Einführung in die Ethik

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Einführung in die Ethik
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Annemarie Pieper

Einführung in die Ethik

7., aktualisierte Auflage

A. Francke Verlag Tübingen

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8463-4696-9

Inhalt

  Vorwort

  Einleitung

  1 Die Aufgabe der Ethik 1.1 Herkunft und Bedeutung des Wortes »Ethik« 1.2 Die Rolle der Moral in der Alltagserfahrung 1.3 Der Ansatz ethischen Fragens 1.4 Der Vorwurf des Relativismus

 2 Ethik als praktische Wissenschaft2.1 Disziplinen der praktischen Philosophie2.1.1 Politik2.1.2 Rechtsphilosophie2.1.3 Ökonomik2.2 Disziplinen der theoretischen Philosophie2.2.1 Anthropologie2.2.2 Metaphysik2.2.3 Logik2.3 Teildisziplinen der Ethik2.3.1 Pragmatik2.3.2 Metaethik2.4 Die Autonomie der Ethik2.5 Angewandte Ethik2.5.1 Medizinische Ethik2.5.2 Bioethik2.5.3 Sozialethik2.5.4 Wirtschaftsethik2.5.5 Wissenschaftsethik2.5.6 Ökologische Ethik2.5.7 Friedensethik2.5.8 Weitere Spezialethiken; Ethikkommissionen2.6 Die Bedeutung der Ethik für die menschliche Praxis

 3 Ethik als praktische Wissenschaft unter anderen praxisbezogenen Wissenschaften3.1 Ethik im Verhältnis zu empirischen Einzelwissenschaften3.1.1 Psychologie3.1.2 Soziologie3.1.3 Biologie3.2 Ethik im Verhältnis zu normativen Wissenschaften3.2.1 Theologie3.2.2 Jurisprudenz3.3 Ethik und Pädagogik3.3.1 Die ethische Dimension der Pädagogik3.3.2 Pädagogisch vermittelte Ethik

  4 Grundfragen der Ethik 4.1 Glückseligkeit 4.2 Freiheit und Determination 4.3 Gut und Böse

  5 Ziele und Grenzen der Ethik 5.1 Ziele 5.2 Grenzen

 6 Grundformen moralischer und ethischer Argumentation6.1 Moralische Begründungen6.1.1 Bezugnahme auf ein Faktum6.1.2 Bezugnahme auf Gefühle6.1.3 Bezugnahme auf mögliche Folgen6.1.4 Bezugnahme auf einen Moralkodex6.1.5 Bezugnahme auf moralische Kompetenz6.1.6 Bezugnahme auf das Gewissen6.2 Ethische Begründungen6.2.1 Logische Methode6.2.2 Diskursive Methode6.2.3 Dialektische Methode6.2.4 Analogische Methode6.2.5 Transzendentale Methode6.2.6 Analytische Methode6.2.7 Hermeneutische Methode

 7 Grundtypen ethischer Theorie7.1 Neutralität oder Engagement? Zur Haltung des Moralphilosophen7.1.1 Das theoretische Erkenntnisinteresse7.1.2 Das praktische Erkenntnisinteresse7.1.3 Die Rolle der Kritik in der Ethik7.2 Modelle einer deskriptiven Ethik7.2.1 Der phänomenologische Ansatz (Wertethik)7.2.2 Der sprachanalytische Ansatz (Metaethik)7.2.3 Der evolutionäre Ansatz (Naturalistische Ethik)7.2.4 Der körperbewusste Ansatz (Leibzentrierte und emotivistische Ethik)7.3 Modelle einer normativen Ethik7.3.1 Der transzendentalphilosophische Ansatz (Willensethik, konstruktive, sprachpragmatische und generative Ethik)7.3.2 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik)7.3.3 Der eudämonistische Ansatz (Hedonistische und utilitaristische Ethik)7.3.4 Der vertragstheoretische Ansatz (Gerechtigkeitsethik)7.3.5 Der traditionale Ansatz (Tugendethik und kommunitaristische Ethik)7.3.6 Der materialistische Ansatz (Physiologische und marxistische Ethik)7.3.7 Der lebensweltliche Ansatz (Ethik der Lebenskunst)

  8 Feministische Ethik

  Anmerkungen

  Zitierte Autoren und ergänzende Literaturhinweise

  Bibliographie

  Personenregister

  Sachregister

  Personenregister

  Sachregister

Vorwort

Die erste Auflage dieses Buches erschien 1985 unter dem Titel »Ethik und Moral. Eine Einführung in die praktische Philosophie« im BeckBeck, L.W. Verlag (München). Der Text basiert auf dem dreiteiligen Kurs »Einführung in die philosophische Ethik«, den ich 1979/80 im Auftrag der Fernuniversität Hagen für Studierende der Erziehungswissenschaften erarbeitet hatte. Die zweite, gründlich überarbeitete und erweiterte Auflage, die der Entwicklung der Ethik seit 1985 Rechnung trug, erschien 1991 im Francke Verlag (Tübingen und Basel) unter dem Titel »Einführung in die Ethik«. Die dritte Auflage, in welcher das Literaturverzeichnis auf den neuesten Stand gebracht wurde, kam 1994 heraus. Die vierte Auflage (1999) wurde wiederum durchgehend aktualisiert und vor allem in den Kapiteln 2.5, 3.2.1, 3.3.2 und 8. ergänzt. Für die 5. Auflage (2003) wurde Kapitel 7 ergänzt und das Literaturverzeichnis aktualisiert. Die 6. Auflage trug neueren Diskussionsschwerpunkten in der Ethik Rechnung. Entsprechend kamen die Kapitel 3.1.3 (Biologie), 7.2.4 (Der körperbewusste Ansatz) und 7.3.7 (Der lebensweltliche Ansatz) neu hinzu. Ergänzt wurde Kapitel 7.2.1 um eine kommentierte Wertetafel. Schließlich wurde das Literaturverzeichnis auf den neuesten Stand gebracht. Für die siebte Auflage wurden die Ausführungen zur Bioethik, zur Medienethik und zum Moralischen Realismus ergänzt sowie das Literaturverzeichnis aktualisiert.

Basel, im März 2017 Annemarie Pieper

Einleitung

Im Mittelpunkt unserer Überlegungen stehen drei Fragenbereiche:

1 Womit hat es die Ethik als philosophische Disziplin zu tun? Was ist ihr Gegenstand?

2 In welcher Weise beschäftigt sie sich mit diesem Gegenstand? Bildet sie methodische Verfahren aus, die dazu berechtigen, von der Ethik als einer Wissenschaft zu sprechen? Oder steht sie auf einer Stufe mit Weltanschauungen und Ideologien, die keine allgemeine VerbindlichkeitVerbindlichkeit beanspruchen können?

3 Worum geht es der Ethik letztendlich? Was ist ihr Ziel?

Vorab lassen sich noch ohne nähere Begründung folgende Antworten auf diese Fragen skizzieren:

 Zu 1. Die Ethik hat es mit menschlichen HandlungenHandeln/Handlung zu tun. Dennoch ist sie keine Handlungstheorie schlechthin, denn ihr geht es vorrangig um solche Handlungen, die Anspruch auf Moralität erheben, um moralische Handlungen also. Sie fragt nach diesem qualitativen Moment, das eine Handlung zu einer moralisch guten Handlung macht, und befasst sich in diesem Zusammenhang mit Begriffen wie Moral, das GuteGute, das, PflichtPflicht, SollenSollen, Erlaubnis, Glück u.a.

 Zu 2. Die Ethik beschäftigt sich auf methodische Weise mit ihrem Gegenstand – mit moralischen HandlungenHandeln/Handlungenmoralische(s) –, da sie zu argumentativ begründeten Ergebnissen gelangen will und somit weder moralisieren noch ideologisieren oder weltanschauliche Überzeugungen als allgemein verbindliche Handlungsgrundlage verkünden darf. Ihr ist es demnach um Aussagen zu tun, die nicht bloß subjektiv gültig, sondern als intersubjektiv verbindlich ausweisbar sind.Man unterscheidet in der Ethik grob zwei Kategorien von ethischen MethodenMethodeBegriff der: deskriptive und normative Methode. Die deskriptive Methode ist ein beschreibendes Vorgehen: Es werden die faktischen Handlungs- und Verhaltensweisen in einer bestimmten Gesellschaft oder Gemeinschaft daraufhin untersucht, welche Wertvorstellungen und Geltungsansprüche in ihnen wirksam sind. Diese bilden den in der untersuchten Handlungsgemeinschaft geltenden, d.h. die dort übliche PraxisPraxis ebenso wie die Urteile über diese PraxisPraxis leitenden MoralkodexMoralkodex, dessen Verbindlichkeit von den meisten Mitgliedern dieser Gemeinschaft anerkannt ist. Die normative Methode hingegen ist ein präskriptives, ein vorschreibendes Verfahren. Bei dieser Methode ist die Gefahr der Ideologisierung von einem dogmatischen Standpunkt aus naturgemäß viel größer als beim deskriptiven Verfahren, das lediglich konstatiert, was gilt, ohne sich dazu zu äußern, was gelten soll. Aber bekanntlich kann man auch reines Faktenmaterial durch die Art der Auswahl oder die Form der Zusammenstellung so manipulieren, dass bestimmte Werturteile suggeriert werden. Normative Methoden in der Ethik sind nur als kritische Methoden zulässig, d.h. als Methoden, die keine direkten Handlungsanweisungen geben von der Art ›In der Situation Z musst du y tun‹. Vielmehr hat eine normativ verfahrende Ethik Kriterien zu entwickeln, die eine moralische Beurteilung von Handlungen ermöglichen, ohne sie bereits vorwegzunehmen. Diese Beurteilungskriterien müssen ständig hinterfragbar, überprüfbar – eben kritisierbar sein.

 

 Zu 3. Was das Ziel der EthikEthikZiele der anbelangt, so artikuliert sich ihr Interesse in einer Reihe von Teilzielen:

 Aufklärung menschlicher PraxisPraxis hinsichtlich ihrer moralischen Qualität;

 Einübung in ethische Argumentationsweisen und Begründungsgänge, durch die ein kritisches, von der Moral bestimmtes Selbstbewusstsein entwickelt werden kann;

 Hinführung zu der Einsicht, dass moralisches Handeln nicht etwas Beliebiges, Willkürliches ist, das man nach Gutdünken tun oder lassen kann, sondern Ausdruck einer für das Sein als Mensch unverzichtbaren Qualität: der HumanitätHumanität.

Diese Ziele enthalten sowohl ein kognitives Moment als auch ein nicht mehr allein durch kognitive Prozesse zu vermittelndes Moment: das, was man als VerantwortungsbewusstseinVerantwortung oder moralisches EngagementEngagement bezeichnen kann.

Die Grundvoraussetzung jedoch, auf der jede EthikEthik aufbaut, ja aufbauen muss, ist der ›gute WilleWilleguter‹. Guter Wille meint hier die grundsätzliche Bereitschaft, sich nicht nur auf Argumente einzulassen, sondern das als gut Erkannte auch tatsächlich zum Prinzip des eigenen Handelns zu machen und in jeder Einzelhandlung umzusetzen. Wer von vornherein nicht gewillt ist, seinen eigenen Standpunkt in moralischen Angelegenheiten zu problematisieren

 sei es, weil er prinzipiell keine anderen Überzeugungen als die eigenen gelten lässt;

 sei es, weil er in Vorurteilen verhaftet ist;

 sei es, weil er überzeugter Amoralist oder radikaler Skeptiker ist;

 sei es, weil er die Verbindlichkeit von moralischen Normen nur für andere, nicht aber für sich selbst anerkennt,

lässt es aus verschiedenen Gründen an gutem Willen fehlen. Mangelnde Offenheit und Aufgeschlossenheit für das Moralische entziehen jeglicher ethischer Verständigung das Fundament. Ethische Überlegungen hätten hier keinen Sinn mehr, so wie z.B. theologische Überlegungen zwar durchaus intellektuell relevant sein mögen, ohne jedoch an ihr eigentliches Ziel zu gelangen, wenn sie nicht zugleich in irgendeiner Form das religiöse Handeln betreffen. Wie niemand durch TheologieTheologie religiös wird, so wird auch niemand durch Ethik moralisch. Gleichwohl vermag die Ethik durch kritische Infragestellung von Handlungsgewohnheiten zur Klärung des moralischen Selbstverständnisses beizutragen. Der Gegenstand der Ethik ist also: moralisches Handeln und Urteilen. Er geht jeden einzelnen, sofern er Mitglied einer Sozietät ist, deren Kommunikations- und Handlungsgemeinschaft er als verantwortungsbewusstes Individuum auf humane Weise mitzugestalten und zu verbessern verpflichtet ist, wesentlich an. Das Leben in einer Gemeinschaft ist regelgeleitet. Die Notwendigkeit von RegelnRegel bedeutet nicht Zwang oder Reglementierung, vielmehr signalisiert sie eine OrdnungOrdnung und Strukturierung von Praxis um der größtmöglichen FreiheitFreiheit aller willen. Ein regelloses Leben ist nicht menschlich. Selbst Robinson auf seiner Insel folgt gewissen, selbst gesetzten RegelnRegel, während der Wolfsmensch RegelnRegel der NaturNatur und damit tierischen Verhaltensmustern folgt.

Moderne Gesellschaften sind gekennzeichnet durch eine Pluralität von weltanschaulichen Standpunkten, privaten Überzeugungen und religiösen Bekenntnissen; hinzu kommt eine rasch fortschreitende soziokulturelle Entwicklung und damit verbunden eine fortgesetzte Veränderung kultureller, ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Zielvorstellungen. Bei dieser zum Teil in sich heterogenen Mannigfaltigkeit ist ein KonsensKonsens über Angelegenheiten der MoralMoral keineswegs mehr selbstverständlich, ja bleibt aufgrund gegensätzlicher InteressenInteresse und BedürfnisseBedürfnis oft sogar aus. Insofern ist eine Verständigung über die Grundsätze der MoralMoral, deren AnerkennungAnerkennung jedermann rational einsichtig gemacht und daher zugemutet werden kann, ebenso unerlässlich wie eine kritische Hinterfragung von faktisch erhobenen moralischen Geltungsansprüchen hinsichtlich ihrer Legitimität.

Eine solche Verständigung über Geltungsansprüche setzt die Einsicht voraus, dass der KonfliktKonflikt zwischen konkurrierenden Forderungen nicht mit GewaltGewalt ausgetragen werden soll, sondern auf der Basis von Vernunft. Keiner soll seine Wünsche uneingeschränkt durchsetzen, was zum KriegKrieg, H. aller gegen alle führt und zu einer Favorisierung der Prinzipien Macht, GewaltGewalt, Tücke, List. Es gilt vielmehr, das moralische Prinzip der AnerkennungAnerkennung von Rechten der anderen, die durch mein Handeln betroffen sind, zu befolgen.

Die doppelte Aufgabe – Analyse und Kritik von Sollensforderungen, die Anspruch auf Moralität erheben – muss jeder einzelne nach Maßgabe seiner Selbstbestimmung in seiner Praxis ständig erneut bewältigen; sie ist gewissermaßen das moralische Rückgrat seiner Geschichte, seiner Biographie. Von jedem einzelnen als Mitglied einer mündigen, aufgeklärten Gemeinschaft wird ein gewisses Maß an moralischer KompetenzKompetenz, moralische und an Verantwortungsbewusstsein erwartet, darüber hinaus die Fähigkeit, diese beiden grundlegenden Aspekte moralischen EngagementsEngagement im Konfliktfall anderen gegenüber kommunikativ bzw. argumentativ zu vermitteln, d.h. sich zu rechtfertigen und sein moralisches EngagementEngagement als unverzichtbare Basis eines kritischen, emanzipativen, für Freiheit und Humanität eintretenden Selbstverständnisses sichtbar zu machen. Dabei handelt es sich nicht um etwas Außergewöhnliches, sondern um ganz alltägliche, selbstverständliche Dinge, so wenn wir für unser Tun zur Rechenschaft gezogen werden, für etwas ein- oder geradestehen müssen, anderen Vorwürfe wegen ihres Verhaltens machen, sie der Verantwortungslosigkeit bezichtigen usf. Die methodisch-systematische Vermittlung der Einsicht in den Sinn moralischen HandelnsHandeln/Handlungmoralische(s) geschieht durch die Ethik. Die Ethik ist jedoch kein Ersatz für moralisches Handeln, sondern erschließt die kognitive Struktur solchen Handelns. Das heißt, indem sie einerseits durch Beschreibung und Analyse moralischer Verhaltensmuster und Grundeinstellungen, andererseits durch methodische Begründung der Gesolltheit moralischer Praxis kritische Maßstäbe zur Beurteilung von Handlungen überhaupt liefert, löst die Ethik den komplexen Bereich moralischen HandelnsHandeln/Handlungmoralische(s) begrifflich auf und macht dessen Strukturen transparent.

Damit werden demjenigen, der sich aus einem Interesse am HandelnHandeln/Handlung und um des Handelns willen mit Ethik beschäftigt, Argumentationsstrategien an die Hand gegeben, vermittels deren er in der Lage ist, moralische Probleme und Konflikte menschlichen Handelns als solche klar zu erfassen, mögliche Lösungsvorschläge zu entwickeln und auf ihre moralischen Konsequenzen hin zu durchdenken sowie sich nach reiflicher Überlegung selbständig »mit guten Gründen« für eine bestimmte Lösung zu entscheiden.

Letzteres ist das eigentliche Ziel der EthikEthikZiele der: die gut begründete moralische Entscheidung als das einsichtig zu machen, was jeder selbst zu erbringen hat und sich von niemandem abnehmen lassen darf – weder von irgendwelchen Autoritäten noch von angeblich kompetenteren Personen (Eltern, Lehrern, Klerikern u.a.). In Sachen Moral ist niemand von Natur aus kompetenter als andere, sondern allenfalls graduell aufgeklärter und daher besser in der Lage, seinen Standort zu finden und kritisch zu bestimmen. Bei diesem Aufklärungsprozess hat die Ethik eine sehr wichtige Funktion: Sie soll nicht bevormunden, vielmehr Wege weisen, wie der einzelne unter anderen Individuen und in Gemeinschaft mit ihnen er selbst werden bzw. sein kann.

1 Die Aufgabe der EthikEthikAufgabe der

Die Ethik als eine Disziplin der Philosophie versteht sich als Wissenschaft vom moralischen HandelnHandeln/Handlungmoralische(s). Sie untersucht die menschliche Praxis im Hinblick auf die Bedingungen ihrer MoralitätMoralität/Sittlichkeit und versucht, den Begriff der MoralitätMoralität/Sittlichkeit als sinnvoll auszuweisen. Dabei ist mit Moralität vorerst jene Qualität gemeint, die es erlaubt, eine Handlung als eine moralische, als eine sittlich gute Handlung zu bezeichnen. Heißt dies nun aber, dass Ethik etwas so Elitäres, der Alltagspraxis Enthobenes ist, dass niemand von sich aus, quasi naturwüchsig darauf käme, Ethik zu betreiben? Keineswegs. Ethische Überlegungen sind nicht bloß dem Moralphilosophen oder Ethiker vorbehalten. Vielmehr hat sich jeder in seinem Leben gelegentlich schon mehr oder weniger ausdrücklich ethische Gedanken gemacht, in der Regel jedoch, ohne sie systematisch als eine zusammenhängende Theorie zu entfalten, weil diese Gedanken meist im Zusammenhang mit einer gegebenen Situation, einem bestimmten KonfliktKonflikt sich einstellen, mit dessen Lösung auch das darin steckende ethische Problem erledigt ist. Manchmal ergeben sich Diskussionen allgemeiner Art: Dürfen Politiker sich in Krisensituationen über Moral und Recht hinwegsetzen? Wem nützt es, dass es moralische Normen gibt, wenn keiner sie befolgt? Aber auch in solchen Grundsatzdiskussionen bleiben ethische Fragen oft im Ansatz stecken.

Soviel ist fürs erste deutlich: Ohne moralische Fragen, KonflikteKonflikt, Überzeugungen etc. keine Ethik. Aber wie kommt man zur Moral?

Sobald ein KindKind anfängt, sich seiner Umwelt zu vergewissern, indem es nicht nur rezeptiv wahrnimmt, was um es herum geschieht, sondern zugleich seiner Umgebung seinen Willen aufzuzwingen versucht, macht es die Erfahrung, dass es nicht alles, was es will, auch ungehindert erreicht. Es lernt, dass es Ziele gibt, die unerreichbar sind (z.B. Siebenmeilenstiefel zu haben) oder die zu erreichen nicht wünschenswert ist, weil sie entweder schlimme Folgen haben (z.B. die heiße Kochplatte anzufassen) oder von den Erwachsenen unter Androhung von Strafe verboten werden (z.B. die kleineren Geschwister zu verprügeln). Andere Ziele wiederum (z.B. der Mutter zu helfen) werden durch Lob und Belohnungen ausgezeichnet.

Mit der Zeit lernt das KindKind, zwischen gebotenen (du sollst …), erlaubten (du darfst …) und verbotenen (du sollst nicht …; du darfst nicht …) Zielen zu unterscheiden und diesen Unterschied nicht nur in Bezug auf das, was es selbst unmittelbar will, zu berücksichtigen, sondern auch in seine Beurteilung der Handlungen anderer einzubringen. Es lernt mithin, nicht nur RegelnRegel zu befolgen und nach RegelnRegel zu handeln, sondern auch Handlungen (seine eigenen wie die anderer Menschen) nach RegelnRegel zu beurteilen.

Dieses zentralen Begriffs der RegelRegel bedient sich auch der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean PIAGETPiaget, J., um ›Das moralische Urteil beim Kinde‹ genetisch aufzuklären.

Jede Moral ist ein System von Regeln, und das Wesen jeder Sittlichkeit besteht in der Achtung, welche das Individuum für diese Regeln empfindet. …

Das KindKind empfängt die moralischen Regeln, die es zu beachten lernt, zum größten Teil von den Erwachsenen, d.h. in fertiger Form. (S. 7)

PIAGETPiaget, J. trifft nun eine wichtige Unterscheidung zwischen dem, was er die PraxisPraxis der RegelnRegel einerseits und das Bewusstsein der Regeln andererseits nennt. Das KindKind lernt zunächst die PraxisPraxis der RegelnRegel, indem es den Geboten und Vorschriften, die an es ergehen, gehorcht – so wie es beim Spielen die Spielregeln fraglos befolgt. Die ersten Formen des Pflichtbewusstseins sind demnach gemäß PIAGET im Wesentlichen heteronom (fremdbestimmend, fremdgesetzlich, von griech. heteros – fremd, nomos – Gesetz), weil das KindKind die RegelnRegel als von außen kommende, nicht von ihm selbst gewählte ImperativeImperativ verinnerlicht.

 

Wir werden als moralischen RealismusRealismus, moralischer die Neigung des Kindes bezeichnen, die Pflichten und die sich auf sie beziehenden Werte als für sich, unabhängig vom Bewusstsein existierend und sich gleichsam obligatorisch aufzwingend, zu betrachten. …

Pflichtmoral ist in ihrer ursprünglichen Form heteronom. Gut sein heißt dem Willen des Erwachsenen gehorchen. Schlecht sein nach seinem eigenen Kopf handeln. (S. 121, 221)

Auf diese Phase frühkindlicher heteronomer Moral folgt nach PIAGETPiaget, J. eine Übergangsphase oder ein Zwischenstadium auf dem Wege zur autonomen Phase der Selbstbestimmung. In dieser Übergangsphase gehorcht das KindKind, wenn es eine Regel befolgt, nicht mehr aus dem Grund, weil die Eltern oder andere Autoritätspersonen es befehlen, sondern weil die RegelRegel es gebietet. Die RegelRegel wird bis zu einem bestimmten Grad verallgemeinert und selbstständig angewendet. Das KindKind gehorcht also jetzt primär der RegelRegel, weil es durch Erfahrung gelernt hat, dass die RegelRegel nicht etwas ist, das nur einseitig dem Machtbereich der Erwachsenen zugehört, sondern Produkt einer gemeinsamen Praxis ist. »Das Gute ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit« (ebd.). Das KindKind betrachtet mithin die RegelRegel nicht mehr als etwas ihm bloß von außen Gegebenes, das mit ihm selbst eigentlich nichts zu tun hat, sondern erkennt sie als für sein Verhalten maßgebliches Orientierungsmuster an.

Auf diese Übergangsphase folgt dann die eigentliche Moral, die mit einem Bewusstsein der RegelnRegel verbunden ist. Dies ist die Stufe der autonomen Moral, auf der das KindKind RegelnRegel kritisch auf ihre Moralität hin zu überprüfen imstande ist.

Damit ein Verhalten als moralisch bezeichnet werden kann, bedarf es mehr als einer äußeren Übereinstimmung seines Inhalts mit dem der allgemein anerkannten Regeln: es gehört auch noch dazu, dass das Bewusstsein nach der Moralität als nach einem autonomen Gut strebt und selbst imstande ist, den Wert der Regeln, die man ihm vorschlägt, zu beurteilen. […]

So folgt eine neue Moral auf die der reinen Pflicht. Die Heteronomie weicht einem Bewusstsein des Guten, dessen AutonomieAutonomie sich aus der Annahme der Normen der Gegenseitigkeit ergibt. (S. 458, 460)

PIAGETPiaget, J. verdeutlicht seine These sehr instruktiv an der GerechtigkeitsvorstellungGerechtigkeit beim KindKind, die anhebt mit einem Verhalten, das auf Vergeltung für angetanes oder vermeintliches Unrecht aus ist, wobei Vergeltung verbunden ist mit dem Wunsch nach Rache und Bestrafung. In der Übergangsphase wird auch noch an der Vorstellung vergeltender GerechtigkeitGerechtigkeit festgehalten, aber ohne den Rache- und Sühnewunsch. Die Vergeltung soll in einer einfachen Wiedergutmachung bestehen. Von dort ist es dann nicht mehr allzu weit bis zur verzeihenden GerechtigkeitGerechtigkeit, die mit Großmut und Nächstenliebe einhergeht.

Was PIAGETPiaget, J. als Psychologe entwicklungsgeschichtlich (genetisch) entfaltet – und zwar auf der Basis von Beobachtungen und BefragungenMethodeBegriff der von KindernKind verschiedener Altersstufen –, bietet reichhaltiges Material für die philosophische Ethik, die, um den Begriff der MoralMoral zureichend reflektieren zu können, erst einmal etwas über den Ursprung der Moral in Erfahrung bringen muss, um den Sinn der Moral bestimmen zu können. Der Mensch lernt also von früh an, dass es in einer Gemeinschaft von Menschen nicht regellos zugeht, sondern dass es RegelnRegel in Form von Geboten, Verboten, Normen, Vorschriften etc. gibt. Die eigentlich moralischeMoral Einsicht besteht jedoch darin, dass solche Regeln nicht als ein von außen auferlegter Zwang aufgefasst werden, sondern als Garanten der größtmöglichen FreiheitFreiheit aller Mitglieder der Handlungsgemeinschaft. Nur eine RegelRegel, die dies gewährleistet, ist eine moralische Regel.

Hand in Hand mit der Erfahrung, dass der Mensch seine Umwelt nicht in jeder Hinsicht so hinnehmen muss, wie sie ist, sondern mit seinem WillenWille in sie eingreifen und sie handelnd verändern kann, geht die Einsicht, dass seinem Wollen und Handeln – und damit seiner FreiheitFreiheit – Grenzen gesetzt sind. Niemand ist in dem Sinne frei, dass er beliebig, d.h. völlig willkürlich tun und lassen kann, was ihm gefällt. Jeder muss vielmehr sein Wollen und Handeln bis zu einem gewissen Grad einschränken, und zwar einmal im Hinblick auf Ziele, deren Realisierung ihm nicht möglich ist (z.B. ist für einen Querschnittsgelähmten das Gehenwollen ein zwar verständliches, aber letztlich unerreichbares Ziel, das zu verfolgen sinnlos wäre). Hierzu bemerkt bereits EPIKTETEpiktet zu Beginn des 1. Kapitels seines »Handbüchleins der Ethik« (um 100 n. Chr.):

Von den vorhandenen Dingen sind die einen in unserer Gewalt, die anderen nicht. In unserer Gewalt sind Meinung, Trieb, Begierde und Abneigung, kurz: alles, was unser eigenes Werk ist. Nicht in unserer Gewalt sind Leib, Besitztum, Ansehen und Stellung, kurz: alles, was nicht unser eigenes Werk ist. Was in unserer Macht steht, das ist von Natur frei und kann nicht verhindert oder verwehrt werden; was aber nicht in unserer Macht steht, das ist schwach, unfrei, behindert und fremdartig.

Was der Verfügbarkeit des Menschen prinzipiell entzogen ist, kann somit sinnvollerweise nicht Gegenstand seines WollensWollen und Handelns sein, da hier durch FreiheitFreiheit nichts veränderbar ist, d.h. die FreiheitFreiheit hat eine natürliche Grenze an der Unaufhebbarkeit einer nicht durch sie hervorgebrachten Faktizität. Zum anderen hat sie eine normative Grenze im Hinblick auf Ziele, durch die das WollenWollen und Handeln anderer Menschen in unzulässiger Weise beeinträchtigt würde (z.B. durch krassen Egoismus in Form von Unterdrückung schwächer Gestellter bis hin zu Verbrechen an Leib und Leben). Hier handelt es sich um Ziele, die ein Mensch mit Hilfe seiner natürlichen Kräfte durchaus verfolgen kann, die er aber nicht verfolgen soll. Der FreiheitFreiheit ist hier nicht eine Grenze an der Faktizität gesetzt, sondern an der FreiheitFreiheit anderer Menschen.

Diese Grunderfahrung, dass menschliche WillensWille- und Handlungsfreiheit nicht unbegrenzt sind, sondern an den berechtigten Ansprüchen der Mitmenschen ihr Maß haben, ist die Basis, auf der moralisches Verhalten entsteht. Solange jemand sein naturwüchsiges WollenWollen nur deshalb einschränkt, weil es ihm befohlen wurde oder weil es bequemer ist oder weil ihm Belohnungen versprochen wurden, so lange handelt er noch nicht moralisch im eigentlichen Sinn. Er tut zwar, was er soll, aber er tut es nicht aus eigener Überzeugung, aus der Einsicht heraus, dass es vernünftig und gut ist, so zu handeln, sondern weil er dazu »abgerichtet« wurde, das, was andere für gut und vernünftig halten, kritiklos zu übernehmen. Er urteilt nicht selbständig, sondern die Urteile anderer haben sich in ihm zum Vorurteil verfestigt. Immanuel KANTKant, I. nennt diese Haltung eine »selbstverschuldete Unmündigkeit«:

AufklärungAufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der AufklärungAufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen …, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Werke, Bd. 9, 53)

Man könnte dieses Zitat zunächst so verstehen, als habe sich die von PIAGETPiaget, J. sogenannte heteronome Phase des Kindes in die Erwachsenenwelt hinein verlängert. Der gravierende Unterschied besteht jedoch darin, dass die Unmündigkeit des Kindes eine natürliche und keine selbstverschuldete ist. Der Erwachsene dagegen, der aus Faulheit, Feigheit oder Bequemlichkeit an seiner Unmündigkeit festhält, ist selber schuld daran, dass er sich seiner FreiheitFreiheitdes Handelns nicht bedient. Es ist ihm lästig, selbst zu handeln, und so lässt er andere für sich handeln. Es ist jedoch unmoralisch, sich bevormunden zu lassen und damit seine eigene Unfreiheit zu wollen. Genau darüber soll der Unmündige aufgeklärt werfen, dass er zur FreiheitFreiheitdes Willens aufgerufen ist und es an ihm selber liegt, wie frei er ist; und dass es zur FreiheitFreiheit des Mutes, der Risikobereitschaft, der Entschlusskraft bedarf.

Erst wenn ein Mensch sich nicht mehr dogmatisch vorschreiben lässt, was als gut zu gelten hat, sondern nach reiflicher Überlegung, d.h. in kritischer Distanz sowohl zu seinen eigenen Interessen als auch zu den Urteilen anderer, selbst bestimmt, welche Ziele für ihn, für eine Gruppe von Menschen oder auch für alle Menschen insgesamt gute, d.h. erstrebenswerte Ziele sind, hat er die Dimension des Moralischen erreicht.