Hisian - Land der Sehnsucht

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Hisian - Land der Sehnsucht
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Andrea Zaia

HISIAN
LAND DER SEHNSUCHT

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Coverillustration © rolffimages – Fotolia

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Der Sturz

Besondere Gespräche

Die Zeit

Der Urgroßvater

Heißes Wasser

Der Unfalltraum

Familiensachen

Himmelsschlüssel

Der Garten

Kindergarten

Maliguvu

Im Tierpark

Hohe Zeiten

Das Hochzeitsspiel

Fahrradfahren

Mondhelle Nächte

Schuleinführung

Familienereignisse

Ingermann-Technik

Ferien

Quarantäne

Ferien

Brand

Die Schafe

Zeit für Veränderung

Worterklärungen

Der Sturz

Amelie war mit den Mädchen ihres Alters im Dorf unterwegs. Sie entdeckten den Ort auf ihre eigene Weise. Was verboten war, wurde interessant für sie. Die Gespräche über das Gebäude, das für alle Kinder verboten war, wurden immer hitziger. Durch ihre Neugier und die scheinbare Sicherheit in der Gemeinschaft überwanden sie alle Bedenken. Amelie ging mit den Mädchen zu dem Gebäude am Rande des Dorfes. Dorthin zu gehen hatten auch ihre Eltern streng verboten. Das mulmige Gefühl in ihrem Bauch sagte ihr zwar, dass sie lieber nicht mit den Mädchen gehen sollte. Doch sie schob das Gefühl einfach weg, denn sie wollte unbedingt dazu gehören. An diesem Tag durfte sie dabei sein und das war es wert. Sie schob dieses dumme Gefühl weg, denn es erinnerte sie an das Stechen in ihrem Bauch, wenn sie zu den Mädchen kam und diese ihr Gespräch unterbrachen. Dieses Stechen war viel schmerzhafter als die Gewissensbisse jetzt, die sich leicht wegschieben ließen.

Als sie dann vor dem verbotenen Gebäude standen schlug eine Welle des Unbehagens über Amelie hinweg. Doch sie schob auch das Unbehagen beiseite.

Sie wollte mit den Mädchen spielen, so unbeschwert wie möglich. Was nützte ihr die Überzeugung nicht zu ihnen zu gehören? Diese Überzeugung hinderte sie nur daran etwas Aufregendes zu erleben.

Und Amelie wollte dazu gehören und etwas erleben. Deshalb siegte an diesem Tag ihr Wagemut.

Als die Mädchen das verbotene Gebäude umrundeten, entdeckten sie an der Rückseite eine offenstehende Tür. Mit einem mulmigen Gefühl, das von ihrem Bauch aufstieg, ging Amelie mit den anderen Mädchen dort hinein.

Drinnen war es stockdunkel, grauslich und zugleich faszinierend. Für Amelie hatte sich mit Betreten des dunklen Raumes alles geändert. In dem Augenblick in dem sie die Dunkelheit betrat, war sie nicht mehr sie selbst. Sie hatte alle Warnungen ihres Wesens beiseite geschoben und so konnte sie sich nun der Faszination, die sie mit voller Wucht traf, nicht mehr entziehen.

Amelie war wie entrückt und wurde gleichzeitig wie magisch in die Dunkelheit gezogen. Das Gefühl in ihrem Bauch hatte sich total verändert. Der Schmerz war verschwunden. Dafür breitete sich eine heiße Welle von ihrem Bauch bis zu ihrem Kopf aus. Sie war vollkommen eingenommen von dieser heißen Welle. Amelie folgte ihrem Gefühl ohne nachzudenken. Sie wurde magisch angezogen. Was sie anzog war ihr überhaupt nicht klar. Sie musste einfach weiter gehen, immer weiter.

Die anderen Mädchen riefen, sie solle zurückkommen.

Amelie hörte sie wie durch einen Nebel aus weiter Ferne. Irgendetwas in der Dunkelheit war stärker als die Rufe der Mädchen.

Voll auf die Dunkelheit konzentriert, war sie nun nicht mehr aufzuhalten.

Sie spürte genau an diesem Ort weitete sich ihre Welt. Sie wurde tatsächlich weiter, größer, ja interessanter. Obwohl vor ihr diese beängstigende Dunkelheit auf sie wartete.

Eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte: „Geh weiter!“

Amelie tastete sich wie eine Schlafwandlerin vorwärts in das Dunkel.

Die Dunkelheit schreckte sie und zog sie gleichzeitig magisch an.

Die anderen Mädchen riefen immer noch.

Amelie ging weiter, sie war vollkommen entrückt.

Ihre tastenden Schritte veränderten sich mit jedem Zentimeter, den sie in die Dunkelheit hinein ging. Festen Schrittes ging sie weiter und plötzlich trat sie ins Leere.

Sie fiel und das Gefühl in ihrem Bauch sagte ihr: „Hier ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung!“

Im Fallen dachte sie: Ich schwebe!

Ihr Gefühl veränderte sich unterwegs wieder einmal. Sie spürte eine Leichtigkeit, die sofort ihren Bauch entlastete. Der Schmerz war verschwunden.

Und plötzlich wusste sie, sie würde ankommen.

Wo sie ankommen würde, war in diesem Moment total unwichtig. Das wohlige Gefühl in ihrem Bauch gab ihr eine Ahnung von einer Sicherheit, die sie nicht kannte. Sie war gefasst, obwohl sie fiel. Diese innere Ruhe befreite ihren Kopf von den Nebelschwaden, die sich beim Betreten des dunklen Gebäudes dort ausgebreitet hatten.

Es war finster um sie herum und sie spürte trotzdem überhaupt keine Angst.

Sie war geborgen!

Sie war nicht allein!

Das wurde ihr unterwegs in die Tiefe klar. Etwas Überirdisches hatte sie ergriffen. Sie war selbst in dieser unheimlichen Dunkelheit und im Fallen geborgen von einer unsichtbaren Hand.

Kein Schrei entschlüpfte ihrem Mund. Das Gefühl der Sicherheit in ihr wuchs und wurde zur Gewissheit. Sie würde ankommen und geborgen sein …

Mit dieser Überzeugung erschien ihr die Dunkelheit plötzlich nicht mehr bedrohlich. Oder war es nun nicht mehr so dunkel?

Die Dunkelheit war als sie aufgefangen wurde, verschwunden und Amelie schien angekommen zu sein. Sie fühlte es genau. Hier war die Heimat ihres Herzens.

Wie war das möglich?

Sie war doch in die Tiefe gestürzt.

Ihr musste doch etwas wehtun!

So etwas gab es doch überhaupt nicht.

Die Gedanken wirbelten nur so in ihrem Kopf herum.

Amelie schüttelte die chaotischen Gedanken ab. Eigenartig, wie leicht ihr das an diesem Ort gelang. Das Denken war nicht ausgesetzt durch den Sturz. Sie konnte, nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung ganz normal denken.

„Wo bin ich?“ Dieser Gedanke beherrschte nun ihr ganzes Sein.

Was geschah nur mit ihr?

Wieso war sie an diesem wundervollen Ort?

Das war für Amelie überhaupt keine Frage. Für sie stand fest, dieser Ort war wundervoll!

Sie versuchte es noch einmal mit der drängendsten Frage.

„Wo bin ich?“ Diese Frage wiederholte sie eingenommen von dem Gefühl, das sich bei ihrer Ankunft eingestellt hatte.

Sie bekam keine Antwort und ging weiter. In diesem Land ging sie nicht. Das bemerkte sie als sie nach unten sah. Amelie schien einige Zentimeter über dem Boden entlang zu gehen.

Als ihr klar wurde, dass sie überhaupt keinen festen Boden unter den Füßen hatte, erschrak sie ein wenig. Diese Schrecksekunde wurde sofort von einem heißen Schwall tief unten aus ihrem Bauch heraus begleitet. Sofort war sie wieder beruhigt. In dieser Gegend schien sie nichts schrecken zu können.

 

Doch ihre drängende Frage war immer noch nicht beantwortet. Wo war sie hier eigentlich hingekommen?

Amelie wurde ziemlich mulmig zumute. In ihrem Bauch rumorte es ganz gewaltig und die Frage wurde immer drängender.

Bin ich hier ganz allein? Amelies Bauch hatte sich bei diesen Gedanken wieder einmal gemeldet. Der beruhigende, heiße Schwall war dieses Mal ausgeblieben.

Warum, verflixt noch einmal, kam denn niemand?

Sie war doch noch ein kleines Mädchen und konnte nicht allein in dieser fremden Umgebung bleiben.

Ein Kind brauchte Begleitung. Erst recht in einer fremden Welt.

Amelie wollte an diesem Ort nicht allein sein. Ganz bestimmt nicht. Allein in einem fremden Land fand sie sich doch nicht zurecht. Das war nicht ihr Dorf, in dem sie sich auskannte. Obwohl sie gerade noch in dem verbotenen Gebäude am Rande des Dorfes gewesen war, wusste sie genau, dass sie nicht mehr dort sein konnte.

Als der Druck in ihrem Bauch ziemlich schmerzhaft wurde, erschien als wäre sie aus dem Boden gewachsen eine beeindruckende Frau.

Diese imposante Erscheinung ließ allen Schmerz und das Gefühl von Verlassenheit vergehen.

Die Duse gehörte von diesem Moment an zu Amelies Leben. Ihre drängenden Fragen hatten Gehör gefunden.

Sie war in diesem Land nicht allein.

Sie wurde begleitet, wie sie es sich gewünscht hatte.

Nun verflüchtigte sich der Nebel um sie herum langsam und sie konnte so die Duse deutlich sehen. Wenn sie sich nicht so allein gefühlt hätte, wäre sie sicher vor dieser furchteinflößenden Erscheinung davon gerannt. Aber in dieser unsagbaren Welt war Amelie froh, dass jemand auftauchte, der nur annähernd aussah wie ein Mensch. Denn die Duse sah natürlich nicht aus wie die Menschen, die Amelie bis dahin kennengelernt hatte.

Die Duse schwebte vor ihr und ließ ihr Zeit, sie eingehend zu betrachten. Amelie konnte erkennen, dass die Duse weißes langes Haar hatte, das ihr bis zu den Knien reichte.

Sie trug keinen Zopf und die Haare störten sie trotzdem nicht. Das war ein Phänomen, das Amelie immer wieder begeisterte. Wie konnten die Haare so lang herunterhängen und doch jede Bewegung elastisch begleiten. Ein wundervoller Anblick, an dem sich Amelie auch später nie satt sehen konnte.

Als sie zur Duse hinüberschaute, blickte sie direkt in deren grüne Augen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht beruhigte sie sofort.

Anders kannte sie die Duse bis heute nicht. Wenn sie schon einmal streng sein musste, lächelte sie nach einer Lektion die mulmigen Gefühle in Amelies Bauch einfach weg. Das war wohltuend und stärkend.

Ob die Duse schön war, konnte Amelie nicht sagen. Sie war einfach eine alte Frau, mit einem merkwürdig durchscheinenden Leib, der von einem wunderschönen Kleid umhüllt war.

Das Kleid der Duse hinterließ bei Amelie einen besonderen Eindruck, denn sie konnte es mit keinem Kleid vergleichen, das sie jemals zu Hause gesehen hatte. Das Gewand, das in vielen Falten an ihr herunterfiel, war wunderschön. Solche Kleider hatte Amelie manchmal an griechischen Statuen gesehen.

Wo nahm sie nur dieses Wissen her?

Hatte sie überhaupt schon eine griechische Statue gesehen?

Wie kam sie nur darauf?

Diese Gedanken waren durch ihren Sinn geschwebt. Doch in diesem Augenblick, an dem unbekannten, nebelverhangenen Ort waren sie überhaupt nicht wichtig! Amelie rief sich selbst zur Ordnung und wandte sich in Gedanken wieder dem Kleid der Duse zu. Komisch fand sie, dass die Duse so lange Amelie sie kannte, noch nie auf ihr Kleid getreten war. Das lag wohl daran, dass sie schwebte. Sie glitt vorwärts; ja alles an der Duse sah leicht und locker aus. So als wäre sie schwerelos. Es war einfach wunderbar, denn mit der Duse gemeinsam konnte Amelie schwerelos durch die Luft schweben. Nach diesem Gefühl der Freiheit und des Losgelöstseins von der Welt könnte sie regelrecht süchtig werden.

Sie war schon wieder abgeschweift. Das sie aber auch nie etwas zu Ende denken konnte.

Wie war das noch?

Amelie konnte an diesem Ort einfach nicht verhindern, dass sie ihren Gefühlen mehr Platz einräumte als dem, was sie direkt vor sich sehen konnte. Sie hatte doch das Aussehen der Duse beschreiben wollen. Warum gelang ihr das nicht. In diesem Land der übermächtigen Gefühle schaffte sie es einfach nicht vernünftig zu Ende zu denken.

Sie konzentrierte sich also mit all ihrer Kraft auf das Aussehen der Duse. Was sie sah war etwas verwirrend. Sie sah genauer hin und doch war es schwer, das Gesicht der Duse zu beschreiben. Irgendwie war es einfach liebevoll und gleichzeitig streng, nicht so wie das Gesicht eines Menschen aber trotzdem so ähnlich.

Nase, Mund, Augen und Ohren waren vorhanden. Und wiederum doch nicht so richtig. Das Gesicht sah aus, als wäre eine Rauchschwade davor gezogen und wollte es so verdecken. Deshalb konnte Amelie im Gesicht der Duse keine einzige Falte sehen. Komisch, wieso wusste Amelie dann dass die Duse uralt war?

Vielleicht, weil die Duse Amelie alle Fragen beantworten konnte. Gerade die Fragen, die ihr Mutter und Vater nie beantworteten. Sie suchten bei Amelies gefühlsbetonten Fragen immer wieder nach Ausflüchten.

Mit der Duse war das ganz anders, denn wie die Duse erklärte, war spannend und wunderbar. Sie suchte für Amelie immer etwas aus, das gerade zu ihrem Gefühl passte.

Amelie konnte die Duse nicht immer sehen und doch war die Duse auf allen ihren Reisen bei ihr. Sie war in ihrem Land Hisian nie allein!

Woher wusste Amelie, dass dieses Land Hisian hieß?

Wie kam sie darauf? Niemand hatte ihr gesagt, dass es so hieß. Wie war es möglich, dass sie das Land einfach Hisian nannte?

Sie würde sicher erfahren ob sie richtig lag. Die Duse war bei ihr, ihr konnte nichts mehr geschehen. Amelie war sich ganz sicher, dass sie in Hisian richtig war.

Wortlos nahm die Duse Amelie mit zu einer von gleißendem Licht durchfluteten Wiese. Das Gras war saftig und so grün, dass Amelie ihre Augen nicht abwenden konnte. Sie war mit wundervollen Blumen übersät. Es duftete wunderbar. Amelie schloss die Augen und sog den Duft tief in ihre Lungen ein. Die Wiese wurde von großen Bäumen gesäumt. Die Gefühle, die in ihr aufstiegen, erzeugten sofort eine feste Bindung zu diesem Ort. Wie war das nur möglich? Eigentlich müsste Amelie doch unwahrscheinliche Angst haben. In Hisian, sie benutzte schon wieder dieses Wort, schien für sie alles so selbstverständlich und liebevoll zu sein. Sie fühlte sich vom ersten Moment an heimisch.

Was das nur bedeutete?

Amelie war vollkommen gefangen von dem Ort. Sie würde ihn sicher nie wieder verlassen. An so einem schönen Ort musste ein Mensch einfach bleiben.

Ihre Gedanken wurden unterbrochen als die Duse Amelies Hand nahm und stumm zu den Bäumen hinüber zeigte.

Als Amelie hinüber sah, entdeckte sie am Rand der Wiese ein Reh. Die Duse schwebte mit ihr zu dem Reh hinüber.

Das Reh blieb stehen!

Eigenartig, warum lief es denn nicht weg?

Zu Hause wäre dieses scheue Tier längst im angrenzenden Wald verschwunden.

Die Duse hielt Amelies Hand fester und gemeinsam schwebten sie ganz nah zu dem Reh hinüber.

Amelie schwebte nun direkt vor dem Reh und sah in dessen sanfte Augen. Oh, diese liebevollen Augen. Das hatte sie nicht erwartet. Sie konnte direkt vor dem Reh schweben und in dessen Augen schauen. Der Kloß, der sich sofort in ihrem Hals bildete, erschwerte das Atmen. Sie sah etwas in diesen Augen, das sie tief berührte. Als die Gefühlsregung abgeebbt war besann, sich Amelie. Erst jetzt konnte sie sich wieder auf ihre Umwelt konzentrieren.

Bis zu diesem Augenblick war in dieser unwahrscheinlichen Welt noch kein Wort gesprochen worden. Das schien nicht notwendig zu sein. Scheinbar war es normal, dass zuerst die Gefühle ausgelebt wurden bevor Worte gebraucht wurden.

Amelie war ein Mensch und kam nicht ohne Worte aus. Sie war neugierig. Wie wohl das Reh hieß? Ohne darüber nachzudenken fragte sie das Reh nach seinem Namen.

„Ich bin Maike.“

Amelie war so verblüfft, dass sie nur kurz antworten konnte.

„Das ist aber ein schöner Name.“

Es war einfach toll, dieses Reh konnte mit ihr sprechen. Wer hätte sich so etwas bei ihr zu Hause vorstellen können? Dieses Land hielt scheinbar allerhand Überraschungen für Menschen bereit. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln schwebte Amelie neben Maike und der Duse weiter über die wunderschöne Blumenwiese. Ein angenehmer Duft umspielte die Drei und so kamen sie zu einem Bach, dessen glasklares Wasser um große, runde Steine floss.

Die Duse setzte sich auf einen Stein, der am Ufer des Baches lag. Sie schaute Amelie tief in die Augen. Ihre wohltuende Stimme löste in dem Mädchen ein unbeschreibliches Gefühl aus.

„Ich bin die Duse.“

Diese vier Worte klangen in Amelies Ohren wie Musik. Als hätte sie bis heute auf diese Worte gewartet, so fühlte sie sich in dem Augenblick.

Die Duse streckte ihre Hand einladend nach Amelie aus. Die Stimme der Duse hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Amelie sank ohne Scheu in die Arme der Duse. Sie schmiegte sich sogar voll Vertrauen hinein. Von diesem übermächtigen Gefühl getragen hatte sie nicht einen Augenblick überlegt. Als sie auf dem Schoß der Duse saß, verändertes sich ihr Gefühl grundlegend. In ihr Inneres kehrte eine Ruhe ein, die sie noch nie in ihrem Leben gespürt hatte. Ihr Kopf wurde klar und ihr Blick weitete sich. Die Farben ihrer Umgebung wurden noch intensiver als zuvor. Nun war Amelie in der Lage den Erklärungen der Duse ruhig und verständig zu folgen.

Die Duse erklärte ihr, dass sie nun in ihrem Land Hisian angekommen sei. Hier sei Amelie immer in Sicherheit, wenn die Welt für sie gefährlich, traurig, schmerzvoll oder auch beängstigend würde.

Amelie war wie elektrisiert.

Dieses Land heißt Hisian!

Das habe ich gewusst.

Woher?

Diese Gedanken schwebten unwillkürlich durch ihren Kopf und die Antwort auf ihre Frage ließ nicht lange auf sich warten.

„Jeder Mensch, der uns besucht, weiß, dass dies sein Hisian ist. Das Land, in dem alle Gefühle sein dürfen. In dem ein Kind seine Phantasie bestätigt bekommt. In Hisian erhältst du auf alle deine Fragen zu deinen Gefühlen eine Antwort. Wenn du eines Tages alles über die Welt und die Menschen gelernt hast, dann wirst du für immer in deinem Hisian einkehren.

Du wirst hier leben ohne Herzweh und alle peinigenden Gefühle der Welt. Niemand wird unfreundlich, gemein, neidisch, ungerecht, achtlos oder gar böse zu dir sein.

Ich bin in deinem Hisian für dich Begleiterin und Beschützerin. Ich werde dich zu Plätzen führen, die dir erklären warum die Menschen so sind wie sie sind und warum du auf der Erde bist.

Du, mein liebes Kind, bist ein ganz besonderer Mensch.

Deine Gaben müssen jetzt noch verborgen bleiben. Deine Umwelt ist für so einen Menschen wie dich noch nicht gerüstet.

Du bist zu mir gekommen, damit du in deiner Welt leben kannst und keinen größeren Schaden erleidest.

Die Reisen nach Hisian werden dich schützen und lehren, mit schwer zu verkraftenden Empfindungen umgehen zu können.“

Amelie saß auf dem Schoß der Duse und schaute sie interessiert an. Wie war es nur möglich, dass sie schon kurz nach ihrer Ankunft den Namen dieses Landes gewusst hatte?

Die Duse hob die Hand und strich über Amelies Kopf.

„Du hast eine enge Verbindung hierher. Deshalb hast du dich sofort heimisch gefühlt. Oder hattest du Angst bei deiner Ankunft hier?“

„Ich fühlte mich gut und aufgehoben.“ Amelie blinzelte. Ob sie auch von ihren Befürchtungen allein bleiben zu müssen mit der Duse sprechen konnte? Sie versuchte es einfach. Was sollte ihr hier schon geschehen?

„.Bevor du aufgetaucht bist, war dieses fremde Land schon sehr einsam für mich. Ich bin doch noch ein Kind!“

Die Duse lächelte und schaute zu den Bäumen hinüber.

„Du bist ein wenig zu früh zu uns gekommen. Ich konnte deshalb bei deiner Ankunft nicht sofort hier sein.“

„Ich war sehr unvorsichtig, ich weiß. Alle Gefühle, die mich warnten habe ich weggeschoben. Das war sicher nicht gut.“

„Vor allen Dingen gefährlich. Du bist in die Tiefe gestürzt. Ist dir überhaupt klar was alles hätte geschehen können? Du bist unvorsichtig und leichtsinnig gewesen als du dich auf diese Entdeckungstour eingelassen hast.“

 

Amelie schlug die Augen nieder. Sie war aber auch dumm gewesen. Ihr Streben nach der Zugehörigkeit zu den anderen Mädchen hatte sie ziemlich in Bedrängnis gebracht.

„Ich war dumm“, gab sie deshalb kleinlaut zu.

„Das ist noch untertrieben. Aber wir wollen uns mit diesen Dingen nicht länger aufhalten. Du bist nun einmal hier und so beginnen wir bereits heute mit deiner ersten Lektion.“

Die Duse schaute Amelie tief in die Augen.

„Die Grundlage des Zusammenlebens von Menschen solltest du zuerst kennen.“

Amelie sah zur Duse auf und wusste sofort, dass sie nun sehr aufmerksam zuhören musste. Mit einem Nicken begann also ihre erste Lektion:

„Die Menschen sind manchmal ohne es zu wollen hart zu dir. Sie sehen dich nicht so, wie du sie. Nicht jeder Mensch hat so ein großes Herz wie du. Jeder ist einmalig und ihr alle habt das Gute und die Liebe in euch. Aber, mein liebes Kind, die anderen Kinder und die Erwachsenen können das Gute manchmal nicht sehen. Sie haben Angst vor der Liebe, denn Liebe erfordert Vertrauen.“

„Wie können Kinder und Erwachsene einem anderen vertrauen, wenn sie sich selbst nicht lieb haben?“

Amelie hatte diese Frage ohne lange darüber nachzudenken ausgesprochen. Wie war sie nur auf diese Frage gekommen? Dieses Hisian schien sie vollkommen verändert zu haben. Sie war gespannt was die Duse weiter zu erzählen hatte. Die Liebe schien in diesem Land eine große Rolle zu spielen. Amelie spürte noch immer die Klarheit in ihrem Kopf. Wie war das nur möglich? Normalerweise schweifte sie ab. Nun hörte sie aufmerksam zu was die Duse weiter zu erzählen hatte.

„Die Liebe zu sich selbst und den anderen Menschen ist die Grundlage des Lebens! Trotzdem vergessen das viele Menschen immer wieder.

Das ist leider immer noch so. Wir haben sehr viel dafür getan, dass sich das ändert.

In Hisian warten alle darauf, dass sich in der Welt der Menschen etwas wandelt. Vielleicht schaffen es die Menschen jetzt.“ Die Duse schmunzelte geheimnisvoll.

Amelie hing wie gebannt an den Lippen dieser Frau. Sie hatte keine Spur von Angst und konnte sich überhaupt nicht erklären wieso das so war. Das Land Hisian war für sie ihre eigene Welt von dem Moment an als sie es erreicht hatte.

Gerade hatte sie diesen schrecklichen Sturz in die dunkle Tiefe erlebt. Nun saß sie hier und lauschte dieser Frau, die über die Liebe sprach.

Eine komische Sache. Doch für Amelie war es das Natürlichste der Welt. Ab heute gehörte die Duse zu ihrem Leben.

Was sie über die Liebe sagte, konnte Amelie in ihrem Herzen aufnehmen und sie würde zu Hause sicher genau spüren, wenn die anderen Mädchen oder die Eltern Angst hatten. So klein Amelie auch war, in Hisian konnte sie ihre Gefühle verstehen und ihre Gefühle machten sie stark und frei.

Wie das zu Hause werden würde, darüber dachte sie jetzt, in dieser wunderbaren Welt nicht nach. Hier war alles leicht und licht für sie.

In Hisian konnte sie sein, mit all ihrem Gefühl und ihrer Unsicherheit, die sie unter den Menschen oft zum Außenseiter werden ließ.

Wie oft hatte sie schon gedacht, dass sie störte. Das sie nicht dazu gehörte. Ja; dass sie anders sei.

In diesem Land verstand sie, dass alle Menschen nach der Liebe suchten und sie nicht fanden, weil sie manchmal schmerzhaft sein konnte. Wer wollte schon gern Schmerzen leiden? Auch Amelie litt nicht gern. Sie war in diesem Gebäude am Rande des Dorfes eingestiegen, um etwas Aufregendes zu erleben. Wie außergewöhnlich dieses Erlebnis werden würde, das hatte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Das konnte sie doch überhaupt niemanden erzählen. Bei diesem Gedanken schaute Amelie zur Duse hinauf. Auf deren Gesicht ein beruhigendes Lächeln schwebte.

„Ich bringe dich jetzt zurück nach Hause. Für dich ist die Zeit für immer hier zu bleiben noch lange nicht gekommen.

Doch sei gewiss; ich werde dich in deinen schlimmsten Tagen begleiten und immer dann zu dir kommen, wenn eine neue Lektion für dich vorgesehen ist.

Nun wirst du alles vergessen, was du hier gehört und gesehen hast. Du wirst in deiner Welt unverletzt aufwachen.“

„Wie ist das möglich? Ich bin doch in die Tiefe gestürzt.“ Amelie staunte, denn sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie das sein konnte. Sie sollte unverletzt zu Hause ankommen?

„In Hisian ist alles möglich. Es kommt nur darauf an ob es vorgesehen ist. Du wirst also völlig unversehrt zu Hause ankommen. Warum das so ist, wirst du erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“

Der Gesichtsausdruck der Duse verbot jede weitere Frage. Sie schob Amelie von ihrem Schoß und im nächsten Augenblick schwebten sie gemeinsam mit Maike in die Höhe. Maike leckte noch einmal kurz über Amelies rechte Hand und verschwand. Die Duse strich über ihre Schulter und entschwebte ebenfalls.

Kaum waren diese Bilder verschwunden, kam das Bewusstsein wieder zu Amelie zurück. Sie öffnete langsam ihre Augen. Sie schien in kalter Dunkelheit gefangen. Gerade wollte sie schreien, als sie in der Nähe einen Lichtstrahl erblickte. Der Lichtstrahl wurde breiter und breiter. Voll Erleichterung entdeckte Amelie in diesem Licht einen Schatten. Sie spürte keine Angst. Voll Vertrauen schaute sie hinüber zum Licht. Endlich, als der Lichtsschein breit genug war, entdeckte sie in ihm eine Gestalt.

Die Gestalt im Licht machte ihr klar: Sie war nicht allein in diesem dunklen Gebäude. Ihre Rettung nahte!

Der Mensch im Licht war nicht so groß wie ihr Vater. Ein Junge aus dem Dorf hatte sie gefunden. Amelie fiel ein Stein vom Herzen. Was wäre geschehen, wenn das Tor verschlossen geblieben wäre? Sie wäre dazu verdammt gewesen in der Dunkelheit auszuharren. Wie schrecklich! Eine grausige Vorstellung. Ihr Hals war so trocken, dass sie nur sehr leise rufen konnte.

„Hilfe!, Hilfe!“ Amelie spürte den Schmerz in ihrem Hals als sie die Worte über die Lippen hauchte. Würde der Junge sie hören können? Sie bangte nur kurz. Der Junge hatte sie rufen hören und kam näher.

Nick, so hieß der Junge fragte sie, was geschehen sei.

Amelie konnte sich nicht erinnern. Hatte sie Angst gehabt oder wurde sie wie magisch von der Dunkelheit angezogen?

Sie konnte sich einfach nicht mehr an alles erinnern.

Wie war sie nur hier unten hingekommen?

Der Beton unter ihr war kalt und hart. Alles um sie herum fühlte sich bedrohlich an. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass sie wohlbehalten und gesund war. In ihrem Inneren war sie aufgewühlt.

Wo war sie nur gewesen?

Nachdenken half nicht. Sie konnte sich einfach nicht erinnern was geschehen war. Ihre Erinnerung endete in dem Augenblick in dem sie den Fuß über die Kante setzte und ein unbeschreibliches Gefühl in ihrem Bauch ihren Sturz begleitete. An diesen Augenblick wollte sie sich lieber nicht erinnern und auch nicht darüber nachdenken was ihre Eltern zu ihrem wagemutigen Ausflug sagen würden.

Nick reichte ihr die Hand, damit sie aufstehen konnte. Amelie erfasste sie und rappelte sich auf. Sie fragte Nick nach den anderen Mädchen, die mit ihr in dieses verbotene Gebäude gestiegen waren. Von anderen Mädchen wusste Nick nichts. Er hatte auf dem Weg hierher niemanden getroffen. Kopfschüttelnd schaute er sich dieses unvorsichtige Mädchen an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass auch andere kleine Mädchen so unvorsichtig waren. Nicht einmal er hätte sich allein in dieses dunkle Gebäude gewagt und er war schließlich ein Junge. Was fiel diesem Mädchen nur ein in das Gebäude einzusteigen, das für alle Kinder des Dorfes tabu war? Nur gut, dass er vorbei gekommen war. Ein unbestimmtes Gefühl hatte ihn dazu veranlasst hinter dem großen Tor nachzusehen. Wenn das Tor abgeschlossen gewesen wäre, hätte niemand dieses unvorsichtige Mädchen finden können. Das hätte eine qualvolle Nacht für sie werden können. Schließlich war es jetzt schon später Nachmittag. Nick war froh seinem Gefühl gefolgt zu sein. Als er Amelie genauer ansah, bemerkte er, dass sie fror. Er war sich nicht sicher was er tun sollte. Nick atmete tief durch. Nun musste er dieses unvorsichtige Kind zu ihren Eltern bringen. Also fragte er nach Amelies Namen und dem Haus in dem sie wohnte. Amelie nannte ihren Namen und Nick wusste sofort wo sie wohnte. In dem kleinen Dorf kannten sogar die Kinder alle Bewohner.

Als Amelie mit Nick gemeinsam in die Gasse einbog in der sie wohnte, überfiel sie eine Welle der Erleichterung. Am Ende der Straße, direkt neben dem Bauernhaus ihrer Eltern, leuchteten ihr die Flügel der Mühle entgegen. Manchmal wirkten sie bedrohlich. Wenn sie in der Dämmerung zu ihnen hinüberschaute, dann wirkten sie fast wie ein riesiger Drache. Amelie überlegte in solchen Momenten ob bei der Mühle einmal schaurige Dinge geschehen waren. Ein Frösteln von ihrem Inneren ausgehend, schüttelte sie bei diesen Gedanken. Wahrscheinlich hatte dieses Frösteln etwas zu bedeuten. Amelie wollte auf dem Weg nach Hause nicht weiter darüber nachdenken. Sie wollte diese Kälte abschütteln und schaute deshalb zur Sonne hinauf. Sofort veränderte sich ihr Gefühl. Ein heller Sonnenstrahl streifte einen Flügel der Mühle. In der Sonne schien die Mühle wie zur Abwehr von unheimlichen Wesen und Gedanken geschaffen zu sein. Die großen Flügel knarrten leise im Wind und wirkten jetzt auf Amelie wie schützende Arme.

Gerade hüpfte sie über eine kleine Pfütze auf ihrem Weg. Das weckte die Erinnerung an die Spiele nach einem Regen. Wenn die Kinder mit ihren Gummistiefeln über die Pfützen Weitspringen spielten. Amelie fand am Pfützenweitspringen großes Vergnügen. Die Straßen in ihrem Dorf waren unbefestigt und deshalb für diese Spiele sehr gut geeignet. Die nassen Kleider waren ein kleines Problem. Die Mutter schaute nicht erfreut, wenn Amelie nach einem Regenguss mit Gummistiefeln bekleidet auf die Straße ging. Sie wusste nach diesen Spielen kam sie als Dreckspatz nach Hause. Nick hatte im Augenblick des Sprungs über die Pfütze fester zugefasst. Amelie verkniff sich einen Aufschrei. Sie wollte ihren Retter ganz sicher nicht ärgern. Was hätte sie schon davon? Die Pfütze war einfach zu verlockend gewesen. Sie musste darüber springen.