Killer ohne Skrupel: Ein Jesse Trevellian Thriller

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Killer ohne Skrupel: Ein Jesse Trevellian Thriller
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Alfred Bekker

Killer ohne Skrupel: Ein Jesse Trevellian Thriller

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Teil 6

Teil 7

Teil 8

Impressum neobooks

Teil 1

New York 1997

Cal Frazer sah das Licht am Ende des Lincoln-Tunnels, der Union City in New Jersey mit Manhattan verband. Der Tunnel führte tief unter dem Hudson hindurch und tauchte in Manhattan hinter der Eleventh Avenue wieder an die Oberfläche.

Frazer kniff die Augen zusammen, als er aus dem Tunnel herausfuhr.

Das gleißende Tageslicht blendete ihn etwas.

Er wusste nicht, dass sein Gesicht im selben Moment im Zielfernrohr einer Präzisionswaffe sichtbar wurde.

Das Fadenkreuz genau auf seiner Stirn...

Frazer atmete tief durch, dachte an den Termin in einer Anwaltskanzlei in Midtown Manhattan, den er vor sich hatte.

Er kannte die Strecke wie im Schlaf.

Nur gut hundertfünfzig Meter führte die Straße durch das Freie, um dann erneut durch einen Tunnel zu führen.

Frazer hob den Blick.

Oberhalb der Tunneleinfahrt war die 39. Straße West.

Gegen das grelle Sonnenlicht, dieses kalten klaren Tages konnte er den Kerl mit dem Gewehr nicht sehen, der dort oben stand und ihn im Visier hatte.

Nur Sekunden waren vergangen, seit sein BMW den Ausgang des Lincoln Tunnel passiert hatte.

Ein Geschoss ließ die Frontscheibe zerbersten und drang ihm mitten in die Stirn. Ein kleines, rundes Loch bildete sich etwas oberhalb der Augen. Ein roter Punkt, der rasch größer wurde.

Die Wucht des Projektils ließ Frazers Schädel mit einem Ruck gegen die Nackenstütze schlagen, die nicht richtig eingestellt war. Sein Hals war bereits seltsam verrenkt, als der zweite Schuss den Kiefer durchschlug und im Sitzpolster der Hinterbank steckenblieb, nachdem er die Nackenstütze zerfetzt hatte.

Der BMW brach aus seiner Bahn.

Die Hände des Toten verkrampften sich um das Lenkrad.

Und der Fuß drückte noch immer auf das Gas.

Der Wagen schrammte gegen einen Lieferwagen, der zu bremsen versuchte und ins Schleudern geriet.

Ein Sportcoupé jagte diesem von der Seite in den Laderaum.

Das Blech knickte ein wie Pappe. Reifen quietschten. Mit einem Knall fuhren weitere Fahrzeuge auf. Ein Sattelschlepper konnte gerade noch ausweichen, drängte dadurch eine Limousine von der Fahrbahn, so dass beide einen Augenblick später in den Leitplanken hängenblieben.

Der BMW jagte indessen mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.

Wie ein Geschoss.

Am Steuer eine Leiche.

Die Kurve, mit der die Fahrbahn unter der 39. Straße herführte, konnte er natürlich nicht mehr nehmen.

Frontal knallte der Wagen gegen eine Betonbarriere. Der Motorbereich des BMW faltete sich in Sekunden zusammen, als bestünde er aus Zeitungspapier. Mit einem ungeheuren Knall wurde der Wagen gestoppt.

Oben, auf der 39. Straße stand eine Gestalt und beobachtete in aller Seelenruhe das Geschehen. Der Mörder verzog das Gesicht.

Das Präzisionsgewehr verstaute er in einem Futteral.

Dann griff er in die Innentasche seiner abgewetzten Lederjacke und holte eine Sprühdose mit schwarzer Farbe hervor.

Mit schnellen, sicheren Bewegungen sprühte er gekonnt einen Schriftzug auf den Asphalt.

KILLER ANGELS stand dort im nächsten Moment in großen, zackigen Lettern.

Und etwas kleiner darunter: WIR SIND ÜBERALL!

Ein Chevy hielt am Fahrbahnrand.

Der Mörder lief mit ein paar schnellen Schritten auf den Wagen zu und stieg ein. Mit quietschenden Reifen fuhr der Chevy davon und war Augenblicke später im Verkehrsgewühl verschwunden.

"Alles okay?", fragte der Fahrer.

Der Mörder atmete tief durch.

"Ich glaube schon", sagte er.

"Wir machen jetzt einen Bogen und fahren dann zurück zum Theater District..."

"Warum?"

"Weil ich den Wagen von dort habe. Ich stelle ihn wieder genau an die Stelle, wo er stand."

"Der Besitzer wird sich freuen."

"Wenn jemand den Wagen gerade beobachtet hat und die Polizei bei dem Kerl auftaucht, wohl nicht mehr." Ein irres Kichern folgte. Den Fahrer schien diese Vorstellung sehr zu amüsieren.

Der Mörder zuckte hingegen nur die breiten Schultern.

*

Am Ausgang des Lincoln Tunnels war der Teufel los, als Milo und ich dort eintrafen. Mein Freund und Kollege Milo Tucker saß am Steuer eines Mercedes, den wir von der Fahrbereitschaft des FBI-Districts New York zur Verfügung gestellt bekommen hatten. Es war eine große Limousine.

Milo stellte sie am Straßenrand ab. Der Ausgang des Lincoln-Tunnels war in beide Richtungen gesperrt worden. Und das würde sicherlich noch ein paar Stunden so bleiben.

Wir stiegen aus.

Ich schlug mir den Mantelkragen hoch.

Ein verdammt kalter Wind wehte vom Hudson River herüber und ließ einem die Nase innerhalb weniger Augenblicke krebsrot frieren.

Zahlreiche Einsatzwagen von City Police, Highway Patrol und Feuerwehr drängten sich auf dem Asphalt. Dazu kamen noch etliche medizinische Rettungsteams und Beamten der Scientific Research Division, dem zentralen Erkennungsdienst der verschiedenen Polizeiabteilungen der Stadt New York, der auch vom FBI-District häufig in Anspruch genommen wurde.

"Das sieht ja furchtbar aus", murmelte Milo mit gerunzelter Stirn.

Ich nickte nur.

Gegenüber einem uniformierten Cop zeigten wir unsere FBI-Dienstausweise.

Der Officer nickte knapp.

"Schlimme Sache, Sir", meinte er.

"Wieder ein Anschlag dieser Gang, die sich die KILLER ANGELS nennt?", fragte ich. Viel hatte man uns nicht gesagt. Die Nachricht hatte uns erreicht, nachdem wir gerade unser Büro im FBI-Gebäude an der Federal Plaza betreten hatten.

Wir waren sofort losgefahren.

"Wird Zeit, dass mit dieser Terror-Bande endlich aufgeräumt wird, wenn Sie mich fragen", meinte der Officer. "Sehen Sie sich doch an, was die hier angerichtet haben!" Er deutete hinauf zur 39. Straße. "Dort oben hat der Kerl gestanden und abgedrückt. Wahllos - irgend ein Auto. Nur um seinen Mut zu beweisen oder weil er BMWs nicht leiden konnte..." Der Officer atmete tief durch.

Als Streifenpolizist war er sicher einiges gewohnt.

Das war kein Job für zartbesaitete Gemüter.

Aber das hier nahm ihn sichtlich mit.

"Ich kann verstehen, wenn jemand reich sein möchte und einen Geldtransport überfällt, weil er das für seine große Chance hält. Ich kann auch verstehen, wenn jemand im Streit jemanden erschlägt, weil ihm einfach eine Sicherung durchbrennt. Mein Gott, aber das hier..." Er schüttelte den Kopf. "Es ist so völlig sinnlos."

Da konnte ich ihm nur zustimmen.

Ich nickte.

Er sagte: "Ich hoffe, der Kerl kriegt, was er verdient."

"Das hoffe ich auch", erwiderte ich.

Ich blickte zu einem Lieferwagen, der aussah wie ein zerdrückter Blechsarg. Einige Männer waren gerade damit beschäftigt, jemanden aus dem Schrotthaufen herauszuschneiden. Eine Blutlache war auf dem kalten Asphalt zu sehen. Sie war schon angetrocknet.

Eine Tragödie, dachte ich. Die Wut des Officers konnte ich nur zu gut verstehen.

"Fünf Tote", raunte er mir zu. "Und es ist noch nicht klar, ob von den Verletzten alle überleben werden..."

*

Captain Logan Jakes, Leiter der Mordkommission Midtown Manhattan II, trat auf uns zu. Das Walkie Talkie ragte ihm aus der Manteltasche. Das Haar war ungekämmt, und er hatte garantiert noch nicht gefrühstückt. Sein Gesicht wirkte grau.

"Hallo, Jesse", begrüßte er mich knapp. Ich kannte ihn von verschiedenen Einsätzen her. Milo begrüßte er mit einem Kopfnicken. "Die Spurensicherer werden noch eine ganze Weile zu tun haben, aber es sieht ganz nach einer dieser verfluchten Mutproben aus, mit denen die KILLER ANGELS ihre neuen Mitglieder aufnehmen." Er deutete auf den Blechhaufen, der vor diesem Attentat einmal ein BMW gewesen war. Einige Mitarbeiter der Spurensicherung machten sich dann an dem Wagen zu schaffen.

"Weiß man schon, wer das Opfer war?", fragte ich.

"Nein. Wir müssen die Leiche erst mühsam aus dem BMW herausschneiden. Ich glaube auch nicht, dass Sie das weiterbringen würde. Das Opfer ist völlig willkürlich ausgesucht worden. Der Kerl stand da oben auf der 39. Straße und hat sich irgendeines der Fahrzeuge herausgepickt, die gerade aus dem Lincoln Tunnel herausgeschossen kamen."

Ich nickte.

Näheres würde sich wohl in den Berichten finden. Sowohl in jenem des Gerichtsmediziners als auch in dem, was die Ballistiker herausfinden würden. Wir folgten Captain Jakes bis zu dem BMW.

 

Ein furchtbarer Anblick. Ich notierte mir die Nummer. Mochte der Teufel wissen, wozu ich die mal brauchen würde.

Jakes atmete tief durch und meinte dann düster: "Vor zwei Wochen stand ich das letzte Mal hier. Fast genau an derselben Stelle und aus demselben Anlass..."

"Ich weiß", sagte ich.

"Es ist kaum zu fassen! Diese Brüder sind wirklich dreist geworden! Zweimal hintereinander an derselben Stelle!" Er zuckte die breiten Schultern. "Vielleicht war das ja eine Tat, durch die ganz besonderer Mut bewiesen werden sollte", meinte er dann mit ätzendem Unterton.

"Wir tun, was wir können, um die Täter zu fassen", erklärte Milo. "Aber schließlich können wir nicht einfach in die Bronx fahren und alle Leute verhaften, die seltsame Lederjacken tragen..."

"Das sollte auch kein Vorwurf sein", erwiderte Captain Jakes. "Aber wenn man so etwas sieht, dann kann man schon die Wut bekommen..." Er deutete hinauf zur 39. Straße. "Ich nehme an, Sie wollen noch die Stelle sehen, von der aus geschossen wurde..."

"Ja", nickte ich.

"Der Täter kann kein schlechter Schütze gewesen sein", stellte Jakes dann fest.

"Wie kommen Sie darauf?", meinte Milo. "So ein BMW ist doch kein kleines Ziel!"

"Nein, aber beweglich. Der Schütze hatte nur wenige Sekunden Zeit, den Wagen zu erwischen, bevor er in der Unterführung der Neunundreißigsten verschwunden gewesen wäre. Wo er den BMW getroffen hat, ist schon beinahe unwichtig. Selbst wenn es nur ein Reifen ist, ist eine Katastrophe vorprogrammiert. Mehr oder weniger jedenfalls."

"Nehmen wir unseren Wagen?", fragte Milo.

Captain Jakes nickte. "Mit meinem ist mein Lieutenant gerade unterwegs."

Wir stiegen in den Mercedes.

Diesmal saß ich am Steuer. Wir passierten die Unterführung und mussten dann einen Bogen fahren, um schließlich auf die 39. Straße zu gelangen, eine Einbahnstraße in Richtung Hudson. Die Stelle, an der der Killer auf sein Opfer gelauert hatte, war schwerlich zu verfehlen, denn auch dort befanden sich jede Menge Einsatzfahrzeuge der City Police.

Eine Fahrbahn war gesperrt.

Der Verkehr wurde um die Stelle herumgeleitet.

Wir hielten am Straßenrand und stiegen aus.

Wenig später standen wir drei dann genau an jener Stelle, von der aus der Täter seinen wunderbaren Ausblick gehabt hatte. Genau auf den Ausgang des Lincoln Tunnels.

Jakes sagte: "Es sieht so aus, als hätte der Mörder den BMW-Fahrer getroffen. Das bedeutet, dass er ihn ziemlich bald erwischt haben muss, nachdem der Wagen aus dem Tunnel herauskam. Sonst wäre der Winkel zu ungünstig geworden..."

Ich blickte auf die Schrift, die mit einer Sprühdose auf den Boden gebracht worden war.

"Der Schriftzug der KILLER ANGELS ist gut getroffen", meinte Milo.

"Ich möchte so schnell wie möglich Abzüge von den Fotos haben, die die Spurensicherung hoffentlich davon gemacht hat."

"Schmiererei", meinte Logan Jakes leichthin.

"Abwarten", erwiderte ich. Jede Kleinigkeit konnte am Ende den entscheidenden Hinweis bedeuten.

Einer der Police Officers trat jetzt zu uns und wandte sich an Jakes.

"Captain, ich habe hier den Polizeichef in der Leitung."

Jakes nickte.

"Ich komme schon ", sagte er und folgte dem Officer bis zu dessen Einsatzwagen.

Milo sah ihm kurz nach.

"Scheint, als würde man auch in den höheren Etagen nervös, Jesse."

"Wundert dich das?"

"Nicht wirklich", erwiderte Milo. "Schließlich breiten sich diese KILLER ANGELS in der Bronx wie eine Seuche aus, Häuserblock für Häuserblock, Straßenzug für Straßenzug. Es erinnert an einen Guerilla-Krieg."

Wir wechselten einen kurzen Blick.

Ja, es war ein Krieg, den die KILLER ANGELS führten.

Ein Krieg gegen die Polizei, die Bürger, verfeindete Gangs und jeden Crack-Dealer zwischen 150er und 180er Straße, der die Frechheit besaß, ihnen nicht mindestens die Hälfte seines Gewinns abzugeben.

Die South Bronx, Harlem und Teile von Brooklyn waren die Orte in New York, in denen Drogen und Armut offen regierten.

Jugend-Gangs, die ein paar Straßenzüge regierten waren nichts Ungewöhnliches. Und dass solche Gangs die Finger nach dem ausstreckten, was ihnen Profit versprach, war leider auch an der Tagesordnung.

Als Drogenhändler konnte man in der Bronx immer noch mehr verdienen als in jedem der spärlich gesäten Jobs, die es hier gab. Sehr viel mehr.

Aber die KILLER ANGELS waren nicht irgend eine Gang. Nicht eine der vielen Banden, von denen manche ganz offen agierten und dafür sorgten, dass sich in gewissen Straßenzügen die City Police nur in Mannschaftsstärke und mit der Pump Gun im Anschlag aus dem Wagen traute.

Aber die KILLER ANGELS waren in jeder Hinsicht etwas Besonderes. Besser ausgerüstet, besser bewaffnet und besser organisiert als alle anderen, die sie Straße für Straße vor sich hertrieben.

Natürlich hatten wir unsere Informanten vor Ort.

Und so wussten wir zumindest in ganz groben Umrissen, was vor sich ging. Alle Erkenntnisse deuteten in eine ganz bestimmte Richtung...

Die KILLER ANGELS arbeiteten vermutlich für jemanden, der den Crack-Handel unter seine Kontrolle bringen wollte, indem er einen äußerst blutigen Feldzug gegen die Konkurrenz führte.

Jemand mit viel Geld.

Sehr viel Geld.

Um wen es sich dabei handelte, davon hatten wir keine Ahnung. Vermutlich auch der Großteil der Crackhandler und die niederen Chargen der KILLER ANGELS nicht. Vielleicht kannten sogar die Anführer nur irgendwelche Mittelsmänner.

Dieser Unbekannte im Hintergrund hielt sich auf diese Weise völlig aus der Schusslinie. Und die ANGELS machten nicht nur die Drecksarbeit für ihn, sondern trugen auch das volle Risiko.

Ich sah noch einmal hinunter zum Eingang des Lincoln-Tunnels, der für den bislang unbekannten BMW-Fahrer zur Todesfalle geworden war.

So tragisch dieses Ereignis war, im Grunde war es nichts weiter als eine Fußnote in einem grausamen Drogenkrieg, mit dem der Mann am Steuer des BMW mit Sicherheit nicht das Geringste zu tun gehabt hatte.

Milo trat neben mich.

"Was denkst du?", fragte er. "Irgendwas schwirrt dir doch im Kopf herum."

Ich lächelte matt.

"Bist du Telepath?"

"Nein, aber ich kenne dich eine Weile, Alter."

"Leicht untertrieben, was?"

"Vielleicht ein bisschen..."

Eine Pause entstand. In Gedanken ging ich nochmal alles durch. Milo hatte das ganz richtig erkannt. Da war in der Tat etwas, was mich beschäftigte.

"Dies ist nicht der erste derartige Anschlag der KILLER ANGELS", meinte ich vorsichtig. "Aber bislang haben sie nie zweimal hintereinander am selben Ort zugeschlagen..."

Milo hob die Augenbrauen.

"Und? Was folgerst du daraus, Jesse?"

Ich zuckte die Achseln.

"Nichts", sagte ich. "Es ist mir eben nur aufgefallen und ich frage mich, ob es dafür vielleicht irgend einen vernünftigen Grund geben könnte."

Milo machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Ein vernünftiger Grund?", zitierte er mich. Er schüttelte energisch den Kopf. "Entschuldige, Jesse, aber in diesem Zusammenhang klingt das etwas Merkwürdig..."

*

Pat Borinsky stand am Fenster des ziemlich heruntergekommenen Brownstone-Hauses und schob die Gardine zur Seite. Er überprüfte kurz den Sitz des riesigen Magnum-Revolvers, den er auf dem Rücken im Hosenbund trug.

Sein Bruder Cyrus flegelte sich derweil in einem der ziemlich durchgesessenen Ledersessel und versuchte gerade verzweifelt, eine Dose Budweiser zu öffnen, nachdem er so ungeschickt gewesen war, den Henkel abzubrechen. Cyrus fluchte unflätig, als er sich die Jeans besudelte. Er hielt die Dose über den niedrigen Glastisch, auf dem Spuren eines weißen Pulvers zu sehen waren.

Backpulver.

Zusammen mit Kokain konnte man es aufkochen und daraus wurde dann Crack. Ein gutes Geschäft, denn die Konsumenten hatten keine Möglichkeit, hernach zu kontrollieren, wie hoch der Anteil des Backpulvers war.

Und oft war bereits das Kokain gepanscht gewesen.

Crack war ein Teufelszeug. Viel billiger als Heroin und Kokain, aber genauso suchterzeugend. Die Droge der kleinen Leute, die sich reines Koks nicht leisten konnten.

"Was gibt's da zu sehen?", fragte Cyrus an seinen Bruder gewandt, nachdem er die halbe Budweiser-Büchse leergetrunken hatte.

Pat kniff die Augen zusammen.

"Unser Kunde", sagte er.

"Na fein. Das Geschäft war heute ja auch ziemlich mau!"

Pat beobachtete einen Ford, der am Straßenrand hielt. Ein Mann stieg aus. Mittlerer Jahrgang, Bauchansatz, kaum noch Haare auf dem Kopf. Er zog sich den Mantelkragen hoch und blickte sich nervös um.

"Was ist das für einer?", fragte Cyrus.

"War noch nie hier", erwiderte Pat. "Wenn du mich fragst: Kleiner Angestellter, der dem Stress nicht gewachsen ist. Wohnt in Queens! Seiner Telefonstimme nach ein Feigling."

Cyrus lachte schallend.

"Hartes Urteil", meinte er.

"Ich täusche mich selten."

"Bild dir nur nichts drauf ein."

Pat beobachtete jetzt, wie der Kunde auf die Haustür zukam.

Das kleine verwilderte Rasenstück, das eigentlich mal ein Vorgarten gewesen war, durchschritt er mit langen, ausholenden Schritten. Wieder sah er sich um. Die Nervosität war ihm ins Gesicht geschrieben. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte einen Umschlag heraus.

Dann bückte er sich und steckte den Umschlag in den Briefschlitz.

"Ich gehe mal an die Tür und zähle nach", sagte Cyrus.

Pat beobachtete derweil den Kunden.

Er ging zurück in Richtung Wagen. Nachdem er sich abermals umgedreht hatte, wandte er sich an eine der überquellenden Mülltonnen. Er öffnete sie und nahm eine Zeitung heraus. Ein Exemplar der New York Daily News. Er öffnete es, holte etwas heraus, das er sogleich in der Manteltasche verschwinden ließ und stieg dann in seinen Wagen ein.

Cyrus rief indessen aus dem Flur, der zur Tür hinführte: "Das Geld stimmt!"

"Okay..."

Im anderen Fall hätte Pat den Kunden mit einem gezielten Schuss in den Reifen stoppen können.

Aber so etwas kam eigentlich nie vor. Das Risiko, von den Kunden geprellt zu werden war gering, weil die wussten, was ihnen dann blühen konnte, sofern der Dealer sie in die Finger bekam.

Aber das Risiko, verurteilt zu werden, wurde auf diese Weise minimiert. Ab und zu wurden solche Crack-Häuser zwar von der DEA oder den entsprechenden Abteilungen der City Police gestürmt und die Dealer festgenommen. Aber wenn die Polizei nicht sehr sorgfältig war, kam nichts Gerichtsverwertbares dabei heraus. Schließlich konnte ja jeder das Rauschgift in die Mülltonne gelegt haben. Und zur Haustür war der Kunde vielleicht nur gegangen, um zu sehen, ob er an der richtigen Adresse war.

Man brauchte geschickte Anwälte, aber mit etwas Kleingeld war das kein Problem.

Cyrus kehrte in das Wohnzimmer zurück. Er legte den Umschlag auf den Tisch.

Pat atmete tief durch.

Es klang beinahe erleichtert.

"Was ist los?", fragte Cyrus.

"Ich hatte ein schlechtes Gefühl", sagte Pat.

"Wieso?"

"Bei Neukunden muss man immer aufpassen. Kann immer ein Cop sein..."

"Wir sind vorsichtig", sagte Cyrus. Und das bedeutete insbesondere, dass sich im ganzen Haus nicht ein einziges Gramm Crack oder Kokain befand.

Nicht jetzt.

"Vor den Cops habe ich keine besondere Angst", sagte Pat. "Die sind an die Gesetze gebunden... Ich mache mir mehr Sorgen um die, die sich ihr eigenes Gesetz machen..."

Ein Motorengeräusch ließ Pat aufhorchen.

Er sah aus dem Fenster, konnte aber noch nichts sehen.

Dann sah er einige Motorräder die Straße entlangrasen. Sie achteten auf niemanden, sondern gingen einfach davon aus, dass sie Vorfahrt hatten. Schwarz lackierte Motorräder, auf die in Airbrush-Technik martialische Embleme aufgebracht waren.

Hier und da war in zackigen Großbuchstaben der Schriftzug KILLER ANGELS zu lesen.

Die Helme waren ebenfalls schwarz, die Visiere heruntergelassen und mit getönter Sichtscheibe ausgestattet, so dass von den Gesichtern der Fahrer nicht das Geringste zu sehen war.

 

Auf der Stirn trugen diese Helme ein weißes Kreuz.

"Ich hoffe nicht, dass die zu uns wollen", meinte Pat.

Sein Bruder war bereits durch eine Tür in einen Nebenraum verschwunden und kehrte mit einem Pump Action Gewehr zurück.

Cyrus hatte die Situation sofort erfasst.

"Natürlich wollen diese Bastarde zu uns", zischte er zwischen den Lippen hindurch. "Sie wollen Krieg, darauf kannst du Gift nehmen! Sollen sie ihn bekommen..."

Pat hatte den Magnum-Revolver nicht gezogen. Stattdessen machte er eine Handbewegung, mit der er seinen Bruder dazu brachte, auf der Stelle stehenzubleiben.

"Ganz ruhig, Cy. Wenn wir jetzt nicht aufpassen, dann hängen unsere Skalps als Trophäen an diesen Feuerstühlen..."

"Scheiß Latinos", zischte Cyrus zwischen den dünnen Lippen hindurch. Er lud die Pump Gun mit einer energischen Bewegung durch.

Pat blieb am Fenster und blickte hinaus. Er beobachtete die Motorradfahrer. Mindestens ein Dutzend zählte er. Und sie fuhren wie eine Eskorte!

Drei, vier Limousinen rauschten dann heran. Alles Wagen der Luxusklasse. Mercedes oder BMW.

Kein Toyota oder Honda und schon gar kein koreanischer Wagen. Die KILLER ANGELS mochten keine Asiaten, das war allgemein bekannt. Daher verabscheuten sie auch entsprechende Autofabrikate. Für die Besitzer war das natürlich nur ein Vorteil, denn natürlich waren all diese Fahrzeuge nie käuflich erworben worden.

Wenn sie einen schönen Schlitten brauchten, dann fuhr einer von ihnen einfach Midtown Manhattan oder in den Financial District und holte sich einen.

Kostenfreie Lieferung für Selbstabholer, so pflegten sie das zynisch zu nennen.

Pat begann zu schwitzen.

Die Tatsache, dass die Gang mit einer ganzen Armee angerückt war, konnte nichts Gutes bedeuten. Eine Augenblick lang kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, die Gegend zu verlassen, als diese Gestalten im schwarzen Lederdress hier auftauchten.

Die Motorradfahrer bezogen Stellung.

Sie zogen ihre Waffen.

Automatik-Pistolen, Uzi-Maschinengewehre und vor allem Pump Guns, die sie Patrouillen der City Police abgenommen hatten. Es war ein buntes Gemisch. Eine furchteinflößende Truppe, die bestens ausgerüstet zu sein schien.

Einige nahmen ihre Helme ab.

Und jetzt konnte man sehen, wie jung sie waren. Das Durchschnittsalter konnte kaum über zwanzig liegen. Nur die Anführer, die waren deutlich älter. Vielleicht bis dreißig Jahre alt. Die Türen der Limousinen gingen auf. Überall gingen Bewaffnete in Stellung.

"Wir haben keine Chance", meinte Pat Borinsky. "Wir können nicht einmal flüchten..."

"Ich frage mich, wer die schickt", knurrte Cyrus.

"Kann uns egal sein. Wir können es so oder so nicht mit ihnen aufnehmen."

"Ich werde ein paar Leute zusammentrommeln", meinte Cyrus.

Der Angstschweiß stand ihm bereits auf der Stirn. Seine Augen glänzten.

Er griff zum Telefon. Dann knallte er den Hörer wieder auf die Gabel.

"Tot", sagte er tonlos.

Im nächsten Augenblick brach das Inferno los.

Aus Dutzenden von Waffen wurde unaufhörlich gefeuert.

Scheiben gingen zu Bruch. Pat warf sich in Deckung. Cyrus machte einen Satz zum Fenster hin. Er wollte zurückschießen, aber mehr als eine ungezielte Bleiladung konnte er nicht loswerden. Dann musste er schleunigst den Kopf einziehen.

Schritte waren zu hören.

Von allen Seiten kamen Sie.

Etwas flog durch die Scheibe.

Eine Handgranate.

Es war das Letzte, was Pat sah. Dann gab es eine gewaltige Detonation. Pat wurde völlig zerrissen. Selbst Spezialisten würden später Schwierigkeiten haben, ihn noch zu identifizieren.

Cyrus hechtete sich kurz bevor die Granate explodierte seitwärts. Er krümmte sich zusammen, während der ohrenbetäubende Lärm der Explosion den Raum erfüllte. Im nächsten Moment spürte er einen höllischen Schmerz im Rücken.

Irgendein Splitter musste ihn dort erwischt haben. Der Schmerz breitete sich über seinen ganzen Körper aus. Seine Hände hielten noch immer die Pump Gun umklammert. In seinem Mund schmeckte er Blut. Er versuchte, sich auf dem Boden herumzudrehen. Es tat höllisch weh.

Ein röchelnder Laut entrang sich seinen Lippen.

Er hörte ein Krachen, so als wenn Holz barst.

Jemand brach die Haustür auf.

Dann Schritte auf dem Flur.

Cyrus Borinsky blickte auf und sah über sich eine schlanke, hochaufragende und in schwarzes Leder gekleidete Gestalt.

Das Gesicht war blass, die Augen dunkelbraun. Das Kinn sprang etwas hervor. Ein zynisches Lächeln spielte um die dünnen Lippen. In der Rechten hielt er eine Automatik.

Dieser Mann war etwa dreißig. Er wurde flankiert von zwei jüngeren Männern, von denen einer mit einem Sturmgewehr und der andere mit einer Automatik bewaffnet war.

Cyrus erkannte den blassgesichtigen Mann mit den dunklen Haaren, der auf ihn in diesem Moment wie eine Verkörperung des Todes selbst wirkte.

Einmal war er ihm kurz begegnet.

Das war Killer-Joe.

Unter diesem Namen war er in der Bronx bekannt. Wie er wirklich hieß, wusste niemand hier. Er war skrupellos und eiskalt. Und seine jugendlichen Anhänger blickten ehrfurchtsvoll zu ihm auf. Er war ihr Vorbild. Und eines Tages würde vielleicht einer dieser jungen Kerle ihm hinterrücks eine Kugel in den Schädel jagen, um sich selbst an die Spitze zu setzen.

Aber soweit waren die noch nicht.

Killer-Joe beugte sich herab. Im Gegensatz zu seinen Leuten trug er keine Handschuhe. Die martialischen Symbole, die er sich auf die Handrücken hatte tätowieren lassen, waren deutlich zu sehen.

In seinen Augen blitzte es.

"Ihr hättet auf mich hören sollen, Borinsky!"

Cyrus Borinsky antwortete mit einem Röcheln.

Er wollte die Pump Gun hochreißen und eine volle Bleiladung in das zynische Gesicht dieses blassen Todesengels jagen.

Aber Hände und Arme gehorchten dem Crack-Dealer nicht mehr.

Ausgespielt, dachte er.

Aus und vorbei.

Joe lachte rau.

"Ich hoffe, dass möglichst viele Leute in der Gegend davon hören, auf welch erbärmliche Weise du verreckt bist, Borinsky! Und vielleicht werden sie dann endlich begreifen, wie es jedem ergeht, der nicht kapiert, wer hier in der Gegend mit Crack dealen darf und wer nicht! Vielleicht rettest du auf diese Weise noch ein paar Leben, Borinsky! Gefällt dir der Gedanke?"

Killer-Joe nahm seine Automatik und setzte sie an Cyrus Broninskys Schädel. Cyrus schloss die Augen.

Aber dann entschied Joe sich anders.

Er wandte sich an den links von ihm stehenden jungen Mann.

"Mach du das, Alberto!"

"Ich?"

"Hast du es mit den Ohren?"

"Aber..."

"Das am Lincoln-Tunnel war doch nur Spielerei! Jetzt kannst du zeigen, dass du einer von uns bist, Al! Na, los! Leg ihn um und sieh ihm dabei in die Augen..."

Alberto schluckte.

Killer-Joe trat zur Seite.

Alberto hob seine Automatik, zielte und drückte ab. Er verschoss beinahe die Hälfte des Magazininhalts.

*

Es war früher Nachmittag, als Milo und ich auf dem Weg waren, um uns mit Paul Morales zu treffen. Morales war einer unserer Informanten. Er war einer der wenigen Geschäftsleute, die es in der South Bronx bis heute ausgehalten hatten. Er besaß einen Drugstore und einen Coffee Shop. Außerdem einen Zeitungskiosk. Jahrzehntelang hatte er Schutzgelder an die jeweils dominierende Gang gezahlt. Jetzt zahlte er immer noch, aber seit seine Frau bei einer Schießerei zwischen verfeindeten Jugendbanden durch einen Querschläger ums Leben gekommen war, war ihm alles egal.

Die Täter waren nie gefasst worden.

Und vermutlich würde man sie auch nie vor Gericht stellen.

Möglicherweise lebten sie sogar schon gar nicht mehr, sondern hatten bei irgendeiner bewaffneten Auseinandersetzung ihr Leben ausgehaucht, ohne je einen normalen Job gehabt zu haben.

Jedenfalls war Morales bereit, ein gewisses Risiko auf sich zu nehmen.

Denn wenn herauskam, dass er mit dem FBI kooperierte, dann war er ein toter Mann.

Das war so sicher, wie das Amen in der Kirche.

Unser Treffpunkt war ein Café in der Mott Street in Little Italy. Weit ab von der Bronx. Und ein Ort, an dem es extrem unwahrscheinlich war, ein Mitglied der KILLER ANGELS anzutreffen.

"Wenn Morales das Risiko aufnimmt, sich mit uns zu treffen, muss er etwas anzubieten haben", war Milo überzeugt.

Ich zuckte die Achseln.

"Es ist doch immer dasselbe. Die großen Tiere schirmen sich derart ab, dass man nur schwer an sie herankommt..."

"Wir kriegen sie, Jesse."

"Optimist."

Wir parkten den Wagen am Straßenrand. Die letzten Meter bis zu Antonio's Café, wo wir uns mit Morales verabredet hatten, gingen wir zu Fuß.

Es war ein kleiner, gemütlicher Laden. So, wie man sich Little Italy im Bilderbuch oder im Reiseführer vorstellte.

Wir gingen hinein.

Paul Morales saß zusammengekauert in einer Ecke und trank einen Espresso. Ein kleiner, schmächtiger Mittfünfziger mit braunen Hundeaugen und herabhängenden Wangen. Er war hager und seine faltige, aschgraue Haut ließ ihn älter erscheinen als er war.

"Mr. Morales?", sagte ich.

Morales blickte auf.

Wir zeigten ihm unsere Ausweise.

Er prüfte sie eingehend. Dann atmete er tief durch.