Kommunikationswissenschaft

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Literatur

Deacon, Terrence W. (1998): The symbolic species the co-evolution of language and the human brain. London: Penguin.

Donald, Merlin (1991): Origins of the modern mind three stages in the evolution of culture and cognition. Cambridge, Mass. [u.a.]: Harvard Univ. Press.

Hübler, Axel (2001): Das Konzept "Körper" in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften. Tübingen [u.a.]: Francke (UTB).

Krampen, Martin (Hg.) (1983): Visuelle Kommunikation und/oder verbale Kommunikation? Hochschule der Künste Berlin. Hildesheim: Olms (Semiotische Studien zur Kommunikation, 1).

Marler, Peter (1965) (1965): Communication in monkeys and apes. In: Irven DeVore (Hg.): Primate behavior. Field studies of monkeys and apes. New York: Holt, Rinehart, and Winston, S. 544–584.

Nöth, Winfried (2000): Handbuch der Semiotik. 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl. Stuttgart [u.a.]: Metzler.

Pepperberg, Irene M. (2009): Alex und ich die einzigartige Freundschaft zwischen einer Harvard-Forscherin und dem schlausten Vogel der Welt. 1. Aufl. München: mvg-Verl.

Posner, Roland (Hg.) (2009): Diagrammatische Zeichen. Tübingen: Stauffenburg (Zeitschrift für Semiotik, 31.2009, 3/4).

Preuschoft, Holger (1990): Sprache (oder Schrift?) bei unseren nächsten Verwandten. In: Walter A. Koch (Hg.): Aspekte einer Kultursemiotik. Bochum: Brockmeyer (Bochumer Beiträge zur Semiotik, 17), S. 77–114.

Saussure, Ferdinand de (1931): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin [u.a.]: De Gruyter.

Sebeok, Thomas A. (1991): A sign is just a sign. Bloomington Ind. u.a.: Indiana Univ. Press (Advances in semiotics).

Sebeok, Thomas A. (Hg.) (1992): Biosemiotics (Approaches to semiotics, 106).

Sebeok, Thomas Albert (1972): Perspectives in zoosemiotics. The Hague: Mouton (Ianua linguarum / Series minor).

Shannon, Claude E.; Weaver, Warren (1949): The mathematical theory of communication. Urbana: Univ. of Illinois Press.

Zahavî, Amôs; Zahavî, Avîsag (1997): The handicap principle. A missing piece of Darwin's puzzle. New York u.a.: Oxford Univ. Press.

Weiterführende Literatur

Donald, Merlin (2008): Triumph des Bewusstseins die Evolution des menschlichen Geistes. Dt. Ausg. Stuttgart: Klett-Cotta.

Krampen, Martin; Götte, Michael; Kneidl, Michael (Hg.) (2007): Die Welt der Zeichen. Kommunikation mit Piktogrammen = The world of signs: communication by pictographs. Ludwigsburg: av edition. Online verfügbar unter http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?id=2900089&prov=M&dok_var=1&dok_ext=htm.

Morris, Charles W. (1979): Grundlagen der Zeichentheorie. Ungekürzte Ausg. Frankfurt/M.; Berlin [u.a.]: Ullstein.

Peirce, Charles S. (1965): Über Zeichen. Stuttgart: Mayer.

Posner, Roland (2003): Kultursemiotik. In: Konzepte der Kulturwissenschaften: theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, S. 39–72.

Sebeok, Thomas A. (2001): Global semiotics. Bloomington: Indiana University Press (Advances in semiotics).

Steklis, H. Dieter (2000): Monkey see, monkey do? In: Current anthropology 41 (5), 884–886.

Tomasello, Michael; Schröder, Jürgen (2014): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 2004)

Link: http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/nachruf-auf-alex-der-schlaueste-papagei-der-welt-ist-tot-a-505121.html

Problemstellung und Fragen

1 Spuren der Signaltheorie findet man auch heute noch, wenn über Kommunikation geredet wird. Warum kann eine Signaltheorie nur eingeschränkt Aussagen über Kommunikation machen? (Vgl. 3.1)

2 Wer die Zeitung aufschlägt, sucht nach Informationen. Im Internet erhofft man sich neue Nachrichten aus dem Bekanntenkreis, „Information“ und „Nachricht“ waren für die frühe Kommunikationswissenschaft zentrale Begriffe gewesen. Was sind die wichtigsten unterscheidenden Merkmale. (Vgl. 3.1)

3 Zentral für das Erklären von Kommunikation ist der Zeichenbegriff. Entsprechend ausdifferenziert wird über Zeichen gesprochen. Welche Typen von Zeichen sind grundlegend? Welche Autoren haben dieses Problem mit welchen Schwerpunkten diskutiert und wo haben sie den Zeichenbegriff weiterentwickeln können? (Vgl. 3.2)

4 Der Zeichengebrauch erfolgt stets in kommunikativen Kontexten. C.S. Peirce denkt an einen sehr ausdifferenzierten Zeichenbegriff. Wo und wie lässt sich dieser für die Beschreibung konkreter Kommunikationshandlungen nutzen? (Vgl. 3.3)

5 Die Zeichenverarbeitung folgt ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Welche Einsichten lassen sich aus der Beschreibung nichtmenschlicher Kommunikationssysteme gewinnen? (Vgl. 3.4)

Handeln und Deuten in kommunikativen Alltagssituationen

Inhalt

 4.1 Handeln und Handlung 66

 4.2 Kommunikation als Handlung 69

 4.3 Deutungsarbeit im Handlungsraum der Kommunikation 72

 4.4 Das Beobachten des Handlungsraumes 79

 4.5 Literatur 82

 4.6 Problemstellung und Aufgaben 84

Überblick

Kommunizieren als ein Ereignis erfolgt nicht losgelöst von umfassenderen Handlungszusammenhängen. Kommunikation lässt sich nur aus dem Zusammenwirken von Handeln und Kommunizieren erhellen. Das setzt ein Modell von Handlung voraus, das über individuelles Tun hinausreicht. Handeln stellt immer Bezüge zur Umwelt her, die sich als objektbezogen, sozial bedingt und subjektiv motiviert darstellen. Es ist deshalb immer Gegenstand gegenseitigen Beobachtens und Deutens, was erst durch Kommunikation sichtbar gemacht werden kann. Sie schafft den Raum, Handeln in umfassenderen Kontexten zu verorten und die Sichtweisen darauf zu arrangieren. Handlungstheorien haben sich mit dem Erfassen dieser Zusammenhänge schwer getan. Sie lassen sich in Strukturmerkmalen, Machtansprüchen oder alltäglichen Praktiken finden. Entsprechend unterschiedlich wird das Handeln beobachtet und erklärt.

Handeln und Handlung

Kommunikation setzt auf das aktive Zusammenwirken mit Anderen. Die Kommunikationspartner nehmen mithilfe von Zeichen, die als Daten übermittelt und wahrgenommen werden, auf etwas Drittes Bezug. Das setzt einen Kontext aus bestehenden Erfahrungen im Umgang mit solchen Prozessen voraus. Kommunikation erscheint so als eine Form des Handelns, das sich an Andere richtet. Das nötigt zu klären, von welcher Art Verhalten sein muss, so dass es als kommunikative Handlung angesehen werden kann,


N, M und O sind Kollegen einer Arbeitsgruppe. Es gibt auseinandergehende Meinungen. S ist ein weiteres Mitglied der Arbeitsgruppe, gegenwärtig nicht anwesend und hat, weil er mit vielem nicht einverstanden ist, eine eigene Initiative gestartet.
01 N Da musst du handeln. Das ist ganz klar. Es kann doch nicht sein, dass der alles tun darf, was ihm gerade in den Sinn kommt. Ich würde ihm zuerst einmal untersagen, ohne Rücksprache mit den Anderen einfach neue Termine festzusetzen und Leute einzuladen, die wir gar nicht wollen. Er macht, was er will.
02 O Ich sage immer, schnelles Handeln erspart dir andauernden Ärger.
03 M Ich kann nicht einfach zu ihm hingehen und sagen, hör auf damit.
Gremienarbeit: Gesprächsnotiz

Die Episode ereignete sich im Vorfeld einer Gremiensitzung in der Universität und wurde im Nachhinein schriftlich festgehalten. In der Szene wird über die Notwendigkeit eines Handelns von M gegenüber der Person S gesprochen. Das, was geäußert wird, legt sprachliches Handeln zur Lösung des Problems mit S nahe. Es sieht so aus, als solle M mit jemandem reden, der sich des Problems annehmen könnte. Das Ereignis könnte aber auch als ein institutioneller Vorgang vorgestellt werden und würde dann in Form eines offiziellen Schreibens an eine übergeordnete Person oder Stelle erfolgen, in dem ein Verbot weiterer Handlungen von S ausgesprochen oder eine Bitte vorgetragen wird, S möge in Zukunft bestimmte Dinge unterlassen. N beschreibt Handlungen des Kritisierten als sprachliche Handlungen, zu denen er nicht berechtigt ist, was zu Effekten führt, welche die Gruppe nicht wünscht. Im Kommentar von M wird Handeln als eine nicht durchführbare Möglichkeit des Reagierens beschrieben.

Merkmale einer HandlungHandlungBegriffDas Verhalten, das Thema der Episode ist, zeichnet sich durch eine Reihe von Merkmalen aus, die erste Hinweise auf das geben, was wir mit Handlung meinen: Es ist ein Tun, das auf ein Etwas gerichtet erscheint, d.h. derjenige, der etwas tut, weiß von seinem Handeln und kann es im Hinblick auf ein Ziel abschätzen. Dieses Tun unterliegt Bedingungen, die eine Durchführung möglich und sinnvoll bzw. nicht angebracht erscheinen lassen.Motive Vor dem Handeln steht also ein Motiv, das zu einem bestimmten Tun herausfordert. In der Episode wird die Notwendigkeit zum Handeln angesprochen und implizit darauf hingewiesen, dass bisher gültige Absichten der Gruppe infrage gestellt würden, wenn das Verhalten von S sich nicht ändert. Ziel der Handlung soll ein Zustandswandel der gegenwärtigen Situation sein.

 

Wenn von Handeln die Rede ist, lässt sich in der wissenschaftlichen Diskussion ein begriffliches Umfeld beobachten, das durch immer wieder auftretende Eigenschaften charakterisierbar ist.

Definition

Teleologisch: griechisch telos, Ziel, auf ein ideales Ergebnis ausgerichtet

Habermas (1995, S. 185–189) beschreibt dieses mit vier typischen Merkmalen:HandlungMerkmale

 teleologisch

 normreguliert

 dramaturgisch

 kommunikativ


Jürgen Habermas (*1929)

Philosoph und Soziologe, Schwerpunkt: Theorie kommunikativen Handelns

1. Eine Handlung ist teleologisch: Ein Aktor stellt einen Bezug zur objektiven Welt her. Er handelt, weil er einen Erfolg wünscht. Handlungen sind zweckrational. 2. Eine Handlung ist normenreguliert: Ein Aktor stellt einen Bezug zur sozialen und objektiven Welt her. Er handelt, weil etwas erwartet wird. Handlungen sind wertrational. 3. Eine Handlung ist dramaturgisch: Ein Aktor stellt sich in seinen Bezügen auf eine soziale, objektive und subjektive Welt ein. 4. Eine Handlung ist kommunikativ: Die Aktoren haben einen reflexiven Weltbezug und ihre Verständigung ist abhängig von der Stimmigkeit dieser Bezüge.

Handlungen sind mit Kontexten verbunden, die in der Welt verankert sind und Bezüge zur sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit besitzen. Sie sind mit einer subjektiven Perspektive auf den jeweiligen Weltausschnitt hin ausgerichtet, sie sind standort- bzw. standpunktgebunden. Sprachliche HandlungenHandlungSprache unterscheiden sich hierbei von nichtsprachlichen, weil der Akteur des Handelns mit einem tatsächlichen oder gedachten Gegenüber konfrontiert wird und dessen Sicht auf die Welt bei den eigenen Handlungen mitreflektiert werden muss. Wie bewusst das geschieht, ist von den Akteuren und Situationen abhängig, in denen sie sich befinden.

Das Handeln setzt KontexteKontext voraus, die im Zusammenwirken mit einer Zielfixierung oder zumindest Zielauseinandersetzung entstehen. Jemand tut etwas, weil er sich damit auseinandersetzen will oder muss. Die Anderen erkennen sein Verhalten als Handlung, wenn sie Erwartungen aufbauen können, die sich aus ihnen bekannten Werte- bzw. Handlungskontexten herleiten lassen. Einem Verhalten kann unabhängig davon Handlungscharakter unterstellt werden, weil die Akteure eine solche Handlung wollen und im Verhalten dazu keinen Widerspruch sehen. Kommunikation wird für die Akteure konkret fassbar, wenn eine Verständigungsinteraktion nötig ist.


Max Weber (1864–1920)

Soziologe und Nationalökonom, Schwerpunkt: Herrschafts- und Religionssoziologie

Weber (1922) Weberhat die Bedeutung des Themas früh erkannt und den Begriff Handlung wissenschaftlich zugänglich gemacht. Er bezeichnet Verhalten als Handeln, wenn der Handelnde einen subjektiven Sinn, d.h. eine Intention, damit verbindet:HandlungBegriff

„… Handeln soll … ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. Soziales Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Weber 1922, 1)

Parsons (1937, S. 44) Parsonsdifferenziert den Definitionsvorschlag dahingehend, dass es kleinste Elemente einer Handlung gibt, die ihr einen Sinn geben (unit actunit act) und mindestens die folgenden Elemente haben: einen Handelnden (actoractor) und einen Zweck bzw. ein Ziel (endend), d.h. den zukünftigen Status der Angelegenheiten, an dem die Handlung orientiert ist – in diesem Sinne ist das Schema „teleologisch“. Die Handlung muss zudem in einer Situation begonnen werden, die sich vom zukünftigen Status in einem bedeutenden Aspekt unterscheidet. Hinzukommen die Bedingungen (conditionsconditions) des Handelns, die sich nicht ändern lassen, und die Mittel (meansmeans), über die der Handelnde die Kontrolle hat.


Talcott Parsons (1902–1979)

Amerikanischer Soziologe, Schwerpunkte: Handlungstheorie und soziologische Systemtheorie

Für Parsons gibt es Beziehungen zwischen ihren Elementen: Im Falle der Wahlmöglichkeit zwischen alternativen Mitteln zur Zielerreichung besteht eine normative Orientierung. Dieses grundlegende Konzept impliziert: 1. Handlung ist immer ein Prozess in der Zeit. 2. Die Tatsache, dass dem Handelnden Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen, schließt die Möglichkeit von Irrtum ein. Parsons entwirft so eine Handlungstheorie, in der Handlungen als System beschrieben werden, das verschiedene Funktionen umfasst: Anpassung, Zielerreichung, Integration und Inhalte latenter Muster. Diese Funktionen werden genutzt, um Probleme der Umwelt bewältigen zu können. Sie dienen den Betroffenen als Rahmen. Der Bezugsrahmen ist subjektiv,

„denn die Phänomene sind Dinge und Ereignisse, wie sie in der Sichtweise des Handelnden erscheinen, dessen Handlung analysiert und betrachtet wird. […]Die prinzipielle Bedeutung dieser Betrachtung ist, dass der Körper des Handelnden für ihn ebenso wie die Handlungssituation die ‚äußere Umwelt‘ bilden“ (Parsons 1937, 47).

Kommunikation als HandlungHandlungBegriff

HandlungMerkmaleEin so ausdifferenzierter Handlungsbegriff stellt für das Verständnis von Kommunikation als Handeln ein Problem dar. Denn ParsonsParsons Definition bleibt innerhalb eines individualistischen Ansatzes, der an einer der Teleologie des Handelns verpflichteten Theorie orientiert ist. Handeln ist laut Parsons das Tun eines Einzelnen, der seinen Interessen nachgeht. Ausgangspunkt ist also ein monadisch agierendes Individuum, das ein Ziel ganz allein für sich verfolgt. Frei nach dem Motto: Ich will mit meinem Handeln etwas für mich. HabermasHabermas (1995, Bd. II, S. 320) sieht in einem solchen Verständnis von Handeln einen Mangel und begründet dies so:

„Da die regulierende Kraft der kulturellen Werte die Kontingenz der Entscheidungen nicht berührt, steht jede Interaktion zwischen zwei Aktoren, die eine Beziehung eingehen, unter der Bedingung ‚doppelter Kontingenz‘“.Kontingenz

Definition

Monadisch: griechisch monas, Einheit, das Einfache

Interaktive RahmungHandlungInteraktionDas besagt: Handeln wird nach Habermas erst als Handlung identifiziert, wenn es ein Gegenüber gibt, dem in der durchgeführten Aktion das zu sehen unterstellt werden kann, was auch der Handelnde als Handlung erkennt. Denn dieser unterstellt wiederum dem Akteur dasselbe, auch er geht davon aus, dass ihm unterstellt wird, was der Andere ihm unterstellt. Für HabermasHabermas (1995, Bd. II, S. 320) gilt daher ein „immer schon“ intersubjektiv geteiltes kulturelles Wertesystem als notwendige Voraussetzung für kommunikatives Handeln.

Bereits Durkheim und Conrad (1982) Durkheimverweisen auf ein solches intersubjektives Konzept. Der Bezug zur Welt ist nämlich stets von unterschiedlichen Horizonten, die der Einzelne einbringt, bestimmt. Jeder kennt das Phänomen des Perspektivenwechsels, wenn er ein Haus betritt. Das Haus hat eine Vorder- und eine Rückseite, ein Innen und ein Außen. Wir sehen den Bau stets nur aus einer Perspektive. Durkheim spricht in diesem Zusammenhang von einem Innen- und einem Außenhorizont. Darüber hinaus wird das Betreten des Hauses immer von vielen weiteren Vorstellungen begleitet und bewertet: Der Blick kann sich auf die Lage und die Wohngegend richten, der Baustil kann uns interessieren, wir vergleichen es mit den Häusern, die wir kennen. Auf diese Weise entsteht eine Struktur vieler möglicher Verweise zur Welt und sie bilden einen Sinnhintergrund, der als objektive Welt nicht angemessen umschrieben werden kann.


David Emil Durkeim (1858–1917)

Französischer Soziologe und Ethnologe, Schwerpunkt: Methodologie

Alfred Schütz (1899–1959): Österreichischer Jurist, Philosoph und Soziologe, Schwerpunkt: Phänomenologische Soziologie

Schütz (1932) (1974, 15–16)Schütz schlägt vor, zwischen dem Sinn, wie er vom Handelnden verstanden wird, und dem, den der Beobachter dem Handelnden unterstellt, zu unterscheiden. Damit unterstellt er dem Handeln Bedingungen, wie sie von Sapir (1982, S. 78–81) Sapirder Kommunikation unterstellt werden. Kommunikative Handlungen würden so gewählt, dass sie einer Beschreibung und Bestätigung durch das Gegenüber standhalten können, d.h. dass der vom Verhalten des Anderen Betroffene diesem Verhalten eine Bedeutung zuschreibt, die vom Handelnden so angedacht und gewünscht ist.


Edward Sapir (1884–1939)

Amerikanischer Ethnologe und Linguist, Schwerpunkte: Strukturen der Sprache, Determiniertheit durch Sprache


01 R GIESST KAFFEE IN DIE TASSE VON S
02 S Danke
Es ist Nachmittag, R und S sitzen am Tisch und trinken gemeinsam Kaffee. R zeigt ein Verhalten: GIESST KAFFEE IN DIE TASSE VON S. Dieses Verhalten wird von S als Geste der Kooperation akzeptiert. Es ist ein Tun, das Fürsorge von R gegenüber S ausdrücken kann, wenn R und S im Umgang miteinander diese Erfahrung sammeln konnten. Dieses Erfahrungswissen bietet für beide Deutungspotential, um in ihrem Tun bestimmtes Handeln sehen zu können. Wenn beide dieselben Interpretationen nutzen, wirkt ihre Interaktion kohärent und hat im Normalfall zur Folge, dass R und S zufrieden sind.
Kommunikation mit an Demenz Erkrankten: Notiz zum Viedoausschnitt

Interaktive DeutungsarbeitDeutungsarbeitDas muss aber nicht in jedem Fall so sein, obwohl das gezeigte Verhalten dasselbe ist. In Aufzeichnungen eines Korpus, das die Kommunikation mit älteren Menschen erfasst hat, liegt der Fall vor, dass S seine Tante besucht, eine ältere Dame. Sie hat ihm schon dreimal Kaffee nachgegossen, obwohl er angedeutet hat, dass er keinen mehr mag. Das Deutungsmuster von S kann zwar noch die Lesart aufrechterhalten, R sei um sein Wohl besorgt. Es kann aber auch die Deutung folgen, R dränge sich wie schon immer mit ihren Erwartungen auf und wolle ihr Interesse durchsetzen und ihn dazu zwingen, noch länger zu bleiben. Vorstellbar ist auch, dass S um die mentale Beeinträchtigung von R weiß und in der Handlung nur ein stereotypes Verhalten von R sieht, das durch diese Situation ausgelöst wird, und dass er R unterstellt, gar nicht kontrollieren zu können, was sie wirklich tut.

Lesarten konkurrieren miteinander, ob und welche sich durchsetzt, kann offen bleiben. Beobachtbar ist, wie sich das Handeln für die davon Betroffenen erst durch das Deuten desselben klärt. Zu fragen ist, woher nehmen die Akteure ihre Deutungen und was bewegt sie, diese dem Handeln von Fall zu Fall zuzuschreiben. Luhmann (1984, 191)Luhmann glaubt, dass diese Zuschreibungen im interaktiven Kontext erfolgen und erst dieser ermögliche es den Betroffenen, das Verhalten auf die eine oder andere Weise zu deuten. Der dabei eintretende Effekt wird von Watzlawick et al. (1967) Watzlawick mit dem Axiom des Nicht-nicht-kommunizieren-Könnens beschrieben: Die Individuen fühlen sich genötigt, permanent das Verhalten anderer zu bewerten. Bei einem solchen Verständnis entsteht allerdings ein Problem. Der Einzelne wird mit einer nicht mehr oder nur schwer bewältigbaren Vielfalt möglicher Deutungszuschreibungen konfrontiert und gerät in Situationen, in denen Kommunikation nur noch Verunsicherung auslöst.

 

Niklas Luhmann (1927–1998)

Deutscher Soziologe und Gesellschaftstheoretiker, wichtigster deutschsprachiger Vertreter der soziologischen Systemtheorie und der Soziokybernetik

Für Akteure sind solche Situationen ein Risiko, sodass Luhmann (1984, S. 220) von der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation spricht und annimmt, dass kommunikativ zu handeln, von Situation zu Situation kritisch bewertet werden muss, weil es keine Garantie für einen Handlungserfolg gibt. Habermas (1995) Habermasgeht nicht so weit, sondern sieht die Lösung des Problems in der Verständigungsarbeit. Diese verbindet er mit der Bearbeitung von Geltungsansprüchen wieGeltungsansprüche die Verständlichkeit der verwendeten Ausdrucksweisen, der Anspruch auf Wahrheit, die Erwartung auf die Richtigkeit einer Norm oder die Wahrhaftigkeit der Sprechenden. So regelt er, welcher Anspruch in der vorliegenden Situation überhaupt geltend gemacht werden kann.


01 I okay ähm hat ihnen die Geschichte gefallen? wenn ja warum?
02 B doch ja! ne es is irgendwie niedlich!?
03 I niedlich is es?!
04 B ja ja! das äh musste ja ein überraschendes Ergebnis werden?!
05 I genau
06B und ich finde es niedlich LACHEN
Kommunikation über Texte mit älteren Menschen: Gesprächsprotokoll

Die Alltagskommunikation ist generell von Unbestimmtheit begleitet. Zwei Personen sitzen sich gegenüber. Das Gespräch fand im Rahmen eines Forschungsprojektes zum Lesen statt. Person B hat einen Märchentext gelesen und wird von Person I gebeten, mit ihr darüber zu reden. Die Angesprochene, Mitglied einer Seniorenakademie (69 Jahre) tut sich mit der Aufgabe schwer. Was von ihr genau erwartet wird, scheint ihr unklar. Mit der Antwort 02 B „doch ja!“ wird formal auf die Frage geantwortet. Die Bitte, das zu begründen, wird nicht eingelöst. Daran ändert auch das fortgesetzte Gespräch wenig.

Beiden fällt es schwer, miteinander über den Text zu reden. Wenn es ginge, würden sie die Kommunikation vermeiden. Ihnen scheint eine klare Vorstellung darüber, welche Erwartungen mit dieser Situation verknüpft werden und wie sie sich dieser gegenseitig vergewissern könnten, zu fehlen. Der Eindruck der Überforderung wird durch die Verlegenheitsgesten des Wiederholens 03 I und im Lachen oder dem undeutlichen Formulieren des Beitrags 06 B offenkundig. Da die Situation einen Abbruch der Kommunikation nicht zulässt, beide haben sich auf eine Kooperation zu Beginn verständigt, sucht Person I die Lösung im Abfragen bestimmter Merkmale des Märchens.