser wurde 1982 als Betrieb in Selbstverwaltung gegründet. Heute arbeiten dort einschließlich der drei Geschäftsführer acht Mitarbeiter aus fünf Ländern.

Wolfgang Spalding, einer der drei Inhaber der freien Kfz-Werkstatt Kolbenfresser in Wiesbaden:

>> Unser Azubi Amir ist jetzt 18 Jahre alt. Er ist Kosovo-Albaner und im Februar 2015 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling ohne Familie nach Deutschland gekommen. Ein weiterer Expraktikant und unser zukünftiger Umschüler ist ein 33-jähriger Syrer, der mit Frau und drei Kindern aus Aleppo vor den IS-Milizen fliehen musste. Er hatte dort eine eigene Werkstatt und eine Art Berufsfachschule abgeschlossen.

Klar, es bindet ja schon ein bisschen Arbeitskraft, jemanden in dieser Situation in einen Betrieb unterzukriegen, wir investieren hier. Wir haben auch überlegt, ob das Risiko nicht zu groß ist. Aber Amirs Chancen auf einen guten Aufenthalt seien sehr groß, wenn wir ihn erstmal ausbilden und beschäftigen, sagt die Ausländerbehörde.

Und ob Flüchtling oder nicht, die beiden passen super in unseren Betrieb und sind einfach gut – und wir haben hier einige Auswahl, die Praktikanten geben sich bei uns die Klinke in die Hand. Man darf keine Vorurteile oder Berührungsängste haben, nur dann kann man die Chance auch erkennen. Die zwei haben uns so gut gefallen, dass wir seit 34 Jahren zum ersten Mal zwei Auszubildende haben. Ich schätze, dass sie bis zum Ende ihrer Ausbildung bzw. Umschulung alle Nachteile, die ihnen durch das Einleben und die fehlenden Sprachkenntnisse entstehen, aufgeholt haben.

Für uns wäre es theoretisch auch naheliegend gewesen, Flüchtlinge aufzunehmen, um unseren Beitrag in der Gesellschaft zu leisten. Aber das wäre ein hoher Anspruch für eine so kleine Firma gewesen. Wir nehmen ja schon quasi durchgehend Praktikanten: Der nächste kommt aus Afghanistan. Und jetzt wird’s auch langsam eng – wir passen schon nicht mehr alle an den Pausentisch! (lacht)