Ostfriesenspieß

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Kapitel 3

Tag 3, nachmittags

Stadt Leer, Beerdigungsinstitut Erdmann

Der weiße Bulli der Spurensicherung hielt auf dem Parkplatz vor dem Beerdigungsinstitut. Jan Broning und Stefan Gastmann stiegen aus, nahmen ihre Ausrüstung und klingelten an der Eingangstür.

Erdmann öffnete. »Ah, die Herren von der Kriminalpolizei. Ehrlich gesagt, Ihren Kollegen hatte ich heute Morgen irgendwie nicht so recht verstanden … Aber kommen Sie doch rein.«

Gemeinsam gingen sie in den kleinen Andachtssaal. Jan Broning sah sich um. Rund 50 Stühle standen in Reihen vor einem Rednerpult, dahinter große Kerzenhalter und eine alte Heimorgel.

Erdmann bemerkte Bronings Interesse. »Viele Menschen sind aus der Kirche ausgetreten«, erklärte er mit seiner Singsang-Stimme. »Hier geschieht im Prinzip aber nichts anderes als bei einer Trauerzeremonie in der Kirche. Wir bieten Voll-Service an. Das bedeutet, wir kümmern um alles. Vom Abtransport bis zur Beerdigung. Ich führe hier die Andachten durch. Je nachdem, wie es gewünscht wird. Sie können Musik von der Orgel oder von einer CD bestellen. Ich habe extra an Kursen für die Andachten teilgenommen und meine feierliche Stimme … sagen wir mal: trainiert.«

Daher die Singsangstimme, dachte Broning.

Erdmann ging weiter und öffnete eine Tür. »Meine Herren, bitte folgen Sie mir in den Behandlungsraum!«

Durch einen langen Flur gelangten sie schließlich in einen kühlen Raum. In der Mitte lag der offene Leichensack auf einem Chromtisch mit Lichtstrahlern darüber. Die beiden Kriminalbeamten waren beeindruckt. Die starken Strahler, der etwas höher angebrachte Organtisch und die Ablage mit den Instrumenten sahen exakt so aus wie in der Gerichtsmedizin.

Erdmann entging ihre Reaktion nicht. Nun wollte er noch einen draufsetzen und schaltete die Lichtstrahler und ein spezielles Belüftungssystem an. Der Ventilator brummte leise.

Der Bestatter konnte sich etwas Stolz in der Stimme nicht verkneifen. »Meine Herren, Sie sehen, hier ist alles vorhanden, was man für eine Außensektion benötigt. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie dieses neue Angebot einmal wahrnehmen würden. Sie können die Räume anmieten. Das Team der Rechtsmediziner könnte hier ohne Probleme arbeiten. Unnötige Transportwege könnten verkürzt werden.«

»Das wäre für alle Beteiligten eine gute Sache«, erwiderte Jan Broning, »aber derzeit sollen die Obduktionen noch in der Gerichtsmedizin Oldenburg durchgeführt werden.« Er bemerkte die Enttäuschung beim Bestatter und beeilte sich, hinzuzufügen: »Ich gebe Ihren Vorschlag gerne an die Polizeiverwaltung weiter, aber Sie wissen ja, das kann dauern. – Für die erste genaue Inaugenscheinnahme des Leichnams sind Ihre Räume hervorragend geeignet«, lobte er.

Erdmann strahlte wieder. »Danke, Herr Broning. Für die spätere Identifizierung der Leichen dürfen Sie mein Institut auch gerne benutzen.«

»Danke, Herr Erdmann!« Jan fand, dass jetzt genug Höflichkeiten ausgetauscht worden waren. »Können wir jetzt …?«

»Aber natürlich.« Erdmann holte eine kleine Flasche mit Pfefferminzölkonzentrat aus der Hosentasche. Er rieb sich etwas davon unter die Nase. »Möchten Sie auch? Ist vielleicht besser.«

Stefan und Jan benutzten es ebenfalls. Die Gerüche von Pfefferminz und einsetzender Verwesung vermischten sich im Raum.

»Ich habe mir erlaubt, den Reißverschluss des Leichensacks zu öffnen, damit der Inhalt trocknen kann«, erklärte der Bestatter unaufgefordert.

»Sehr gut, Herr Erdmann!«, lobte Jan Broning.

Stefan Gastmann nahm die Digitalkamera aus dem Fotokoffer und fotografierte die Leiche zunächst von allen Seiten. Jan Broning entfernte vorsichtig die Plastiktüten von den Händen des Toten. Diese Tüten sollten verhindern, dass Fremdspuren auf die Hände gerieten. Außerdem sollte Spurenmaterial, das sich während des Transportes der Leiche löste, aufgefangen werden. Jan Broning sah sich das Innere der Tüten genau an. In einer lag ein ausgerissener, blutiger Fingernagel, der sich beim Transport von der Hand gelöst hatte. Broning versiegelte die Tüte und nahm einen speziellen Stift aus dem Spurensicherungskoffer. Er beschriftete die Tüte mit: Rechte Hand/ausgerissener Fingernagel.

Stefan schaltete die Kamera auf Naheinstellung um. Jan bewegte die Hände des Toten so, dass sein Kollege sie von allen Seiten fotografieren konnte. Im Blitzlicht der Kamera sahen die Verletzungen noch grausamer aus. Auf dem Handrücken war das Fleisch teilweise bis auf die Knochen aufgerissen. Die weißen Knöchel waren im Kontrast zur blutverschmierten Haut überdeutlich zu sehen.

Stefan legte die Kamera zur Seite und suchte den Blickkontakt zu seinem Kollegen. Jan Broning ahnte, was in seinem Kopf vorging. »Ja, ich weiß, Stefan, die Hände sehen entsetzlich aus. Diese schweren Verletzungen können eigentlich nur bei einem verzweifelten Kampf ums Überleben entstanden sein.«

Er versuchte, die Bilder zu verdrängen, die in seinem Kopfkino entstanden, und nahm eine Pinzette und mehrere durchsichtige Plastiktüten aus dem Tatortkoffer. »Lass uns erst die Spuren unter den Fingernägeln sichern.«

Die beiden Kriminalbeamten begannen systematisch und konzentriert mit ihrer Arbeit. Stefan beschriftete die Tüten und Jan untersuchte nacheinander die Finger. Sobald er Holzsplitter oder anderes Spurenmaterial entdeckt hatte, entfernte er diese Spuren vorsichtig mit der Pinzette. Stefan hielt ihm jeweils eine bereits beschriftete Tüte hin.

Der billig aussehende Ring am kleinen Finger bereitete Jan erhebliche Probleme, weil er sich nicht vom Finger lösen ließ.

Der Bestatter hatte die Arbeiten der Ermittler aus dem Hintergrund still verfolgt und bemerkte das Problem. Er ging in einen Nebenraum und kam mit einer Dose zurück. »Hier, Herr Broning.« Erdmann hielt dem Polizisten die Dose hin. »Versuchen Sie es doch einmal mit Flutschi!«

Jan nahm die unbeschriftete Dose entgegen, öffnete den Deckel und betrachtete etwas skeptisch den Inhalt. Sie war mit einem farblosen Gel halb gefüllt.

»Ein Gleitmittel.« Erdmann räusperte sich und grinste verschmitzt. »Vaseline.«

Jan wollte sich nicht vorstellen, zu welchem Zweck Erdmann es benutzte. Zum Glück trug er noch die Latexhandschuhe. Er zögerte kurz, dann nahm er mit spitzen Fingern etwas von dem Gel und strich damit den kleinen Finger des Toten und den festsitzenden Ring ein. Jan zog noch einmal an dem Ring, und der ließ sich endlich vom Finger lösen. Stefan hielt ihm eine geöffnete Tüte hin, und Jan ließ den Ring hineinfallen.

Die beschriftete und versiegelte Tüte hielt er ins grelle Licht der Deckenstrahler. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Goldring. Innen befand sich sogar ein Echtheitsstempel. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich aber um ein anderes poliertes Metall, vermutlich Messing.

Neben den Geräuschen des Ventilators hörte Jan die Singsangstimme des Bestatters. Erdmann summte die Melodie eines Kirchenliedes. Der Mann irritierte Jan ein wenig.

»So, Herr Erdmann, Sie können den Toten jetzt vorsichtig ausziehen.«

Der Bestatter entfernte behutsam die Kleidung des Toten. Dabei summte er einen anderen Choral. Stefan sah Jan an und verdrehte die Augen. Er legte die Kleidungsstücke in spezielle Plastiktüten.

Schließlich lag der Tote nackt auf dem Chromtisch. Seine rote Gesichtsfarbe wollte nicht zur Situation passen.

Jan Broning nahm eine kleine Taschenlampe und ein Holzstäbchen aus dem Spurensicherungskoffer und öffnete vorsichtig den Mund der Leiche. Er leuchtete die Mundhöhle aus und drückte die Zunge etwas herunter. Die kirschrote Farbe der Schleimhäute war nicht zu übersehen. Er legte die Lampe weg. »Wir müssen den Toten zur Seite drehen. Pack mal mit an, Stefan.«

Gastmann und der Bestatter hielten den Toten in der Seitenlage fest und Jan trat einige Schritte vom Tisch zurück. Die roten Totenflecke waren gleichmäßig auf dem Rücken verteilt. Er machte zunächst einige Aufnahmen mit der Kamera, dann legte er sie weg und betrachtete jeden Körperteil aus der Nähe. Am Nackenbereich fielen ihm zwei Abdrücke in einem Abstand von fünf bis sieben Zentimetern voneinander auf. Sie sahen aus wie zwei Nadelstiche.

Er gab Stefan ein Maßstabsdreieck in die Hand, damit man auf dem Foto einen Größenvergleich hatte. Stefan hielt den Maßstab an die Einstiche, während Jan fotografierte.

Er überprüfte die Qualität der Digitalaufnahmen, als sein Handy klingelte. Jan legte die Kamera zur Seite. Brede zeigte das Display an. Jan drückte die grüne Taste. »Broning!«

»Hier Albert. Toter vom Parkplatz identifiziert. Messevertreter Erich Schulte. Vermisst gemeldet von Ehefrau. Alles weitere später.«

Jan schaute erstaunt auf sein Handy. Die Verbindung war getrennt worden. Typisch Brede – bloß kein Wort zu viel.

Er steckte das Handy weg und schaltete die Kamera aus. »So, Stefan, ich glaube, wir haben alles. Lass uns zusammenpacken.«

An der Eingangstür verabschiedete sich Jan vom Bestatter. »Herr Erdmann, vermutlich haben wir die Identität des Toten ermittelt. Wir möchten, dass die Ehefrau ihn identifiziert. Vielleicht schaffen wir es noch heute Abend. Wir rufen Sie rechtzeitig vorher an. Bitte gehen Sie davon aus, dass die Leiche von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und eine Obduktion in der Rechtsmedizin angeordnet wird. Könnten Sie den Transport nach der Gegenüberstellung organisieren?«

»Kein Problem, Herr Broning, dass krieg ich hin. Bis später dann.«

»Gott sei Dank hat das Gesinge jetzt ein Ende«, stöhnte Stefan, als sie ihre Ausrüstung im Bulli verstauten. »Was für ’ne Type, der Erdmann!«

Jan machte sich einige Notizen auf einem Klemmbrett. Er atmete hörbar aus. »Kannste wohl sagen. Aber bei dem Beruf wird man vermutlich etwas schräg. Du, jetzt sind wir ja unter uns … Was ist deine Meinung zu unserem Toten?«

 

Stefan überlegte einen Moment. »Also, erst mal das Offensichtliche: Todesursache dürfte eine Kohlenmonoxid-Vergiftung sein. Bis auf die Hände haben wir keine gravierenden äußeren Verletzungen gefunden und die roten Schleimhäute im Mund zusammen mit den roten Leichenflecken deuten auf Einwirkung von Kohlenmonoxid hin. Diese rote Gesichtsfarbe haben wir ja schon oft gesehen, wenn sich jemand mit Auspuffgasen in seinem Auto vergiftet hat.«

Jan nickte.

»Jetzt die Hände«, fuhr Stefan fort. »Die Abschürfungen rund um beide Handgelenke: Handschellen, eindeutig. Die abgebrochenen Fingernägel und die Holzsplitter, zusammen mit den massiven Abschürfungen … Man mag es sich nicht vorstellen, aber es sind vermutlich Todeskampfspuren. Der Tote hat sich gegen einen Angriff gewehrt oder er wollte sich befreien. Ja, und dann dieser Ring … Sah zwar erst auf den zweiten Blick billig aus, passte somit aber nicht zur teuren Bekleidung.«

Jan nickte anerkennend. »Und diese parallelen Abdrücke oder Einstiche im Nacken des Toten – hast du eine Idee?«

»Ich komm nicht drauf, vielleicht wissen wir nach der Obduktion etwas mehr. Lass uns zur Dienststelle fahren. Wir müssen mit Brede sprechen, vermutlich kennen wir ja jetzt die Identität des Toten.«

Unterwegs sprachen sie sich über das weitere Vorgehen ab.

Tag 3, abends

Stadt Leer, Polizeidienstgebäude8

Stefan Gastmann parkte den Bulli der Spurensicherung in der großen Fahrzeughalle auf dem Polizeigelände. Sie nahmen die Alukoffer mit der Fotoausrüstung und den gesicherten Spuren heraus und gingen mit jeweils einem Koffer in der Hand ins Polizeigebäude. Im vierten Stock öffnete Jan die Tür zum Büro der Spurensicherung. Die Luft dort war wie immer stickig und roch stark nach Chemikalien. Als Erstes öffnete er ein Fenster, um den Mief zu vertreiben.

Das Büro war durch eine Glasscheibe geteilt. Im größeren Teil des Raumes stand ein Drehstuhl an einer Wand, davor eine Kamera mit Stativ. Wie viele Verdächtige hatten schon auf diesem Stuhl gesessen …! Zunächst für die Fotos von allen Seiten, dann kamen die Fingerabdrücke.

Jan und Stefan stellten ihre Ausrüstung auf einem Tisch ab und nahmen die Tüten mit den gesicherten Spuren aus den Kisten.

Stefan begann, die verbrauchten Materialien im Koffer zu ersetzen. Jan schaute zu dem Computer in dem kleinen Nebenraum hinter der Scheibe hinüber. »Ich lege uns erst mal einen Vorgang im Computer an, damit wir eine Vorgangsnummer haben.«

Er ließ die Tür offen und gab die ersten Daten ein. Die vom System generierte Vorgangsnummer notierte er für seinen Kollegen auf einem Zettel.

Albert Brede kam herein, Stefan ließ seine Arbeit liegen und setzte sich zu ihm und Jan in den Nebenraum. Jan gab Stefan den Zettel mit der Vorgangsnummer und sah Albert auffordernd an.

»Hier«, Albert Brede überreichte Jan die Vermisstenmeldung über den Vertreter Erich Schulte. Jan wartete vergeblich auf einen weiteren Kommentar und schaute in die Akte. Zum Vorgang gehörte auch ein Foto des Vermissten. Kein Zweifel: Es war der Tote vom Parkplatz.

Stefan übernahm die undankbare Aufgabe, dessen Ehefrau zu informieren. Er telefonierte mit dem Notfallseelsorger und vereinbarte ein Treffen. Danach sollten Stefan und Albert die Spuren sortieren und mit der Vorgangsnummer beschriften.

Jan ging zu seinem Vorgesetzten Dirksen und besprach die aktuelle Sachlage. Dann telefonierte er mit dem zuständigen Staatsanwalt Grohlich, einem Mann mit einer markanten Stimme und, wie Broning wusste, stattlichen Erscheinung. Grohlich ließ sich die Situation erklären und ordnete wie erwartet die Beschlagnahme und Obduktion der Leiche an.

Jan saß nun wieder in seinem eigenen kleinen Büro. Die Tür zum Flur stand wie meistens offen. Er telefonierte mit der Leitstelle und vergewisserte sich gerade, dass der Mercedes des Opfers zur Fahndung ausgeschrieben war, als Stefan hereinkam. Jan zeigte auf einen Stuhl und beendete das Telefonat.

»Na, wie schlimm war es bei Frau Schulte?«, fragte er.

»Ich war froh, dass der Notfallseelsorger dabei war. Am schlimmsten ist es immer, wenn sie einen erst so ansehen, als ob es vielleicht doch noch Hoffnung gäbe. Aber die gibt es natürlich nicht. Dann fing Frau Schulte an zu schreien und trommelte mit den Fäusten auf die Brust vom Pastor.« Stefan atmete tief durch. »Der Pastor hat einfach super reagiert, der hat Frau Schulte einfach umarmt und sie fest an sich gedrückt. Dann hat sie sich etwas beruhigt und wir brachten sie in die Küche. So einigermaßen konnte man dann schon mit ihr reden. Die Ehe war nicht glücklich, sondern bestand nur noch aus Gewohnheit. Sie machte sich schreckliche Vorwürfe, denn das letzte Gespräch mit ihrem Mann war ein Streit per Autotelefon. Die Uhrzeit hab ich aus der Anrufliste. Ansonsten ist bei der Befragung nichts Wichtiges für unseren Fall herausgekommen.«

Es lag noch viel Papierkram vor ihnen, bis sie die Lichter im Büro endlich ausschalten konnten.

Stefan stand schon im Flur, als ihm einfiel, dass sie heute Morgen Jan von zu Hause abgeholt hatten. »Soll ich dich nach Hause fahren?«

Jan Broning seufzte. »Nett von dir, aber ich soll mehr zu Fuß gehen. Es ist ja nicht weit.«

Er verabschiedete sich, nahm die Treppen nach unten, ging durch die Schleuse und winkte den Kollegen im Wachraum zu. Draußen überquerte er die Georgstraße. Er ging die Stufen hinunter zum Hafen. Dort blieb er einen Moment stehen und sah über die Wasserfläche.

In Gedanken war er mit Maike am Strand von Sankt Peter-Ording. Sie schauten auf die Nordsee hinaus. Seine Hand griff unbewusst nach dem Lederband mit dem Bernstein, das er seit der Kur um den Hals trug. Morgens hatte er an sie gedacht und jetzt ging der Tag zu Ende und wieder war er in Gedanken bei ihr. Er fragte sich, wo sie jetzt war und ob sie auch gerade an ihn dachte.

8 siehe Punkt 13 auf der Karte

Kapitel 4

Tag 3, nachts

PP Brinkum, Rtg. Leer/Mep.9

Der Autobahnparkplatz war nur spärlich beleuchtet. Die Falle war wieder aufgebaut und brauchte, wie beim letzten Mal, nur noch zuzuschnappen.

Diesmal hatte er zwei ungünstig platzierte Lampen zerstört. Die Stahlkugeln aus der Schleuder hatten die Kunststoffgehäuse und die Neonröhren ohne Problem durchschlagen.

Gerd Hasler saß im weißen Transporter und überprüfte seine Ausrüstung. Eine gute Gelegenheit, das neue Nachtsichtgerät zu testen. Er sah den Rastplatz und das abgestellte Wohnmobil mit einem leichten Grünschimmer. Hasler legte das Gerät auf den Beifahrersitz und überprüfte den Elektroschocker. Es knisterte, und ein Lichtblitz entstand zwischen den Kontakten.

Als er den Schocker zurücklegte, fiel der kleine Stoffbeutel mit dem Schmuck in den Fußraum. Er hob den Beutel auf, löste die Kordel und ließ Ringe und Ketten in seine Handfläche fallen.

Auf den ersten Blick sahen die Schmuckstücke echt aus. Erst bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, dass es sich nicht um Gold, sondern um poliertes Kupfer und Messing handelte.

Gegen die Erinnerungen, die jetzt auftauchten, konnte er sich nicht wehren.

Vergangenheit 1992

Brandenburg

Seine Mutter und er hatten noch einige gute Jahre gehabt vor ihrem Tod. Leider hatte sie noch erleben müssen, dass sie ihren einzigen Sohn für zwei Jahre wegsperrten. Bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis, 1992, war er 24 Jahre alt. Die Wohnung seiner Mutter löste er auf. Nach dem Sperrmüll blieb ihm kaum mehr als die alte Wanduhr und der Schmuck. Dafür hätte er den Transporter nicht benötigt.

Er brach alle Zelte in der Heimat ab. Die wenigen Wertgegenstände aus dem aufgelösten Haushalt seiner Mutter lagen zusammen mit allen Erinnerungsstücken in zwei Umzugskartons hinten auf der Ladefläche. Er wollte in Norddeutschland einen Neuanfang wagen. Mit der alten Heimat verband ihn nichts mehr.

An den neuen Namen musste er sich noch gewöhnen.

Er war froh, endlich auf der Autobahn zu sein.

Auf dem Seitenstreifen vor ihm stand ein Wagen mit eingeschaltetem Warnblinker. Ein Mann sprang auf seine Fahrbahn und wedelte wild mit den Armen. Die Bremsen des Transporters quietschten, als er auf die Standspur fuhr. Der Mann bat ihn auszusteigen und stammelte: »Helfen bitte, bitte. Motor kaputt, nachsehen.«

Für einen Moment war er skeptisch gewesen. Hätte er damals doch nur auf seinen Instinkt gehört …

In Gedanken sah er sich wieder aussteigen, um dem kleinen, südländisch aussehenden Fahrer zu helfen. Die Verriegelung der Motorhaube des Pannenfahrzeugs klemmte etwas. Er brauchte einige Zeit, um sie zu öffnen, und bemerkte nicht, dass ein Auto hinter seinem Transporter angehalten hatte.

Zwei Personen stiegen leise aus und näherten sich der hinteren Tür des Transporters. Eine Brechstange an der richtigen Stelle angesetzt, und die Tür gab nach. Die beiden waren schnell und effektiv. Sie sahen in die Kartons. Eine alte Wanduhr und Silberbesteck, nicht schlecht. Sie hatten es eilig und nahmen einfach beide Kartons mit, legten sie in ihren Kofferraum. Einer startete den Pkw, der andere ging zurück zum Transporter, die Brechstange auf dem Rücken unter den Gürtel gesteckt. Er nahm den Ventilschlüssel aus der Tasche, um das Reifenventil des Transporters herauszuschrauben. Die Luft entwich mit leisem Zischen. Er rannte zurück zu seinem Kumpan. Dabei fiel die Brechstange herunter und schlug mit lautem Klirren auf dem Asphalt auf.

Gerd Hasler hörte es und trat von dem Pannenfahrzeug zurück, um zu seinem Transporter hinüberzuschauen. Wieso konnte er einen Teil der Hecktür sehen? Dann hörte er einen Motor aufheulen und sah zwei Personen in einem unbeleuchteten Pkw, der hinter seinem Transporter gestanden haben musste, an sich vorbeirasen.

Gerd rannte zu seinem Fahrzeug. Die hinteren Türen standen mit herausgebrochenen Schlössern offen und er starrte in einen leeren Laderaum. Die Andenken an seine Mutter – weg. Alles gestohlen. Eine Verfolgung war sinnlos. Die Diebe würde er nicht einholen.

Hinter ihm knallte eine Motorhaube zu. Der Fahrer des Pannenfahrzeuges hatte es offensichtlich eilig, er rutschte auf dem Standstreifen aus. Gerd Hasler rannte los, aber der Mann hatte sich in Windeseile aufgerappelt und sprang ins Auto. Der angeblich kaputte Motor heulte auf, und der Wagen brauste mit durchdrehenden Reifen davon.

Dann sah er den platten Hinterreifen. Diese Schweine hatten an alles gedacht.

Die Polizei konnte er nicht alarmieren. Sie wollten bestimmt seine Personalien aufnehmen. Zu gefährlich.

Zunächst wechselte er den Reifen. Tränen der Wut und Enttäuschung liefen ihm übers Gesicht.

Dann verstaute Gerd Hasler seinen kaputten Reifen, ließ den Motor des Transporters an. Im Scheinwerferlicht funkelten Schmuckstücke auf dem Asphalt. Er stieg aus und ging zu der Stelle, wo das angebliche Pannenfahrzeug gestanden hatte. Auf dem Asphalt lagen Ringe und Ketten, die aus einem Stoffbeutel gefallen waren. Der Dieb hatte sie vermutlich verloren, als er ausgerutscht war. Später stellte Gerd fest, dass es sich um sogenanntes Autobahngold handelte.

Ja, so war das Schicksal. Es hatte die für ihn so kostbaren Andenken an seine Mutter gegen diesen wertlosen Schmuck getauscht. Das war also der Lohn für seine Gutmütigkeit.

Das würde ihm nie wieder passieren.

Tag 3, nachts

PP Brinkum, Rtg. Leer/Mep.10

Die Stimme aus dem Funkgerät riss ihn aus seinen schmerzlichen Erinnerungen, als sie fragte: »Soll ich das rote Licht einschalten?«

Seine eigene Stimme klang entschlossen und kalt. »Okay. Und warte auf mein Zeichen.«

Zunächst passierte wenig auf dem Parkplatz. Ein Golf hielt beim Wohnmobil. Der Fahrer klopfte an die Tür und wartete vergeblich auf eine Reaktion. Schließlich stieg er wieder ins Auto und fuhr davon.

Dann hielt ein Bulli mit seitlich aufgebrachter Zigarettenwerbung vor dem Toilettenhäuschen. Gerd Hasler setzte sein Nachtsichtgerät auf und beobachtete, wie der Fahrer ausstieg und im Häuschen verschwand.

Gerd überlegte nur kurz, stieg aus und näherte sich dem Bulli. Der war vollgepackt mit Zigaretten, und wenn er sich nicht täuschte, lagen auch Münzkassetten auf dem Boden. Na klar – der Fahrer entleerte und bestückte die Zigarettenautomaten.

 

Gerd lief zurück zum Transporter und drückte die Ruftaste des Funkgerätes. »Das ist unser Mann. Viel Glück.«

*

Karl Klein kam aus dem Toilettenhäuschen und kramte eine Zigarette aus der Schachtel, als er einen Traum von einer Frau aus einem Wohnmobil steigen sah. Erst jetzt fiel ihm die rote Beleuchtung auf. Ein Lovemobil! Deshalb ihre geile Aufmachung …

Genau Karls Typ. Und jetzt winkte sie ihn auch noch zu sich. Er konnte nicht anders und ging zu ihr. Nur ein kleines Schwätzchen, konnte doch nicht schaden.

Sie stellte ein Bein provozierend auf die Stufe des Wohnmobils. Das rote Licht schimmerte auf den hohen Lackstiefeln.

Karl wollte einen lockeren Spruch machen, bekam aber keinen Ton heraus. Stattdessen bot er ihr eine Zigarette an. Sie lächelte ihn an, nahm eine und bat um Feuer. Karl kam ganz nah an sie heran, und als das Feuerzeug aufflammte, konnte er ihre schönen Brüste bewundern. Sie legte ihre Hand sanft zwischen seine Beine und streichelte sein empfindlichstes Körperteil. Dies reagierte prompt, und seine Hand legte sich auf ihren Schenkel und wanderte langsam nach oben.

Ihre Hand wanderte in seine Hose und griff fest zu. Mit dunkler Stimme raunte sie ihm zu: »Du, hier ist heute nichts los. Ich mach es dir auch ganz billig. Sagen wir 50 Euro?«

Karl Klein stammelte: »Nimmst du auch Kleingeld?«

Im ersten Moment dachte er, sie würde darüber lachen, im nächsten meinte er, sie sähe beinahe traurig aus, aber ihre verführerische Stimme lenkte ihn ab. »Hol das Geld, ich mach das rote Licht aus. Du kannst zur hinteren Seite des Wohnmobils kommen. Ich mach dir die Tür auf, mein Süßer.«

*

Der Zigarettenmann lief zu seinem Bulli und wühlte im Laderaum herum.

Gerd zog die Sturmhaube herunter. Seine schwarz gekleidete Gestalt verschmolz mit der Dunkelheit auf dem Parkplatz, als er sich im Bogen dem Wohnmobil näherte. Er öffnete die Tür, und sie sahen sich kurz an, bevor er sich in der kleinen Nasszelle versteckte.

*

Karl Klein nahm eine Geldkassette vom Automaten und holte 50 Euro in Zwei-Euro-Stücken heraus. Etwas nervös ging er zum Wohnmobil zurück. Die rote Beleuchtung war ausgeschaltet. Er klopfte.

»Komm rein, mein Süßer.«

Etwas ängstlich betrat es das Innere. Das Erste, was er wahrnahm, waren das schwere Parfüm und die intime, leicht rötliche Beleuchtung.

Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er das Bett im hinteren Bereich. Sie saß, nur mit Lackstiefeln und Reizwäsche bekleidet, auf der Kante und winkte ihn zu sich. »Du kannst mir beim Ausziehen helfen.«

Die Eurostücke klimperten, als Karls Hose herunterfiel. Sie lächelte. »Nicht so stürmisch. Wir haben doch Zeit. Hilf mir erst bei den Stiefeln.«

Karl stieg aus der Hose und kniete sich hin. Er griff nach einem ihrer Lackstiefel und zog.

Hinter ihm ging eine kleine Tür auf, und eine schwarze Gestalt rief: »Jetzt!« Karl sah gerade noch, dass die Frau nach hinten rutschte, dann kam blitzartig der Schmerz, als der Elektroschocker gegen seinen Nacken gedrückt wurde und der Stromstoß durch seinen Körper raste. Die Muskeln blockierten und Karl sackte bewusstlos in sich zusammen.

*

»Gut gemacht«, sagte Gerd Hasler. »Zieh dich an, ich hol den Transporter.« Er nahm die Handschellen aus der Hosentasche und legte sie dem Bewusstlosen an.

Als er mit dem Transporter seitlich an das Wohnmobil heranfuhr, erwartete sie ihn schon. Sie trug einen Overall.

Im Laderaum räumte er die längliche Kiste frei. Sie lösten die Scharniere und legten den schweren Deckel zur Seite.

Jetzt kam der schwere Teil der Arbeit. Auf dem Parkplatz war alles ruhig. Gemeinsam trugen sie ihr immer noch bewusstloses Opfer aus dem Wohnmobil und legten es in die Kiste. Schweißperlen liefen ihnen über die Stirn.

Atemlos stöhnte er: »Hast du die Schlüssel vom Bulli?«

Sie klopfte auf eine Seitentasche ihrer Overalls.

»Okay, dann schnell den Deckel drauf, bevor er zu sich kommt.«

Der Deckel knallte auf die Kiste. Die schweren Scharniere schnappten zu.

Gerd Hasler warf die Schiebetür zu. »Du fährst jetzt mit dem Zigaretten-Bulli zu unserer Halle. Aber fahr vorsichtig und fall nicht auf. Ich folge dir mit dem Transporter, für alle Fälle.«

Sie wollte nur weg. Ein Kloß steckte in ihrem Hals. Ihre Stimme hätte ihm ihr Entsetzen vor dem bevorstehenden Mord verraten. Deshalb nickte sie nur.

Gerd ging neben dem Transporter in die Knie, legte das Ventil der Abgasleitung um.

Tag 3, 23.30 Uhr

Unterwegs auf der Autobahn von Brinkum-Leer-Emstunnel-Weener-Rhede.

In der Kiste erwachte Karl Klein langsam.

Er versuchte, sich zu orientieren. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war dieses geile Weib in dem Wohnmobil. Er wollte sich aufrichten, stieß aber mit dem Kopf an. Dann fühlte er die Handschellen. Und überall stieß er mit den Füßen oder mit der Schulter gegen eine Wand.

Langsam begriff er, was das bedeutete. Er lag in einem Sarg. Dieser warme Luftzug von der Seite benebelte ihn.

Seine Hilfeschreie blieben ungehört. Die Panik wich schließlich einer gnädigen Ohnmacht.

Tag 4, 00.30 Uhr

PP Rhede11

Gerd Hasler öffnete die Schiebetür, danach löste er die Verriegelungen. Eine Wolke von Abgasen schlug ihm entgegen, als er den Deckel anhob. Ein rascher Blick über den Parkplatz: alles ruhig.

Den Elektroschocker konnte er zur Seite legen. Ihr Opfer lag mit rotem Gesicht tot in der Kiste. Mit einem speziellen Bergungsgriff zog Gerd den Toten heraus und schleppte ihn in das dunkle Dickicht des Parkplatzes.

Er öffnete mit dem Schlüssel die Handschellen. Die Schmuckkette legte er dem Opfer um den Hals. Mit einem knackenden Geräusch trennte seine Schere den Zeigefinger von der rechten Hand des Toten.

Alles lief wie geplant. Der Transporter verließ den Parkplatz. Er drehte an der Anschlussstelle Rhede, fuhr zurück Richtung Bunde.

Tag 4, 01.45 Uhr

Industriegebiet Bunde-West12

Im Industriegebiet Bunde-West stellte Gerd Hasler sein Fahrzeug hinter die alte Halle eines abgelegenen Firmengeländes. Beim Aussteigen überprüfte er die Umgebung. Alles war ruhig.

Die alte Halle war etwa 20 Meter breit und 50 lang. Vorne befand sich ein breites Tor. Das massive Tor bei der Einfahrt sicherte das Grundstück zusammen mit einem stabilen Zaun. Das Gelände war von hohen Büschen umgeben. Ideal für ihre Zwecke. Hinter diesem älteren Gebäude befand sich das neue Firmengelände.

Gerd betrat die Halle durch die Seitentür. In einem Nebenraum, von der Halle durch eine Plane getrennt, standen der Mercedes des ersten Opfers und daneben der Zigaretten-Bulli.

Lisa kam ihm entgegen.

»Braves Mädchen! Hast du nachgesehen, ob da noch ein Handy vom Fahrer drin ist?«

Sie holte ein zerlegtes Handy aus der Tasche ihres Overalls.

Gerd klemmte die Batterie des Bullis ab, genau wie die beim Mercedes. Dann verschlossen sie gemeinsam das Tor zum Nebenraum und verließen die Halle.

Als Nächstes stand der Abtransport des Wohnmobils auf dem Plan.

Unterwegs von Bunde-West13- Weener-Emstunnel-Leer-AS Filsum- zurück in Rtg. Leer/Ndl.- PP Brinkum14

Lisa saß neben Gerd auf dem Beifahrersitz. Nervös fragte sie: »Ist er tot?«

»Ja, ich habe ihn auf dem Parkplatz Rhede entsorgt. Dort findet man ihn nicht so schnell.«

Eine Zeitlang blieb es still. Dann sagte sie: »Weißt du, diesmal war es irgendwie anders. Ich hab gedacht, beim Zweiten wird es einfacher, aber irgendwie tat mir der junge Mann leid.«

Zornig entgegnete er: »Du weißt doch, dass sie es verdient haben. Sie hatten doch die Wahl. Sie hätten auch brav nach Hause fahren können.«

Beide schwiegen. Gerd erzählte ihr nicht, dass er den Toten den Zeigefinger abschnitten hatte, und sprach auch nicht über die Sache mit dem Schmuck, den er hinterließ.

Lisa erzählte ihm nicht, dass sie im Bulli ein Foto von einem jungen Paar am Armaturenbrett gesehen hatte. Vermutlich der Fahrer und seine Frau. Beide sahen darauf so glücklich aus.