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Über dieses Buch

Das Alltägliche ist in Anna Felders Geschichten nicht alltäglich. Mit feinsinnigem Humor beschreibt sie Situationen von scheinbarer Normalität, in denen sich ganz still, sotto voce, etwas anbahnt, das dem Vertrauten eine rätselhafte und zuweilen bedrohliche Dimension gibt. Immer kreisen diese Geschichten um Beziehungen — zwischen Menschen, die zusammenleben, zwischen Nachbarn oder zwischen Fremden, die sich zufällig begegnen und durch einen Blick, eine Geste, ein Detail zu Verbündeten werden.

Anna Felders Texte sind musikalische Prosastücke, in denen stets auch ein melancholischer Ton mitschwingt, eine — fast tschechowsche — Wehmut über die Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens.

«Im lockeren Übergang vom prekären Alltagsgeschehen zum metaphorischen Sprechen entsteht jenes schwebende Gleichgewicht, das Anna Felders Miniaturen so anziehend macht.» Alice Vollenweider


Anna Felder, geboren 1937 in Lugano, Literaturstudium in Zürich und Paris, Promotion über Eugenio Montale, danach Tätigkeit als Italienischlehrerin und Schriftstellerin. Lebt in Aarau und Lugano. 1998 Schillerpreis für das Gesamtwerk, 2004 den Aargauer Literaturpreis und 2018 den Schweizer Grand Prix Literatur.

Anna Felder

No grazie

Erzählungen

Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn

Limmat Verlag

Zürich

Die hellsichtige Pappel

Die Pappel jen­­­seits der Fenster, die der Lehrer in der klimatisierten Luft vor den Schülern, die dasitzen und zuhören, im Auge behält, die Sommerpappel, die jenseits der erhobenen Hände nicht einen Augenblick ablässt, Licht zu blättern im Silber ihrer tausend Augenlider, überfliegend die auswendig blitzschnellen Zungen aus Luft, glücklich über ein Ja, ist eine hellsichtige Pappel.

Die sitzenden Schatten

Da Giulio mor­­gen mit seiner Frau bei den Cairolis eingeladen ist, schlägt er vor, den Cairolis statt des üblichen Blumenstrausses «Die sitzenden Schatten» zu schenken, ein ziemlich schönes Buch: Er schliesst zur Bestätigung halb die Augen.

«Haben sie es denn nicht schon?», bemerkt seine Frau, die sich erinnert, dass die Cairolis Leute sind, die sich auf dem Laufenden halten.

«Eben», empört er sich, «und ‹Die sitzenden Schatten› gehören ja zu den Klassikern, schon als Klassiker auf die Welt gekommen, ganz etwas anderes als die Bestseller, die jeder zu Hause hat. Ein Meisterwerk von der ersten bis zur letzten Seite, es wird lange dauern, bis wieder ein ähnliches Buch erscheint.»

Giulio schlägt das Buch zum Beweis mehrmals auf den Tisch:

«Und wenn sie es gehabt haben sollten, haben sie es inzwischen weggeworfen und vergessen.

Ich habe es ganz wiedergelesen: durch und durch hervorragend, frisch, wie gerade erst geschrieben, verstehst du? Wenn sie nicht lesen können, dann blättern sie es zumindest durch, stauben es ab und geben es den Kindern zum Reinschnuppern. Sie haben doch Kinder, oder?»

«Kinder und Hunde.»

«Prächtig, prächtige Leute, die Cairolis.»

«Vorausgesetzt, es ist in der Buchhandlung vorrätig, bis morgen müssen wir es haben», erinnert ihn seine Frau.

Und tatsächlich, Bedauern in der Buchhandlung: «Die sitzenden Schatten» sind nicht vorrätig. Die gleiche Antwort in der zweiten Buchhandlung.

In der dritten dagegen, der Libreria Renzi, hebt die Verkäuferin auswendig den Finger, um das Wunder anzukündigen: Der Zufall will es, dass ein Exemplar noch vorhanden ist, ein einziges, in Englisch aber. Zu zweit stehen sie da und lächeln dem Zufall, den Schatten, dem Englisch zu: Die Verkäuferin geht sicheren Schritts zu den angelsächsischen Regalen, sucht, zieht das richtige Buch zwischen den anderen heraus und übergibt es Herrn Giulio zur Ansicht. Der, wenn er wollte, auf den doppelten Zufall setzen und versuchen könnte, sich aus irgendeinem Schattenreich das italienische Original kommen zu lassen, eine Frage der Geduld, vielleicht wochen-, vielleicht monate- oder jahrelangen Wartens, ganz unverbindlich.

Giulio überschlägt einen Augenblick die Situation der Cairolis, wer von ihnen Englisch lesen kann, kauft das Buch und bestellt vorsichtshalber, da Weihnachten vor der Tür steht, fünf Exemplare auf Italienisch, währenddessen zieht er aus der Innentasche seines Mantels, um sie ihr leibhaftig ans Herz zu legen, die eigene Ausgabe.

«Ich kann versuchen, es zu bestellen, aber zusichern kann ich natürlich nichts», schützt sich die Verkäuferin.

«Bestellen Sie auch noch fünf weitere englische Schatten», beschliesst er. Dann unvermittelt, während er bezahlt:

«Sie kennen das Buch doch, oder?»

Und da die Verkäuferin in schöner Unschuld den Kopf schüttelt, drückt Herr Giulio ihr, sozusagen als vollendete Tatsache, sein eigenes gelesenes und zerlesenes Exemplar in die Hand:

«Lesen Sie es heute Abend, Sie werden sehen, Sie legen es nicht aus der Hand, Sie werden die ganze Nacht durchlesen, was für eine Nacht, Sie werden sehen, wissen Sie, dass ich Sie beneide?»

Schon in der Tür, fällt sein Blick auf die Neuerscheinungen, auf die «Hundegeschichten», ein schönes, rostrot eingebundenes Bändchen, und sich der vor kurzem zu Hause von seiner Frau erwähnten Hunde erinnernd, macht er kehrt, verlangt das Buch, schaut es sich an und nimmt es: um es, auch wenn er es nicht den Hunden Cairoli schenkt, denen ja dieses Jahr erst einmal die Schatten zugedacht sind, anderen Hunden zu schenken, die sich pünktlich zu Weihnachen melden. Wird ein Buch reichen? Er wird es zu Hause erörtern.

Seiner Frau gefallen die «Hundegeschichten» sofort: wie für Zara Trista geschrieben:

«Wir schenken sie Zara Trista, was meinst du?»

Die sitzenden Schatten in der englischen Ausgabe scheinen dagegen nichts für die Cairolis zu sein:

«Vielleicht auf Französisch», protestiert sie wenig überzeugt, «sie rühmen sich doch, die französischen Flüsse zu befahren.»

Eisig dringt das Pfeifen des Sees durch die Fensterscheibe: Der Dampfer bleibt draussen.

«Hättest du mir das vorher gesagt», erwidert Giulio und holt unter dem Stuhl das letzte Paket mit Büchern hervor, die noch nicht ausgesondert worden sind. Er wirft auf den Tisch, sie jedes Mal mit der Hand bremsend, Reisebücher, französische Bücher, Bücher über Flüsse, übersetzte Bücher:

«Gefunden», entscheidet er plötzlich, das Buch hochhaltend, «das ist das geeignete Buch für sie» – und er schwenkt es, um wieder auf die Cairolis von morgen zurückzukommen:

«Hier drin gibt es für alle was, hier findet ihr die Kinder, hier findet ihr die Arche Noah einschliesslich Hunden, alles ins Französische übersetzt, was wollt ihr mehr», predigt er mit der Stimme der Öffentlichkeit.

Er wählt das Weihnachtspapier mit den bunten Zeichnungen, die Ochs und Esel im Stall darstellen, und verpasst dem Geschenk Cairoli eine schöne Aufmachung.

In die englische Ausgabe der sitzenden Schatten steckt er einen vorläufigen Zettel mit zwei Fragezeichen: In Betracht kommen Filippo N. oder Bettinas neue Harfenlehrerin.

«Für sie hatten wir ‹Die Melodien der Vögel› vorgesehen, die schon in der Garderobe auf Deutsch und auf Italienisch bereitliegen», korrigiert ihn seine Frau.

«Stimmt», gibt er zu, «das bedeutet, dass wir ihr die Vögel in Deutsch schenken und die Schatten dagegen auf Italienisch, jedenfalls bleiben wir so in den beiden Sprachen. Die englischen Schatten bekommt Filippo N., und das Problem ist gelöst.»

«Du weisst doch, was für ein Leser Filippo N. leider ist», tadelt ihn seine Frau.

«Willst du damit sagen, er liest nicht?», fragt Giulio beunruhigt, auf alles gefasst.

«Denk doch mal nach!»

Giulio steht auf, um nachzudenken, stellt sich ans Fenster, um jenseits der Scheiben Filippo N. aufzuspüren, öffnet es, um ihn eventuell vorbeigehen zu sehen, wie er mit der schon zum Gruss erhobenen Zeitung vorbeigeht. Der Dampfer fährt weiter, pünktlicher Herr des Weiss, «ciao», sagt Giulio ihm still und sucht im Weiss seine Zeitung, «die englischen Schatten waren für dich.»

«Für ihn zuallererst», wiederholt er seiner Frau und trägt entschlossen das Filippo N. zugedachte Buch zurück in die Garderobe zu den lebendigen, die bereits auf den Garderobenstühlen bereitliegen.

«‹Die italienischen Schatten› hab ich bestellt», teilt Giu­lio seiner Frau mit, damit sie Bescheid weiss. «Wenn ich in naher Zukunft in irgendein Schattenreich ohne Rück­kehr aufbrechen sollte, dann hol du sie in der Buchhandlung ab und überleg dir, wem du sie schenkst. Ich hab sie gelesen, das weisst du ja. Aber bis dahin können wir vor­läufig über dein Buch verfügen: In Dünndruckpapier, Luxusausgabe, ich hatte es dir einmal zum Geburtstag geschenkt, oder zu Weihnachten, ich erinnere mich nicht mehr, oder vielleicht nach dem Wolkenbruch, du weisst das besser.»

«Ein Geschenk von dir, du spinnst wohl, mit dem Datum von dir persönlich hineingeschrieben, das kann man doch nicht weiterverschenken: ein gelesenes und zerlesenes Buch, zerlesen mit lauter Stimme, erinnerst du dich, wie oft du es gelesen hast? Wenn du es verleihen willst, dann verleih es in der Familie, Bettina allenfalls, aber sonst niemandem.»

«Da du gerade Bettina erwähnst», sagt Giulio besorgt, «für ihren Verlobten haben wir auch noch nichts.»

«Ihr Verlobter bleibt bis zum 20. Januar in Kanada, kannst du dir vorstellen, wie viele Bücher zum Verschenken sich bis dahin unter den Stühlen anhäufen?»

«Die sitzenden Schatten für ihn, das wäre doch eine Idee», sagt ihr Mann, sofort begeistert.

 

«Vielleicht», beruhigt sie ihn. «Und den Cairolis bringen wir morgen einen schönen Blumenstrauss mit, Rosen und Zweige.»

«Schicken wir sie ihm gleich», fährt er fort, «dann bekommt er sie Weihnachten in Kanada.»

«Die Rosen, die Schatten?», fragt sie verwirrt. «Wenn du dich erinnerst, fliegt Bettina am Wochenende zu ihm.»

«Heisst das, Bettina ist Weihnachten nicht da?», jammert Giulio.

«An Neujahr kommt sie zurück.»

Sich überwindend, steht Giulio auf und geht zum Fenster, in Gedanken beim Dampfer.

«Wenn ichs recht bedenke, war das Buch der Cairolis mit der Arche, den Kindern, den Flüssen und dem Meer für Bettina gedacht.»

Er nimmt das Paket wieder in die Hände und schleudert es auf den Tisch, bremst es am Ende ab und zeigt mit dem Finger auf die Zeichnungen des Papiers:

«Auch der Ochse und der Esel waren für Bettina, die Cairolis sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst!»

«Sie züchten Hunde», erinnert sie ihn; dann, in einer plötzlichen Erleuchtung:

«Die Cairolis interessieren sich übrigens auch für Gewürze.»

Giulio dreht sich abrupt um:

«Ich geh was holen, ich geh gleich in die Buchhandlung. Ein Buch über Gewürze ist kinderleicht zu finden, und in der Libreria Renzi findet die Verkäuferin alles, sie findet die Gewürze mit den Fingern.»

An der Ecke macht Giulio, bevor er die Buchhandlung betritt, bei der Blumenverkäuferin Halt, um Rosen zu kaufen: nächtliche für die Buchhändlerin Renzi, gesprenkelt mit Sternen. Für seine Frau wählt er die gleichen, aber ergänzt um ein schönes festliches Weiss: ­Margeriten, sagt er, aber es sind Chrysanthemen. Das ­versichert ihm die Blumenverkäuferin, eine Perle von Blumenverkäuferin.

«Darf ich Sie Margherita nennen», traut sich Giulio sie zu fragen, in seinem Herzen schenkt er ihr bereits ein Buch über Margeriten und Schmuckmotive.

Die Blumenverkäuferin lässt der Zeit Zeit und antwortet weder ja noch nein, sie begleitet ihn zur Tür und sucht, während sie einen kleinen Stechpalmenzweig abbricht, mit dem Blick die Möwen gegen die Leere des Sees, die schon den Schlaf der Dampfer kennen, die künftigen Wolkenbrüche, die Sirenen des Nils, die Lotosfrucht, die dem, der sie isst, Vergessen schenkt.

Die Geschichte geht weiter.

Wenn der Wind schweigt

Es musste die Summe der bereits gewesenen Winde sein, zuzüglich derer, die durch die Tage und die Jahrhunderte der Generationen hindurch noch kommen würden. Zu datieren nach dem Blatt mit dem Stammbaum seit 1598. Die Seite war ein Geburtstagsgeschenk, der Gefeierte war dabei, sie aufzurollen. Jeder von ihnen beugte sich über das Blatt, erhob sich, um das erste Datum zu lesen, das oben neben den Familiennamen gedruckt war, dem alle in direkter oder indirekter Linie angehörten. Jeder ortete seinen eigenen Namen, unten bereits mit dem eigenen Datum gedruckt; und verstohlen mit den Augen und dem ausgestreckten Finger rasch die Schicksale, die Ja und die Amen hinauffahrend, bemerkte er denselben Namen mit dem Kreuz und dem Datum auf dem einen oder dem anderen Zweig wie ein durch die Jahrhunderte fortklingendes Echo, erstickt jetzt durch die Stimmen eines zu Ende gehenden Banketts und die verrückten Stühle. Derjenige von ihnen, der an diesem Tag Geburtstag feierte, hielt jetzt in den über die Gläser erhobenen Händen die auseinander gefaltete tabakfarbene, grosse, solide und glänzende Rolle, um den Weg inmitten so vieler zusammengekommener Familienmitglieder zu weisen.

Der Baum stand fest und klar da und präsentierte sich in langen horizontalen Zweigen und vertikalen Sequenzen, aus den Unwettern gerettet an den äussersten Punkten von fortwährend aufs Neue bestätigten Geburten, Hochzeiten und Toden, bar jeden Schmucks mit Ausnahme des gedruckten Zeichens der Kreuze und der verbundenen Trauringe, die bereits schweres Gold gewesen waren, so wie mit schwerem, glänzendem Gold heute ihre wohlriechenden Finger beringt waren, ausgestreckt, um in dem auf dem Blatt wiederholten Namen nie gekannte Existenzen wiederzufinden: Carlo, Maria, Margherita, ­Filippo, Giuseppe, ­Giulia, Söhne und Töchter anderer ­Giuseppes und Filippos und Margheritas, bezeugt zwischen ein paar nüchternen N.N., die in einem grimmigeren Wind verloren gegangen waren, ganz hinauf, wie es ein Wille bis zum ersten im ­Wirbel der Zeiten wiederentdeckten senex diktiert hatte.

Es musste ein geduldig von Familie zu Familie durch das Schicksal eines jeden im Abstand von Jahrhunderten gelenkter Wind sein, nahe gerückt und stumm gemacht mit dem Verstreichen der Jahre in den Linsen eines Fernrohrs, das bereits ersonnen worden war, bevor das Fernrohr in Holland erfunden und dann nach Italien ge­bracht worden war: 1609: Um sich dem Geist Galileis in Padua zur Kenntnis zu bringen und verbessert und vervollkommnet zu werden.

Es musste sein, was vom Wind bleibt, wenn auch im Haus das Wüten sich gelegt hat und das Heulen Stille ist: Wenn man ängstlich durchs Fenster die Schrammen betrachtet, die innerhalb eines kurzen Zeitraums hinterlassen wurden. Wir gehen hinaus und öffnen die Augen auf die gezeichneten Orte. Wir blicken zu Boden. Bleiben stehen, zertrampeln, übersteigen unterwegs die vom Wind abgerissenen Hindernisse, das Pfeifen, das allmählich verstummt, zählen die Trümmer in gewaltigen römischen Zahlen: Was stand, finden wir jetzt am Boden liegend, waagerecht: Was unter der Erde verborgen war, sehen wir jetzt an der Luft, entblösst. Wir stossen im Garten auf die Wurzeln der Tanne, an denen noch Erde und Schweiss klebt, über der offenen Grube; wir beugen uns über den niedergerissenen Zwetschgenbaum, den ertragreichsten, neben seinen platt geschlagenen, geplatzten Früchten; wir brechen die schon trockenen Zweige ab, die sich kunterbunt durcheinander zu kreuz- und gabelförmigen Verästelungen verschlungen haben, in gerader und ungerader Zahl wirr durcheinander vor dem Gittertor des Hauses, zum Schweigen gebrachte Launen: der Briefkasten weit offen, leer; der Wäscheständer zerbrochen, der Gartenweg verwüstet von entbeintem Laub, Bruchstücke geschriener, lebendig gewesener Dinge. Dinge, die jetzt, gehorsam wie sie sind, plötzlich bereit sind, schicksalhaft gebündelt, zusammengeharkt, zusammengefegt zu werden vom nächsten Wind und Willen, die sie morgen möglicherweise wieder in deren Nichts, in deren Schweigen zusammenfassen, sie wieder zusammenfügen würden für das Familienfest auf dem Viereck aus schönem Pergament, in ruhiger Geometrie einfacher Namen, um ein gemeinsames Schicksal zu bezeugen.

Sie feierten den unter ihnen, der den Namen Filippo trug, und nahmen bereits das Gespräch wieder auf um den Tisch, die Plätze und die Gläser tauschend: Sie sprachen über Krankheiten und Sympathien, über Reisen, über Geld, über die Torte und über Schulnoten.

Das Geburtstagsgeschenk in der präzisen Strenge seiner Namen und Zahlen wanderte von Hand zu Hand, die eine mehr, die andere weniger runzlig, vom einen Ende des Tisches zum anderen, gross und gespannt wie ein Segel: mit immer mehr miteinander verflochtenen Geschichten, unterschiedlichen Stimmen, Weisheiten und Unsinnigkeiten sich aufladend, von Lachen, Seufzern, ledigen und verheirateten Hoffnungen durchwoben; von sich aus immer da gewesene Ereignisse mit sich reissend, die sich einfügten, widerhallten, sich wiederholten, wie Biswind und Föhn in den Gesetzen der Zeit sich wiederholen, wie Krieg und Frieden sich wiederholen, Verträge und Zwistigkeiten.

Es wiederholt sich die Brise, die die Wäsche trocknet, und die Bö, die gestern die Geranien auf der Terrasse abriss, der Sturm, der die gefährdeten Äste in den Fluss schleuderte, der Wind, der Giulios Drachen verschluckte, und der, der den Ausgang des Spiels ins Gegenteil verkehrte, der unverschämte Wind des dahinbrausenden Zugs oder der achtköpfige oben auf dem Turm; der Septemberwind, der Filippos Geburt begünstigte, der Wind, der durch die Tore der Stadt weht, der Wind, der hinterlistig ins Schlafzimmer Geheimnisse bläst und unter die Nägel dringt und die Haut genau heute Nacht reizt, um in einem Augenblick, der sich schweigend einschreibt, die Lieben und die Launen umzukehren.

Butter geborene Stucki

Sie hatten geheiratet, aber bereits als Verlobter hatte Marti neben der Braut sitzend im Hause Stucki die Angewohnheit getadelt, beim Abendessen mit dem Brot immer solche Mengen von Butter zu servieren. Jede, enorm dick geschnittene, Scheibe bestrichen die Stuckis hingebungsvoll, jeder auf seinem eigenen Teller, bis an den Rand mit dicken Schichten Butter, die nicht nur die Finger fettig machten. Die jüngere Tochter, bisweilen auch die erwachsenen Töchter einschliesslich der Verlobten be­streuten die gebutterte Scheibe mit Zucker: schönem rationiertem Zucker, man befand sich ja im Krieg. Eltern und Töchter bissen in die Scheibe und gruben dabei jeweils in gestickten Halbmonden die Intimität ihrer Zähne hinein: grausame, miteinander verwandte Zähne.

Marti, gesittet, mager, lehnte gleich beim ersten Abend­­essen ab: entschieden: Gut erzogen, wie er war, reichte er allenfalls die geriffelte Tafel weiter, ohne sich die Hände fettig zu machen. «Pardon», hustete er auf Französisch schon am ersten Abend, das längliche Tellerchen in der Hand, um es weiterzugeben, und nahm den fremden Schweiss der Butter wahr, Stucki-Schweiss.

Die Kinder, die Marti und seine Frau nach dem Krieg in die Welt setzten, hielten es teils mit dem Vater, teils mit der Mutter, und als auch für sie der Augenblick kam, sich zu ver­loben und zu heiraten, mussten sie ihrerseits in neuen Häusern, jeder auf seine Weise, für oder gegen neue Butter und neue Geschlechter Partei ergreifen.

Sie waren nun wieder allein beim Abendessen, Marti und seine Frau: Sie sassen einander gegenüber, die Katze döste neben der Zuckerdose, und zu beiden Seiten des Tisches standen in langer Reihe leere Stühle.

Marti stellte absichtlich keine Butter auf den Tisch, er rechnete mit der Zerstreutheit seiner Frau; auf Anordnung des Arztes musste verhindert werden, dass sie weiter zunahm. Doch ohne Ausnahme suchte die Dame des Hauses Abend für Abend bei der ersten Scheibe Brot, das Messer erhoben, mit den Augen nach der Butter: Marti wusste Bescheid und eilte sofort in die Küche, entnahm dem Buttervorrat hustend die frischeste Tafel und stellte sie auf den Tisch, wobei er alle Schuld und alle Vergebung auf diese gesegneten hundert Gramm setzte.

Genusssüchtig stürzte seine Frau sich jeden Abend auf die Butter, bediente sich wiederholt und strich mehrere Schich­­ten auf dieselbe Scheibe, die sie, bereits angebissen, dann grosszügig auch ihrem Mann, auch der Katze anbot.

«Nein danke», schnappte der Ehemann und ging auf Distanz zum Tisch, während die Katze zutraulich und begeistert zustimmte: Sie leckte das Brot und leckte der Hausfrau die Ringe.

«Butter ist ungesund», sagte Marti sich immer wieder an jenem schlimmen Abend, an dem er ohne seine Frau ihm gegenüber am Tisch sass und aus alter Gewohnheit mit dem letzten Rest Stimme die ausgepackte Tafel auf dem Tellerchen tadelte; nur die Katze war noch da.

An dem Tag, an dem schliesslich auch die Katze fehlte, blieb Marti, nur noch Papier und Husten im letzten Amen, dem die Butter immer fremd geblieben und der doch stets ihr Vorbote gewesen war, der Abdruck jener ersten Tafel geborene Stucki lebhaft im Gedächtnis, die in Zukunft zum Abendessen Frau und Katze zu servieren war, in einem Jenseits, das vielleicht gegen jede Butter eine Abneigung hatte.

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