Theorien des Fremden

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Im Verlauf des Vortragstextes ist eine gewisse VerschiebungVerschiebung der Wertung unübersehbar. Erschien das „SpiegelstadiumSpiegelstadium“ zunächst als eine ‚neutrale‘ condition humaine, die doch immerhin die Chance auf einen anderen Umgang mit AlteritätAlterität eröffnen könnte, so überwiegt doch zu Ende des Textes eine überaus pessimistische Anthropologie, in der der MenschMensch in seinen Phantasmen ausweglos gefangen bleibt, so wie eben PlatonsPlaton Höhlenbewohner, die gar nicht wissen, auf welch einem kleinen Teppich von RealitätRealität sie sich befinden. Damit wird die Unterscheidung von NormalitätNormalität und Perversion, von psychischer GesundheitGesundheit und KrankheitKrankheit einigermaßen systematisch unterwandert. Diese Methode nennt LacanLacan, Jacques unter Berufung auf Anna FreudFreud, Anna „symbolische Reduktion“.37

Aber noch ist das SpiegelstadiumSpiegelstadium nicht an sein Ende gelangt. Dieses vollendet sich in der Entwicklung des KindesKind, die die „Wendung vom SpiegelSpiegel-Ich (je speculaire) zum sozialen Ich (je social)“ beinhaltet und Hand in Hand mit der Identifikation des Nächsten und der Ur-Eifersucht geht. Auch diese Wendung wird, ähnlich wie das frühkindliche Stadium, als eine „paranoische EntfremdungEntfremdung“ begriffen.

LacansLacan, Jacques Interpretation hat das tragische Ende des MythosMythos von NarzissNarziss nicht vergessen. Abschließend kommt der Text, ohne Freud direkt zum Adressaten zu wählen, auf die Theorie des „primären NarzissmusNarzissmus“ zu sprechen, der er ein „tiefes Gefühl für das Latente im Semantischen“ bescheinigt.38 Es liest sich wie eine sanfte Korrektur Freuds und seiner Anhänger, wenn Lacan auf den Gegensatz von LibidoLibido und „Destruktionsinstinkte“ zu sprechen kommt. Lacans komplexe Denkform ist jedoch nicht dualistisch wie jene Freuds: hier der Sexual-, dort der Todestrieb. Für den primären Narzissmus konstatiert er nämlich einen unaufkündbaren „offensichtlichen Zusammenhang zwischen der narzisstischen Libido“ und der „entfremdenden Ich-Funktion“,39 die er mit AggressivitätAggression gleich setzt. Offensichtlich entspringt die Aggressivität der GespaltenheitGespaltenheit des Ich. Damit erinnert er trotz des oben erwähnten Unterschieds an Freuds PessimismusPessimismus seit Jenseits des Lustprinzips und trägt zugleich dem zeitgenössischen philosophischen Kontext Rechnung. Freuds PsychoanalysePsychoanalyse hat für Lacan Verwandtschaft mit „jener existentiellen Negativität“, wie sie – das ist wohl eine Anspielung auf SartreSartre, Jean-Paul (→ Kapitel 2) – im „Philosophieren über SeinSein und NichtsNichts“ anzutreffen sei.40 Doch bleibe diese Philosophie allzu sehr in einer auf das Bewusstsein bezogenen Selbstgenügsamkeit behaftet. Sie sei noch immer in der Illusion der AutonomieAutonomie und in den „Verkennungen des Ich (moimoi)“ befangen. Stattdessen schlägt Lacan eine „existentielle Psychoanalyse“ vor, die die psychoanalytische ErfahrungErfahrung einer keineswegs aus freien Stücken konstituierten KonstruktionKonstruktion des SubjektsSubjekt ernst nimmt.41

Ungewöhnlich scharf nimmt LacanLacan, Jacques den Existentialismus, ohne SartresSartre, Jean-Paul Namen in den Mund zu nehmen, als falsche Romantisierung aufs Korn. Er kritisiert folgende Elemente: die Proklamation einer FreiheitFreiheit „innerhalb der Mauern eines Gefängnisses“, die Forderung nach einem Engagement der „Ohnmacht des reinen Bewusstseins“, den sadistischen VoyeurismusVoyeurismus der sexuellen Beziehung, die IdeeIdee einer Persönlichkeit, die sich ausschließlich im Selbstmord realisiert, und ein Bewusstsein des Anderen, „das sich erst mit dem Hegelschen Mord zufrieden“ gebe.42 Insofern Lacan die Philosophie seiner ZeitZeit kritisiert, hier unverkennbar Sartre, greift sein Anspruch einer Philosophie des Alteritären über den traditionellen psychoanalytischen DiskursDiskurs weit hinaus. Er präsentiert die PsychoanalysePsychoanalyse selbstbewusst als ein Gegenmodell zur existentialistischen Philosophie. Sie allein erkennt „jenen Knoten imaginärer KnechtschaftKnechtschaft“, den er am Beispiel des SpiegelstadiumsSpiegelstadium vorgeführt hat. Dieser lasse sich durch „LiebeLiebe“ – das Wort ist bis dahin nicht gefallen – „lösen oder zerschneiden“; offenkundig nicht durch philosophische Reflexion. Wobei er hinzufügt, dass er, ähnlich wie zuvor Freud, die altruistische Liebe als „eitel“ einschätzt: „[…] wir setzen die AggressivitätAggression ins Licht, welche unter den Aktionen des Philanthropen, des Idealisten, des Pädagogen, sogar des Reformators liegt.“43

Vorgestellt hat LacanLacan, Jacques sein Konzept, wie Philippe JulienJulien, Philipp, der zu Anfang dieses Kapitels zitiert wurde, bereits im Jahr 1936, zum Zeitpunkt der von den Nationalsozialisten organisierten Olympischen Spiele in Berlin. Zu dessen Kommentar soll hier zu Ende des Kapitels noch einmal zurückgekehrt werden, nicht zuletzt, weil dieser einiges erhellendes Licht auf die komplexe Textur von Lacans Vortrag wirft. Das Neue an seiner Version der PsychoanalysePsychoanalyse bestehe nicht zuletzt darin, dass er den entfremdeten Selbstbezug ambivalentAmbivalenz fasse. Insofern fallen in dieser Beziehung erotischeErotik und aggressive Momente untrennbar zusammen. Die Struktur dieser narzisstischen Beziehung, Ich ist ein Anderer, machen auch erklärlich, warum Hetero-AggressionAggression und Auto-Aggression so nahe beieinander liegen. Julien konstatiert, dass Lacans Position an dieser Stelle mit Melanie KleinsKlein, Melanie Konzept der „depressiven Position“ zusammenfalle.44

Im ödipalen Konflikt richtet sich die AggressionAggression gegen den VaterVater, der die symbiotische Beziehung zur MutterMutter bedroht. Im narzisstischen Konflikt richtet sich die Aggression gegen den Anderen, der man zugleich selbst ist. Mit Seitenblick auf Freud lässt sich sagen, dass LacanLacan, Jacques Freuds dualistische Trieblehre insofern überwindet, als sich BegehrenBegierde und Aggression aus derselben entfremdenden und entfremdeten Selbstbeziehung speisen, die Lacan am Beispiel des SpiegelstadiumsSpiegelstadium illustriert.

JulienJulien, Philipp interpretiert LacansLacan, Jacques Fahrt zu den Olympischen Spielen des Jahres 1936 als eine Anwendung seiner Theorie des SpiegelstadiumsSpiegelstadium. Die MachtMacht des RassismusRassismus gründet in der archaischen negativen oder positiven Faszination eines jeden von uns mit seinem oder ihrem Gegenüber. Der oder die Fremde als der ganz andere, negativ kodierte MenschMensch, ist jener oder jene aus dieser Spiegelansicht Ausgeschlossene und zugleich als Horizont Anwesende. Mit ihm oder ihr kann ich mich nicht identifizieren, denn er/sie würde mein SpiegelbildSpiegelbild irritieren, verstören oder zerbrechen.45 Der Rassismus hat offenkundig mit dem entfremdeten Ich zu tun. Was ich im ‚SpiegelSpiegel‘ sehe, das kann nicht ich sein. Deshalb löst das andere, etwa dunkle GesichtGesicht, AggressionAggression aus. Das bedeutet aber auch, dass Rassismus viel tiefer verankert ist. Er resultiert nicht aus einem manifesten Programm, sondern hat ganz offenkundig mit den Strukturen unserer Ich-Bildung zu tun, die über eine Identifikation verlaufen, in der der Andere als Ich identifiziert wird.

Die InszenierungInszenierung der Olympischen Spiele begreift JulienJulien, Philipp mit LacanLacan, Jacques als eine gigantische kollektive narzisstische Identifikation, als eine liturgische Feier des KörpersKörper der deutschendeutsch Jugend oder, mit Freud gesprochen, als eine Übertragung von einem AußenAußen an ein InnenInnen. Das sei, so Lacans Interpretation, kein PhänomenPhänomen, das auf Hitler beschränkt sei. Die medial inszenierten Olympischen Spiele waren gleichsam der narzisstische SpiegelSpiegel, der dem deutschen Volk vorgehalten wurde.

Die Stärke von LacansLacan, Jacques Theorie des imaginären und imaginierten Ich, des individuellen wie des kollektiven, liegt zweifelsohne im Bereich der Analyse des Bildlich-Medialen. So haben der französische Filmtheoretiker Christian MetzMetz, Christian und nach ihm der slowenische Philosoph Slavoj ŽižekŽižek, Slavoj das bewegte photographische BildBild als eine Variante der Situation des Spiegelbildes verstanden, das darauf beruht, dass der Zuschauer bzw. die Zuschauerin sich mit einem/einer Anderen identifiziert.46 Wie die auf die PhänomenologiePhänomenologie zurückgehenden Konzepte von WaldenfelsWaldenfels, Bernhard und LévinasLévinas, Emmanuel (→ Kapitel 4 und 5) macht Lacans Ansatz einen signifikanten Unterschied zwischen dem (kulturell) Fremden und dem Anderen (→ Kapitel 1). In diesem Sinne stellt er tatsächlich, ungeachtet aller Bezugnahmen auf Freud, eine eigeneEigentum Theorie des Fremden dar, die sich unübersehbar von jener des Fremden als des UnheimlichenUnheimliche, das unterschiedet, die Julia KristevaKristeva, Julia im Anschluss an Freud entwickelt hat (→ Kapitel 3).

8. ImagologieImagologie: Von der Aachener SchuleAachener Schule zu Edward SaidSaid, Edward und Homi K. BhabhaBhabha, Homi K.
8.1. ImagologieImagologie als Methode und Teildisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft

Das, was man in einschlägigen akademischen Kreisen als „ImagologieImagologie“ bzw. als „Aachener SchuleAachener Schule“ beschreibt, stellt wohl den relevantesten Beitrag der Literaturwissenschaft, genauer der KomparatistikKomparatistik, im Hinblick auf Theorien von FremdheitFremdheit dar.1 Der aus dem Lateinischenlateinisch kommende Begriff, dessen KonnotationKonnotation im Deutschen vom ‚BildBild‘ bis zur ImaginationImagination (EinbildungskraftEinbildungskraft) reicht, ist durchaus kompliziert und vielschichtig. Er beschränkt sich keineswegs auf externalisierte, also gemalte oder lichttechnisch erzeugte Bilder (Tafelbild, Photographie), sondern meint vor allem jene Summe von internen Vorstellungswelten und Bildkomplexen, die unsere Wahrnehmung überlagern oder auch steuern. In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um visuelle, sondern auch um sprachlich formatierte ‚Bilder‘. Dabei sind kognitive wie emotive Momente im SpielSpiel. Der Begriff des Bildes, der ImagoImago oder des ImagesImages (diese drei Begriffe werden in diesem Zusammenhang weithin synonym verwandt), ist dabei mit einem anderen verwandt, den wir sowohl aus der Literaturwissenschaft als auch aus der SoziologieSoziologie kennen: dem StereotypStereotyp. Dabei handelt es sich um eine Wahrnehmungsform, die von vornherein verkürzt und reduziert, aber apperzeptionstechnisch zugleich überaus effizient ist. Mit ganz wenigen Strichen lassen sich durch stereotypische Darstellungen MannMann und FrauFrau, Europäer und Asiaten, Spanier und Schweden, Muslime und Inder, Inuit und MenschenMensch aus der Südsee kodieren und dekodieren. Ein einziges Merkmal, ein breitkrempiger Hut oder ein bunter Männerrock genügen, um den Vertreter einer anderen EthnieEthnie als Mexikaner bzw. als Schotten zu markieren. Kaum einer der Witze über ein anderes Land kommt ohne solche Stereotypisierungen aus, die tendenziell den Anderen herabsetzen und kleiner machen. In diesem Zusammenhang enthalten nahezu alle Bilder des Anderen konnotative Bedeutungsüberschüsse, die in der jeweiligen KulturKultur sozusagen Gemeingut sind.

 

Solche BildkonstruktionenBildkonstruktion, denen nicht selten ein klassischer Aussagesatz zugrunde liegt („Alle Bewohner von A sind…“), kommen nicht zuletzt als Aneignungs- und Verwerfungsstrategien des Fremden zum kulturellen Einsatz. Dass solche Bildkonstruktionen unter bestimmten Bedingungen ein hohes Aggressionspotential enthalten, davon zeugen in unserem kulturellen Kontext die so lange wirksamen Stereotypen etwa gegenüber den europäischen JudenJuden oder vielen KulturenKultur Außereuropas, die zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert Gegenstand kolonialer Beherrschung wurden. Infolge eines in ganz EuropaEuropa so wirksamen NationalismusNationalismus spielten und spielen stereotype FremdbilderFremdbild auch zwischen den heute in die Europäische Union integrierten Nationalstaaten eine erhebliche Rolle. Solche lassen sich zum Beispiel an all den Feindbildern zeigen, die am Höhepunkt der europäischen Finanzkrise etwa in Griechenland und in DeutschlandDeutschland mit atemberaubender Schnelligkeit aus der historischen Versenkung auftauchten, vom hässlichen und geldgierigen Deutschen bis zu dem kleinen Taugenichts im Süden, der nicht arbeiten, es sich aber gutgehen lassen will. Solche BilderBild anderer Kulturen und Länder haben immer zwei Adressaten: einerseits die MenschenMensch der eigenenEigentum Kultur, denen man etwa durch das Format des Berichts die andere Kultur erklären und begreiflich machen will, und andererseits die Menschen des Auslandes, mit denen man nicht zuletzt dadurch ins Gespräch kommt, dass man sie beschreibt und kommentiert. Immer kommt dabei selbstverständlich die eigene Kultur ins SpielSpiel. Sie ist gleichsam die Projektionsfläche, die der Erkundung des Fremden zugrunde liegt. Jeder Reisebericht, der einen ästhetischenÄsthetik wie ethischenEthik Anspruch ins Spiel bringt, wird danach trachten, die bisherigen Bilder über das andere Land zu bekräftigen bzw. zu wiederholen oder aber zu korrigieren. So ist das Schreiben über die andere Kultur immer zugleich Zerstörung ‚falscher‘ und – im Gestus einer womöglich naiven AufklärungAufklärung – die Etablierung neuer, ‚richtiger‘ Bilder.

Die Entwicklung der von Hugo DyserinckDyserinck, Hugo begründeten Aachener SchuleAachener Schule ist eng mit diesem europäischen Kontext verknüpft. So ging es doch nach dem Zweiten WeltkriegZweiter Weltkrieg darum, alte Feindschaften wie die zwischen Deutschen und Franzosen oder – auf einer Binnenebene – zwischen Flamen und Wallonen (oder seit den 1990er Jahren zwischen den Nachbarvölkern des ehemaligen Jugoslawien) zu überwinden. Die kritische Aufarbeitung jener oftmals negativen BilderBild des Nachbarn lässt sich dabei als ein meta-politischer symbolischer Beitrag zur europäischen IntegrationIntegration bzw. als Reflexion transkulturellertranskulturell Beziehungen im globalen Maßstab verstehen. Als exemplarische Beispiele für eine Unzahl ähnlicher Publikationen sei hier pars pro toto der von Dietrich Harth herausgegebene Band Fiktion des Fremden. Erkundungen kultureller GrenzenGrenze in LiteraturLiteratur und Publizistik (1994) genannt, in dem unter anderem dem Deutschlandbild in FrankreichFrankreich oder dem Frankreichbild in DeutschlandDeutschland nachgegangen wird.2

Die KomparatistikKomparatistik als eine spezifische FormForm der Literaturwissenschaft beruht auf dem Vergleich von Texten, Literaturen und Artefakten aus verschiedenen KulturenKultur und ist insofern immer schon mit Formen der kulturellen Begegnung befasst: Die Stereotype, die von einer Kultur hinsichtlich einer anderen formuliert und festgehalten werden, sind eine problematische aber gleichzeitig wirksame Form der interkulturelleninterkulturell Begegnung. Diese stereotypischen MusterMuster können in LiteraturLiteratur, JournalismusJournalismus und FilmFilm analysiert werden.

Von einer „TechnikTechnik des Vergleichs“ spricht Manfred BellerBeller, Manfred, einer der prominentesten Vertreter der ImagologieImagologie, in einem knappen und programmatischen Aufsatz aus dem Jahre 2011. Aber der Vergleich ist nicht bloß eine Technik bzw. eine gedankliche Operation, sondern ist die Bedingung der Möglichkeit sich eine andere, fremdefremd KulturKultur anzueignen. Hermeneutisch gesprochen bildet unser eigenerEigentum kultureller Vorstellungshorizont immer schon den Ausgangspunkt dieses Prozesses:

Wer ein anderes Land und seine MenschenMensch betrachtet, beurteilt und beschreibt, der betrachtet sie nicht nur aus seiner persönlichen Perspektive, sondern er vergleicht die anderen auch mit dem Land seiner Herkunft und den Eigenschaften seiner Landsleute.3

Ein gewisser Ethnozentrismus ist diesem Argument zufolge – darin würde die SystemtheorieSystemtheorie (vgl. Kapitel 6) der ImagologieImagologie beipflichten – unvermeidlich. Es ist also der Prozess des VerstehensVerstehen selbst, der positive und negative Urteile über die fremdefremd wie die eigeneEigentum KulturKultur hervor- und mit sich bringt. Der Akt des Verstehens setzt logisch voraus, dass wir mit etwas konfrontiert sind, das sich uns (zunächst) nicht erschließt, wir aber trotzdem begreifen wollen. In diesem Prozess spielen Vorurteile, Stereotypen, Gemeinplätze und bestimmte Topoi eine entscheidende Rolle, sie funktionieren gleichsam als oftmals schon vorgefundene Wahrnehmungsfilter des Fremden. Dies lässt sich – und das ist ein beliebtes Sujet der Imagologie – an der sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelnden ReiseliteraturReiseliteratur zeigen.

Die erste Art, das Fremde zu beschreiben, besteht in der AnalogieAnalogie. Mathematisch entspricht dies der Formel A = B. Viele GebräucheGebräuche und Einrichtungen im fremdenfremd Land werden gar nicht eigens hervorgehoben, weil sie jenen im eigenenEigentum Land A entsprechen. Natürlich kann der Reisende, der aus dem Land A in das Land B fährt, auch ausdrücklich diese Entsprechung hervorheben, ob er sie nun positiv, negativ oder neutral betrachtet.

Aber die für die ImagologieImagologie und das Thema des Fremden wichtige FormForm des Vergleiches stellt nicht die analogische Entsprechung bzw. die Betonung der Ähnlichkeit, sondern die Konstatierung von Unterschieden und Gegensätzen dar. BellerBeller, Manfred zitiert den schweizerischen DiplomatenDiplomat und Reiseschriftsteller Karl Victor von BonstettenBonstetten, Karl Victor von, einen anglophilen Aufklärer, der den Unterschied zwischen den KulturenKultur der Nordeuropäer und der mediterranen Kultur mit Verweis auf das unterschiedliche Klima bipolarBipolarität fasst: Während die MenschenMensch im Norden lieber nachdenken als handeln, neigen jene des Südens eher zu schnellen und lebhaften Aktionen als zum gründlichen Nachdenken. Der negative Kontrast ist der „zweite Modus“. „Die Masse der Urteile über fremdefremd Nationen“ unterliege, so Beller kritisch, dieser bipolaren Entgegensetzung mittels „asymmetrischerAsymmetrie Grundbegriffe“ (Koselleck)4. Wiederum greift der Imagologe zu einer formalen Beschreibung: In der antithetischenAntithese Argumentation gilt: A steht im Gegensatz zu B, und B im Gegensatz zu A. Mathematisch sieht das folgendermaßen aus: A ←→ B. Das bedeutet: „Hier herrschen die Unterschiede zwischen allen diesbezüglichen Vorurteilen, Hetero- und Auto-Stereotypen, Topoi und Klischees.“5 An dieser Stelle wird aber auch der Zusammenhang zwischen Fremd- und Selbstbildern besonders illustrativ. Während es nämlich im korrespondierenden Vergleich (Ähnlichkeit, Entsprechung) kaum zu einer symbolischen Aufladung des Auto-ImagoImago kommt, ist diese im kontrastiven Urteil enthalten. B ist nicht zuletzt nicht A, weil B mit einem Minus und A mit einem Plus versehen ist. So auch in dem Beispiel des Diplomaten aus der Schweiz, der dem absolutistischen und rückständigen ItalienItalien das bürgerlich-zivilisierte England gegenüberstellt: „Die jeweilige einseitige Sehweise veranlaßt das beobachtende Ich (the spectant), den benachbarten Anderen (the spected) mehr mit negativen und abschätzigen als mit positiven Eigenschaften zu versehen.“6

BellerBeller, Manfred führt Beispiele aus den heutigen, zumeist medialen Diskursen an, etwa, wenn er auf Berichte in deutschendeutsch MedienMedien über den Müllskandal in Neapel verweist. Dabei geht es nicht nur um eine „neutrale“ Darstellung eines politischen Skandals, sondern dieser Schilderung liegt die binäre OppositionOpposition ordentlich/sauber vs. unordentlich/dreckig zugrunde. „Wenn ein Autor der NationNation A die schlechten Eigenschaften und Besonderheiten der Nation B abschätzig beurteilt, gibt er indirekt zu verstehen, daß seine eigeneEigentum Nation von derlei Fehlern und Unsitten frei ist.“7

Es ist offenkundig, dass die Situation komplizierter ist, als BellerBeller, Manfred sie darstellt. Der von ihm zitierte Autor kommt nämlich weder aus England noch aus ItalienItalien, sondern aus einem dritten Land, das sprachlich betrachtet an die Schweiz angrenzt. Die kontrastive StereotypStereotyp-BildungBildung muss übrigens nicht zwangsläufig ethnozentrisch bzw. ‚egophil‘ sein, es gibt durchaus Beispiele dafür, dass ein Autor den kulturellen Zustand des eigenenEigentum Landes mit einem Minus und das des anderen mit einer polar positiven Wertung versieht. Das Müllproblem ist ein gutes Beispiel dafür. Das andere Land – DeutschlandDeutschland, Amerika, England – wird bewundert, weil der Autor sich einen WandelWandel in seiner GesellschaftGesellschaft wünscht, die sein Land A am Ende mit dem Land B tendenziell mit den gleichen Eigenschaften versehen würde. ManMan, Paul de möchte so sein wie der Andere, das fremdefremd Gegenüber. Interessant ist an den Beispielen der ImagologieImagologie, wie stark diese sich für nachbarliche Gegenüber interessiert, also für Länder, die eine gemeinsame – reale oder symbolische – GrenzeGrenze miteinander verbindet.

Das Beispiel des italienischen Müllskandals führt in dieser stark systematisierten Darstellung zu einer dritten Modalität des Vergleichs. Die erste war die analogeAnalogie, die zweite die kontrastive bzw. antithetischeAntithese, die dritte nennt BellerBeller, Manfred „reziprok“:

Es handelt sich um eine beinahe mechanische ReziprozitätReziprozität zwischen nationalennational mentalen Attitüden, wonach eine positive Meinung über die NationNation A eine Kritik an der eigenenEigentum Nation B verrät bzw. verbirgt, und umgekehrt ein negatives Urteil über die Nation A einer positiven Selbsteinschätzung von Nation B entspricht.8

In eine mathematische Formel gegossen nimmt sich das so aus:

+A ←→ -B und -A ←→ +B

Daraus ergibt sich für die KomparatistikKomparatistik die Notwendigkeit, diese Modalitäten kritisch zu hinterfragen und zu versuchen einen neutralen Standpunkt einzunehmen, anstatt die in den Vergleichen schlummernden Werturteile zu reproduzieren.

Im Weiteren verfeinert BellerBeller, Manfred sein imagologisches Modell, wenn er noch andere maßgebliche Faktoren anführt, die die Analyse von „Bildern in unseren Köpfen“ komplizierten. An dieser Stelle zitiert Beller den SoziologenSoziologe Lippmann und betont, dass all diese Fremd- und Selbstbilder einem kulturellen WandelWandel unterliegen. So können sich die MachtMacht- und Herrschaftsverhältnisse zwischen zwei Ländern verschieben, die kulturelle Durchlässigkeit verändert sich, politische Feindschaften werden überwunden bzw. neu geschaffen. Zudem ändern sich Wertsetzungen, Mentalitäten und Urteile. Beller verweist hier – und das war von Anfang an ein wichtiges Thema der Aachener SchuleAachener Schule – auf die französisch-deutschedeutsch Aussöhnung nach dem Zweiten WeltkriegZweiter Weltkrieg, die eine erhebliche Rolle für die Aachener ImagologieImagologie gespielt hat. Dabei verschwinden die alten BilderBild nicht vollständig, aber die Vergleiche komplizieren sich. Es kommt zu einer Überlagerung von kontrastiven und reziproken Modalitäten des Vergleichs:

 

Die Urteile ändern sich mit den geschichtlichen ErfahrungenErfahrung und Optionen; zugleich aber hält die zugrunde liegende topische Argumentationsform die einmal geprägten und insofern konstanten BilderBild im Archiv der kollektiven Memoria zur gefälligen Bedienung parat.9

Der zweite Faktor betrifft die „verschiedenen Perspektiven“, unter denen ein bestimmtes Land von anderen betrachtet und gesehen wird. Hier bezieht sich der Verfasser auf einen Sammelband Deutschlandbilder, in dem die unterschiedliche Stereotypisierung des wiedervereinigten DeutschlandDeutschland nach 1989 untersucht wird. An den Beispielen – Großbritannien, USA, Israel, RusslandRussland, Türkei – wird deutlich, dass sich Stereotype nicht nur kulturell wandeln, sondern sich immer auch aus bestimmten eigenenEigentum Interessenlagen und ErfahrungenErfahrung (bzw. deren jeweiligen symbolischen Formatierungen) speisen.10 Daraus ergibt sich ein Kreis von „spectant nationsspectant nations“, deren jeweils unterschiedlicher Blick sich auf eine einzige NationNation („spected nationspected nation“) richtet.

BellerBeller, Manfred erwähnt noch einen dritten „Faktor, der sich in kein graphisches Schema fassen läßt“: „die persönliche Perspektive des jeweiligen Referenten“. Damit kommt ein unberechenbares Moment der AbweichungAbweichung ins SpielSpiel, das ebenso schwer systematisch zu analysieren sei wie die „Interferenz zwischen individuellem und kollektivem Meinungsbild“.11

Ausdrücklich betont der Autor, dass die verschiedenen Nationen zugeschriebenen Charakteristika, auch wenn sie poetisch-sprachlich hochgradig elaboriert sein mögen, Dokumente unserer PhantasiePhantasie, „Manifestationen der BilderBild in unseren Köpfen“12, sind. Es ließe sich hinzufügen, dass es auch Dokumente von hoher politischer, kultureller und gesellschaftlicher Wirkungsmächtigkeit sein können. BellerBeller, Manfred plädiert am Ende für die Skepsis gegenüber den von ihm herausgearbeiteten Modalitäten des Vergleichs. Denn es gibt keine wahre WirklichkeitWirklichkeit hinter den Stereotypen, Klischees, Topoi und all den mentalen Bildern in unseren Köpfen. Die ImagologieImagologie weiß aber um die rhetorischen Techniken, die den verschiedenen Modalitäten der BildkonstruktionBildkonstruktion des kulturell Anderen zugrunde liegen. Damit nimmt sie einen klassischen intellektuellen und wissenschaftlichen Platz ein, den des skeptischen und kalmierenden Meta-Beobachters.

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