Die rote Köchin

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Die rote Köchin
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Anonym

Die Rote Köchin

Geschichte und Kochrezepte einer spartakistischen Zelle am Bauhaus Weimar

Aus dem Italienischen von Ambros Waibel


Anonym

Der anonyme Verfasser kaufte im Auftrag

eines Freundes in einer kleinen Tessiner

Galerie ein winziges Aquarell von

Paul Klee, ein Geschenk des Meisters an

seine Schülerin Hannah R. Die Galeristin

ist die Enkelin der Roten Köchin, von

ihr erfuhr er deren Geschichte, die er

niederschrieb.

Copyright der italienischen Originalausgabe:

© DeriveApprodi srl, Rom 2003

Originaltitel: »La cuoca rossa. Storia di una

cellula spartachista al Bauhaus di Weimar.

Con un ricettario di cucina tedesca«

Copyright der Übersetzung:

© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz 2012

Alle Rechte vorbehalten.

2. Auflage 2013

print-ISBN 978-3-931555-59-7

e-ISBN 978-3-955755-96-6

Lektorat: Sonja Vogel

Cover: Oliver Schmitt

Ventil Verlag

Boppstraße 25, 55118 Mainz

www.ventil-verlag.de

Inhalt

Weimar, warum nicht? Von Dietmar Dath

Vorgeschichte

Vorrede

Vorspeisen

Heringe nach Art der Kronstädter Matrosen

Forellenfilets à la Braunberger

Terrine von Hering und Hecht

Großer Kartoffelsalat

Grüne Erbsen auf Holsteiner Art

Wirsingrouladen

Salat mit Entenschinken

Brunnenkresse-Creme mit Fröschen

Zwiebelkuchen

Schneehuhnterrine mit Portwein

Königsberger Klopse

Heringswürfel

Gefüllte Zwiebeln

Entenbrust auf Wirsing

Ochsenzunge auf Rosinensauce

Kartoffelpastete mit Räucherlachs

Gemüseartischocken mit Mark

Kraut auf westfälische Art

Geschmorte Salatherzen

Forellenauflauf mit Krabben

Kotlety Rublennye

Karpfenfilets mit Kraut

Leberauflauf

Jan im Sack

Biersuppe

Holundersuppe

Leber-Knyll in Brühe

Zanderrouladen in Mandel-Sahne-Sauce

Aalsuppe

Weichselkirschensuppe

Akaziencreme

Fette Specksuppe

Potée à la Weimar

Hauptgerichte

Schnecken nach Bauernart

Hopfensprossen mit Rührei

Hirnsuppe

Hamburger

Aal mit Speck

Gedünstete Schleie

Donaustör

Karpfen auf sächsische Art

Hecht geschmort

Bachforellen gemehlt

Kabeljau norwegisch

Luthers Schellfisch

Kabeljau mit jungen Kartoffeln und Frühlingszwiebeln

Seehecht italienisch

Bratwurstnester mit Weißwein

Blutsuppe mit Äpfeln

Hühnerfrikassee à la Kiel

Schinken mit Wiesenheu

Wachteln an marinierter Gänseleber

Kraut mit der Laus

Rehkeule mit Maronen und Quitten

Rinderlende mit Zwiebeln

Hasenrücken nach Art des Jagdzirkels

Holzbein mit Bandnudeln auf italienische Art

Rebhuhnkasserolle mit Renette-Äpfeln

Kaiserfasan

Hirschkotelettes mit Linsen

Dessert

Reibekuchen

Faschingskrapfen nach Grazer Art

Kekse der Polnischen Schwestern

Kissel mit Blaubeeren

Spartakistenpudding

Soufflé à la Kirsch

Stachelbeer-Kaltschale

Beignet mit Renette-Äpfeln

Pudding mit Waldbeerensaft

Blaubeerkuchen

Feine Pfannkuchen mit Blaubeeren und Himbeeren

Anisbogen

Gefüllte Orangen

Bayerische Creme mit Himbeeren

Kirschdessert à la Elfriede Petri

Gugelhopf hessische Art

Zabaione mit Kirsch-Ingwer-Sauce

Reistorte mit schwarzen Johannisbeeren

 

Plum-cake

Liszt-Mokka

Gestürzte Apfeltorte

Kirschflan

Thüringer Charlotte

Glossar

Weimar, warum nicht?

Meistens, wenn ich in Weimar bin, gibt es da zwielichtige Kunst, gutes Essen und kommunistische Streitigkeiten. Das war schon so, als ich noch nicht wusste, wie ölig die Nudeln in der Nähe des Thälmann-Denkmals schmecken und dass man die Pommes, die es unweit des härtesten Goetheviertels gibt, nicht zu dem ganz woanders gelegenen Metalltor mitnimmt, an dem Hammer und Sichel prangen, sondern gefälligst in der Kneipe aus der Schüssel isst, und zwar ohne Soßenmatsch und Ketchup-Kleister, rotgepudert und blitzgesalzen, wie sie eben sind. Die Leute hier machen Radio, Ausstellungen und Flohmärkte. Man hält es gut aus in Weimar.

Früher, sagt das Buch, das gleich anfängt, gab es in Weimar auch kommunistisches Essen, gute Kunst und zwielichtige Streitigkeiten sowie außerdem kommunistische Kunst, zwielichtiges Essen und gute Streitigkeiten.

»Was tun?«, Titel eines netten russischen Romans und einer wertvollen russischen Abhandlung, fragten die Leute, von denen das Buch handelt, in den Zeiten, von denen das Buch spricht, das gleich anfängt, lieber nicht allzu lange, weil sie wussten, dass man sich, wenn man das allzu lange fragt, leicht zwischen den zwei möglichen Deutungen dieses Fragesatzes verläuft, er heißt ja sowohl »was kann man machen?« wie »was sollte man machen?«, das ist weiß Gott nicht dasselbe. Sie machten lieber so was: »Seit einigen Wochen nutzen wir eine aus Moskau stammende Taktik, die Wilhelm erforscht hat: Versteckt auf Dächern und Bäumen vor den Fabriken werden Lautsprecher installiert und Parolen ausgegeben.« Schäm dich, faules Internet!

Die italienische Fassung dieses Buches, von der man mir erzählt, dass sie erfolgreich war und ist, kenne ich nicht. Dass Ambros Waibel, ein rundum hervorragender Mensch, der manchmal bei ganz schrecklichen Zeitungen arbeitet und sowohl erfundene wie wirklich vorgekommene, immer aber wahre Geschichten erzählen kann, das Buch jedenfalls ausgezeichnet übersetzt hat, kann ich aber trotzdem erkennen, denn es schmeckt gut (das liegt am Champagnerpfeffer, mit dem er es gewürzt hat und der natürlich, genau wie der Geschmack des Buches, eine Metapher ist – heute muss man so was ja erklären, sonst versuchen welche, das Ding aufzuessen, und tun sich hinterher mit ihrem Bauchweh dick).

Ob das alles so gewesen ist, wie das Buch nahelegt, weiß ich nicht, aber wer es liest, um sich einen Besuch beim Bauhaus, das Selberkochen, die Lektüre des Paul-Klee-Comics von Christophe Badoux oder eigene kommunistische Praxis zu ersparen, ist sowieso bescheuert. Es geht doch darum, sich daran erinnern zu lassen, dass man vieles, was man machen sollte, auch tatsächlich machen kann.

Darum geht es übrigens in jedem Buch, das man nicht ungelesen wegschmeißen muss.

Aber nicht alle schmecken so gut wie dieses.

Champagnerpfeffer.

Lautsprecher.

Nicht stehenbleiben.

Weiterlesen.

Dietmar Dath

Die Rote Köchin

»Partisan ist und wird jeder sein,

der die Faschismen bekämpft.«

Pietro Chiodi

Vorgeschichte

Ich habe Ihnen das Bild mitgebracht und noch etwas anderes, das Sie interessieren könnte, sagte sie, und schob mir einen großen Packpapier-Umschlag zu. Er war abgewetzt und mit einer Kordel umwickelt. Das ist alles, was von ihr geblieben ist. Machen Sie etwas Gutes damit. Dann lächelte sie: Einen Kaffee? Sehr gern.

Wir hatten uns ein paar Tage zuvor kennengelernt, in ihrer kleinen Kunstgalerie im Zentrum von Ascona. Sie war spezialisiert auf Nebenwerke der mitteleuropäischen Avantgarde, Stiche und Zeichnungen der großen Meister. Ein Freund aus Mailand, Sammler und Mäzen, hatte mich gebeten, ein kleines Aquarell von Paul Klee zu begutachten und dieses, bei Gefallen, für ihn zu erwerben. Ich habe keine Zeit, sagte er mir, und im Übrigen möchte ich auch nicht, dass man weiß, dass ich der Besitzer bin. Verhandele den Preis, lass es Dir jedenfalls auf keinen Fall entwischen, wenn es echt ist. Gib aus, was Du für angemessen hältst, ich lasse Dir über mein Sekretariat eine Vollmacht zukommen, damit Du das Geld direkt von meinem Schweizer Konto abheben kannst. Das Bild ist klein, leg es in ein Buch und bring es mir, sobald es Dir passt.

Die Galerie lag in der Nähe der Uferpromenade. Sie hatte ein großes Schaufenster, war innen aber winzig und sehr gepflegt. Den Eingang bewachten eine verdorrte Palme und ein Springbrunnen. Im Fenster standen Bronzen, die ich nicht zuordnen konnte, im Inneren konnte ich einige Stiche von Victor Brauner erkennen, aus dem Alterswerk, von denen ich wusste, dass sie von Upiglio in Mailand gedruckt worden waren, dazu ein paar ganz hübsche handkolorierte Stiche von Sonia Delaunay.

Ein Glöckchen am Eingang meldete mein Eintreten. Hinter einem Empire-Schreibtisch saß eine Frau und schrieb. Sie hob den Kopf und nahm die Brille ab. Es roch nach Hamamelis-Parfüm. Kann ich Ihnen helfen? Bekannte haben mir gesagt, Sie hätten ein Aquarell von Klee zu verkaufen, aus dem Jahr 1921. Ich würde es gern sehen. Schweigend betrachtete sie mich einen Augenblick lang, wie um abzuschätzen, ob ich als Kunde oder nur aus Neugierde gekommen war. Dann sagte sie mit starkem deutschen Akzent: Ich habe es im Moment nicht hier. Sie müssten später noch einmal vorbeischauen. Wir verabredeten uns für den frühen Nachmittag des folgenden Tages. Ich dankte ihr und verabschiedete mich. Von draußen sah ich, wie sie einen Moment inne hielt. Dann beugte sie sich wieder über ihre Papiere.

Mich wiederzusehen überraschte sie, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Folgen Sie mir, sagte sie. Ihr Auftreten machte sie attraktiv, ich wusste genau, was es war: Selbstbewusstsein. Sie tippte eine Nummer auf der Tastatur des Telefons – wohl ein Sicherheitscode, der sie mit einem Wachdienst verband –, nahm aus einer Schublade einen Schlüssel und öffnete damit eine Tapetentür hinter sich. Sie führte mich in einen kleinen Lagerraum voller Regale, in denen Bilder wie Bücher in einer Bibliothek aufgereiht waren. In einer Ecke stand eine Staffelei und auf ihr, von einem Spot angestrahlt, war der Klee, den ich suchte. Wie Sie sehen, habe ich Sie erwartet. Aber ich weiß nicht, ob ich verkaufen will. Das hängt vom Preis ab, nehme ich an. Nein, vom Käufer. Es kam mir vor, als sei ihre Stimme plötzlich hart geworden.

Darf ich es mir ein bisschen näher ansehen, fragte ich. Sie presste die Lippen zusammen, erlaubte es aber. Ich nahm das Bild in die Hand. Es war großartig. Um das Eis zu brechen, sagte ich: Wenn ich es kaufe, kann ich es bar in Schweizer Franken zahlen oder mit einer Überweisung auf Ihre Hausbank, ganz wie Sie möchten. Sie fixierte mich, ohne zu antworten. Natürlich müssten Sie mir die Expertisen zeigen, auch wenn ich sie, ehrlich gesagt, so wie ich das Bild einschätze, gar nicht bräuchte. Sie verzog das Gesicht, vielleicht war es ihre Art zu lächeln, dann sagte sie leise, das Bild gehört meiner Familie schon immer, praktisch von dem Tag an, an dem es entstanden ist. Ich sah sie neugierig an. Sie fuhr fort: Er schenkte es meiner Großmutter, als er am Bauhaus unterrichtete. Sie bewunderte ihn. Sie erzählte immer wieder, er sei ein Mann gewesen, der nur für die Wahrheit und die Schönheit gelebt habe. Sie war seine Schülerin im Kurs für … wie sagt man das auf Italienisch, sie suchte nach Wörtern, Glasmalerei und Weben? Irgendwo habe ich auch noch ein Foto von ihr, wie sie Klee beobachtet, während er das Bild vollendet. Ihre Großmutter war am Bauhaus in Weimar? Das ist eine lange Geschichte, sagte die Frau, und sah mir in die Augen. Wenn ich mich entscheide, es zu verkaufen, und Sie es kaufen wollen, erzähle ich sie Ihnen vielleicht.

Wir diskutierten ein wenig über den Preis, ich war aber nicht bei der Sache. Mich beschäftigte, was sie erzählt hatte. Sie war ungefähr in meinem Alter und noch gut in Form. Ich lud sie zum Essen ein. Ich wollte den Abend nicht allein an einem Tisch im Schweizerhof verbringen, wo ich abgestiegen war. Wenn Sie es verkaufen wollen, nehme ich es sofort, und wir können uns später sehen – schlagen Sie ein Restaurant vor, Sie kennen sich hier aus. Sie dachte lange darüber nach, während sie die Dinge auf ihrem Schreibtisch ordnete. Den Kaufpreis zahlen Sie auf mein Konto bei der Credit Suisse ein, in der Filiale hinter dem Postamt. Sie seufzte, fixierte mich noch einmal, dann hatte sie sich entschieden: Zum Essen kommen Sie lieber zu mir, ich schreibe Ihnen die Adresse und die Telefonnummer auf, falls Sie es sich noch anders überlegen. Ich wohne ganz in der Nähe. Und zwar, wie ich dann feststellte, in der Gasse Contrada Maggiore, in einem roten Häuschen mit einem alten Marmorspringbrunnen in der Ecke des kleinen Atriums, über und über geschmückt mit Vasen voller Geranien und Orangenbäumchen. Sie versorgte die Blumen, die ich mitgebracht hatte, und bot mir ein Glas Madeira an. Ich habe eine Tessiner Spezialität für Sie vorbereitet. Früher habe ich sehr gern gekocht, aber in letzter Zeit hatte ich kaum mehr Gelegenheit dazu. Es gibt geschmortes Zicklein, dazu Kastanien-Quenelles mit Waldkräutern.

Das Haus war voller Erinnerungen, Bücher und Schwarzweiß-Fotografien. Große Werke sah ich nicht, aber alle trugen sie liebevolle Widmungen. Im Wohnzimmer, neben einem weißen Sofa, standen zwei Exemplare des berühmten Stahlclubsessels von Marcel Breuer. Das Leder war alt und hier und da lag auf dem Metall leichter Rost. Das sind Prototypen, sagte sie, meine Großmutter hatte sie auf ihrer Bude – und jetzt stehen sie hier. Ich nahm die Gelegenheit wahr, sie nach ihrer Großmutter zu fragen, erzählen Sie, sagte ich, Sie haben es mir versprochen. Sie lächelte.

Sie hieß Hannah, aber die Studenten des Bauhauses gaben ihr einen Spitznamen: »Die rote Köchin«. Von ihr habe ich Kochen gelernt, sagte sie und trank einen Schluck Wein, und die Liebe zur Kunst geerbt. Sie ist 1956 in Russland gestorben, sagte sie dann abrupt. Jedenfalls vermuten wir das. Sie war Spartakistin. Als der Ungarnaufstand ausbrach, stieß sie zu ihren alten Genossen, die wieder eine Zelle gegründet hatten. Aber sie wurde verraten, vom KGB festgenommen und nach Moskau verschleppt. Da verlieren sich die Spuren. Wir versuchen immer noch, mehr über ihr Schicksal zu erfahren, doch die neuen Herren im Kreml sind schlimmer als die alten. Es folgte ein bedrückendes Schweigen.

Draußen hatte es zu regnen begonnen, die gelben Lampen des Rathauses schienen heller zu leuchten. Unten auf der Straße liefen Jugendliche lachend vorbei. Sie sagten, die Zelle sei wieder gegründet worden: Was meinen Sie damit? Das ist eine lange Geschichte, wiederholte sie mit einem scheuen Lächeln. Aber nun war ich in diese Geschichte hineingeraten und ich beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen: Dass der Klee nicht für mich war, und dass ich mich mehr für ihre Großmutter interessierte als für moderne Kunst. Das hatte ich schon verstanden, sagte sie, ich habe Sie extra deswegen eingeladen. Sie sind auch nicht so unbekannt, wie Sie glauben. Ich werde Ihnen alles erzählen und Ihnen auch die Dokumente zeigen. Und ich hoffe, dass ich damit keinen Fehler mache. Aber erst regeln wir die andere Angelegenheit. Hier ist meine Kontonummer. Wenn Sie mir morgen früh die Einzahlung belegen, bringe ich Ihnen den Klee um elf ins Hotel. Und hier, das ist für Sie. Sie nahm ein kleines Metallobjekt von einem Beistelltisch und gab es mir. Es war ein Benzinfeuerzeug aus Aluminium, würfelförmig, mit einem Messingknopf an der Seite, mit dem man es öffnete und entzündete. Meine Großmutter hat es entworfen, ich rauche nicht, nehmen Sie es. Aber jetzt essen wir, der Braten ist fertig.

Dieses Buch ist aus den Erzählungen dieses Abends entstanden und mit dem Material aus dem Umschlag. Es ist die Geschichte von Hannah R. und einer »Roten Zelle«, die einige Studenten am Bauhaus Weimar gründeten. Sie waren alle jung und voller revolutionärem Enthusiasmus, sie wollten die Welt wie den Alltag verändern. Manche verloren ihr Leben dabei. Aber bei allen wuchs in diesen Jahren ein Gefühl der Ohnmacht, der Entfremdung und des Schreckens. Sie hatten verstanden, dass die letzte Schlacht gegen die schlimmste aller politischen Horrorvisionen noch bevorstand: den Faschismus. Angesichts der Geschichte und der Leidenschaften dieser jungen Menschen und trotz ihrer Irrtümer – sagen wir es ruhig mal wieder mit Karl Marx: »Brav gewühlt, alter Maulwurf!«

 

»… Weißt Du, Hannah: Kochen, das ist das praktische Wissen um die kleinen Dinge, alte und edle, aber für uns ist es noch mehr: Eine clowneske Art, dem Wahnsinn dieser Zeiten zu widerstehen.«

Hans

Vorrede

Der erste Teil dieses Kochbuchs ist von der Chronologie her verworren, gibt jedoch auf seine Art auch die gesellschaftlichen Umstände wieder, die von der Autorin in ihren Erinnerungen festgehalten werden. Die fortlaufende Zählung der Manuskriptseiten beginnt mit einem Rezept, das auf eine Unterrichtsstunde Paul Klees Bezug nimmt, der allerdings seine Tätigkeit am Bauhaus erst 1922 aufnahm. Im Folgenden ist dann die Rede von früheren Ereignissen, ganz so, als hätte die Autorin ihre Hommage dem Lehrer erweisen wollen, den sie und ihre spartakistische Zelle als einzigen am Bauhaus so sehr schätzten, dass sie ihn »Meister« nannten.

Wann genau dieser Haufen junger Leute die Zelle gegründet hat, wissen wir nicht. Aber aus den Zeitumständen können wir ableiten, dass es zwischen dem 30. September 1918 – als Ludendorff und Hindenburg dem Kaiser mitteilten, dass der Krieg verloren war – und April 1919 gewesen sein muss: In diesem Monat erschien ein von Walter Gropius verantwortetes Flugblatt, das die Fusion der »Großherzoglich Sächsischen Hochschule für Bildende Kunst« mit der »Kunstgewerbeschule Weimar« unter der neuen Bezeichnung »Staatliches Bauhaus in Weimar« bekannt gab.

Die Rezepte sind hier und da formal überarbeitet worden, der autobiografische Teil nicht. Als Ensemble bilden die Aufzeichnungen ein seltenes Dokument deutscher Küche, ja, einer spezifisch »nordischen« – im Gegensatz zu der heute weit verbreiteten »dieta mediterranea«, der Mittelmeerdiät. Bei genauem Hinsehen wird der Kenner viele Archetypen dessen finden, was seit den 1970er-Jahren als Marktküche bekannt geworden ist und schließlich zur Nouvelle Cuisine führte. Im Allgemeinen sind die Angaben für sechs Personen gerechnet. Fast alle Rezepte sind in der ersten Person geschrieben, ein paar jedoch, darunter das erste, in der dritten: Als ob die Autorin ihre autobiografischen Aufzeichnungen nach und nach in eine Erzählung hätte umwandeln wollen.

In den Dokumenten, die dem Kochbuch beiliegen, wird Folgendes berichtet: Das Restaurant, das die Protagonisten und Autoren der Rezeptsammlung übernahmen, wurde ihnen von den Verwandten des Vorbesitzers übertragen, einem der zahllosen, gesichtslosen Opfer jenes Krieges. Das Lokal befand sich in der Nähe des Weimarer Fürstenplatzes, nicht weit von der Bibliothek.

Vorspeisen

Heringe nach Art der Kronstädter Matrosen

Folgt nicht meiner Hand, folgt dem Thema. Nehmt mit eurer Sensibilität die entstehende Form vorweg, wie wenn ihr den Sinn der Figur schon im Entstehen begreifen würdet. Jenseits der großen Fenster des Atriums schien ein bleierner Himmel im Begriff, auf die Erde zu stürzen. Die Luft war feucht, wir froren. Dämmerung setzte ein. Die Stimme des Meisters schien zu zittern, aber seine Augen leuchteten. »Meister« – so hatten wir angefangen, ihn zu nennen, ein wenig scherzhaft, aber auch, weil er, wie Ewa immer sagte, der einzige war, der einem Engel glich.

Entschlossen lief seine Hand über das Papier. Na bitte, sagte Hans, er hat wieder einen Fisch gezeichnet. Aber nein, Dummerchen, grinste Hannah ihn an, das ist kein Fisch! Jedenfalls kein Fisch im wörtlichen Sinn, es ist eine Allegorie der Leichtigkeit, der Zerbrechlichkeit. Der Zustand von Wehrlosigkeit in einem Meer finsterer Gewalten. Es ist eine Metapher für Deutschland, dachte Hans, als ein erster Donner den Regen ankündigte. Die Hand verschob sich auf dem Blatt nach unten, hielt über einem Knäuel von Linien inne. Dann setzte sie einen Punkt, dort wo jemand, der nicht zeichnen kann, ihn auch hingesetzt hätte, einfach so. Das Linienknäuel verwandelte sich in ein Gesicht.

Lächelnd sah Hans zu Hannah. Hast Du gesehen? Ein Punkt – und alles ändert sich. Ein Pferdewagen der Straßenreinigung bog am Ende der Straße rumpelnd um die Ecke. Hans blickte auf, er wollte die Sterne am Himmel sehen, aber an diesem Abend zeigten sie sich nicht. Vielleicht reicht ein Punkt, dachte er. Aber um ihn zu setzen, musste man wie der Meister sein, ein Kind, überzeugt davon, dass im eigenen Empfinden die absolute Macht über Leben und Tod lag. Er dachte an die Worte seines Zugführers: Im Bürgerkrieg muss man Voraussicht entwickeln. Man muss wissen, was der Feind, die Zielperson will, bevor sie selbst es weiß. Wie sagte es Dostojewski in den »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch«? Ein Prosit auf mein unterirdisches Versteck!

Die Übungsstunde ging zu Ende. Im Korridor war es schon dunkel. Jemand hatte eine Fackel im Garten angezündet. Hannah stieß zu den Freunden. Beeilen wir uns, sagte Martin, heute Abend haben wir Dienst, wir müssen uns um die Vorspeisen kümmern.

Dies ist ein Rezept eines alten Matrosen aus Oranienbaum, wo er im Soldatenrat der Stadt saß. Die sehr frischen Heringe ausnehmen, ohne den Rogen zu entfernen. Gut abtrocknen und mit einem Küchentuch die Schuppen abreiben. An jeder Seite zweimal einschneiden und mindestens vier Stunden in Salz marinieren. Es reicht eine Handvoll für jeweils sechs Heringe. Wenn sie mariniert sind, die Heringe waschen und in einer Pfanne auf einem Bett von Zwiebelringen und mit Petersilie, ein wenig Anis und Thymian, ein paar frisch gemahlenen Pfefferkörnern und einem Lorbeerblatt anordnen. Die Heringe mit einer Mischung aus Honigessig und 1 TL Wodka beträufeln, mit Zwiebelringen und einer als Julienne geschnittenen Karotte bedecken. Das Ganze aufkochen, dann bei niedriger Flamme 15 min mit Deckel köcheln lassen. Die Heringe vor dem Servieren in ihrem Saft abkühlen lassen.