Jahrhundertwende

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13. Juli 1990

Gestern Abend erklärte Jelzin im Großen Saal des Kreml seinen Parteiaustritt, sehr wirksam, vor laufenden Fernsehkameras, man hätte eine Nadel fallen hören. Dann verließ er den Saal. Empörte Rufe: »Schande, Schande«, plötzlich sehr müde wirkende Gesichter. Die Demokratische Plattform hat sich nun abgespalten und konstituiert sich als eigne Partei. Jelzin erklärte, als russischer Präsident müsse er überparteilich sein, Präsident aller Russen, der sich nicht an die Linie der KPdSU binden könne. Er hat damit weiteren Wind aus Gorbatschows Segeln genommen.

Gestreikt wurde auch in Workuta, wo Arbeiter ihre Parteibücher in einen großen Papiersack warfen.

FAZ-Reißmüller: »Nur wenn die Partei nicht mehr der Staat ist, kann der Leninismus absterben, das Grundübel in der Sowjetunion.«

*

Die FAZ setzt ihre auf Säuberung der DDR-Universitäten gerichtete Serie fort: Ralf Georg Reuth (»Weiter auf antikapitalistischem Weg. Die PDS-Gesellschaftswissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität geben nicht auf«) stellt vor allem Heinrich Fink an den Pranger. Er steht im Wege als widerständiges, weil unbelastetes Element. Dieter Segert wird an zweiter Stelle angegriffen, an dritter Michael Brie, der aber mit seinem Bruder André verwechselt und zum Wahlkampfleiter der PDS erklärt wird. Brie habe Kontakte zu Markus Wolf, wird mitgeteilt, als ob das Stasi bedeute. Dieter Klein kriegt vorgehalten, auf dem SEDParteitag vom Dezember 1989 eine wirkliche Herrschaft des Volkes, nicht eine bloße Westkopie angestrebt zu haben.

14. Juli 1990

Außer Gorbatschow und Iwaschko lauter Neue im Politbüro gewählt. Schewardnadse nicht. In der FAZ interpretiert Werner Adam es als eine Art Halbherzigkeit, fast Feigheit, dass Gorbatschow »sich nicht dazu durchringen mochte«, die sozialistische Wahl zu widerrufen und zum Kapitalismus überzugehen.

15. Juli 1990

Laut Fernsehen 400 000 auf dem Platz der Manege. Keine Rede, in der die KPdSU nicht »verbrecherisch« genannt wurde. Ihre Führer sollen vor Gericht gestellt, ihr Eigentum beschlagnahmt werden. Gorbatschow habe sich zu den »Konservativen« geschlagen. Durch seinen Austritt scheint Jelzin diese Deutung festgelegt zu haben.

Später ein Bericht über sowjetische Faschisten, schwarz uniformiert, vom Popen gesegnet, mit Judenhass und Zarenemblemen. Sie sehen tatsächlich den unsrigen ähnlich und wünschen auch, mit diesen in Kontakt zu treten. Juden verlassen zu Zehntausenden das Land, in Israel eine Wohnungskrise.

16. Juli 1990

In seinem Schlusswort sagte Gorbatschow, dies sei nicht der letzte Parteitag der KPdSU und nicht ihr Begräbnis, wie vorhergesagt worden war. »Die Kommunistische Partei lebt und wird leben. Sie wird ihren historischen Beitrag zum Fortschritt des Landes und zum Fortschritt der Weltzivilisation leisten.« Ein Rückfall in die »alten Gewohnheiten« würde den »Tod der Partei« bedeuten. Er werde »alle verfassungsmäßige Macht als sowjetischer Präsident« gebrauchen, um die Politik der Umgestaltung durchzusetzen und zu verhindern, dass irgendjemand »die Perestrojka zerbricht«.

Die Resolution »Für einen humanen, demokratischen Sozialismus« erklärt sich für die Überwindung der »historischen Spaltung der Arbeiterbewegung«, für Zusammenarbeit von »Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, national-demokratischen Parteien sowie allen Organisationen und Bewegungen, die für Frieden, Demokratie und sozialen Fortschritt kämpfen«. Die innere Situation der SU sei bestimmt durch die Polarisierung zwischen einer »konservativ-dogmatischen Strömung«, die zurück zum autoritären Sozialismus der Vergangenheit will, und einem radikalen Antisozialismus, ja Faschismus und Monarchismus; in den nationalen Bewegungen immer mehr Chauvinismus.

Gorbatschow hat den Rückzug der KPdSU aus der Kontrolle der Massenmedien dekretiert. BBC brachte das in Zusammenhang mit der gestrigen Demonstration. Engelbrecht, den ich mit einigem Glück am Telefon erwische, sagt, der »konservative« Angriff sei dauerhaft abgewehrt. Daher sei die Demonstration auf dem Manegeplatz »die richtige Veranstaltung zum falschen Zeitpunkt« gewesen; nach dem russischen Parteitag wäre sie angemessen gewesen, jetzt nicht mehr. – Ich sage, im Fernsehen sei von 400 000 Demonstranten die Rede gewesen. E. erwidert, ich solle getrost die Hälfte streichen. Er war dort. Der Platz nur locker besetzt. Die Schaulustigen überwogen. Ein harter Kern von einigen Zigtausend umschloss die Rednertribüne. Weiter hinten zündeten die radikalen Sprüche nicht. Nicht die geballte Kampfstimmung wie im Februar oder April. Awaliani verglich er mit der SA. Dieser rechtsdemagogische Populismus sei gefährlich.

Wir hätten uns vom sinnlichen Eindruck zunächst irreführen lassen, als wir die Grundstimmung für machtkonservativ hielten. Was wir für »rechts« (er spricht diese Sprache allzu bedenkenlos) hielten, sei Ignoranz, Ungeübtheit, Verständnislosigkeit, Nicht-Mitkommen mit dem Neuen gewesen. Frei nach: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Für das Folgenreichste hält E. rückblickend Gorbatschows Treffen mit den Sekretären der Grundorganisationen. Sie habe er gewonnen. Daraus sei ein zweiseitiger Energietransfer gefolgt. Kraft für ihn, Orientierung für die Verunsicherten.

Auf Gorbatschows Wunschliste (85 Namen) standen Gelman, Roy Medwedjew, Falin u.a. Sie hatten zwar mehr als die Hälfte der Stimmen erhalten, aber auch viele Gegenstimmen. Es bedurfte des massiven Auftretens von Gorbatschow u.a., die Beschwörung, nicht alles Erreichte des Kongresses in letzter Minute wieder zunichte zu machen, um die Delegierten dazu zu bewegen, das ZK entsprechend zu erweitern. – Der Opportunist Iwan Frolow hat es ins Politbüro geschafft. Ist aber nicht für »Ideologie« zuständig; dieses Ressort wurde Aleksandr Dsachossow (1934) übertragen, der den Ausschuss für Internationales im Obersten Sowjet leitet. Eine einzige Frau im Politbüro, anscheinend das übliche schamlose Feigenblatt: Galina Semenowa, Chefredakteurin der Zeitschrift »Krestjanka« (Die Bäuerin) seit 1981, nunmehr zuständig für Frauenfragen.

Mit Katja Maurer von der »Volkszeitung« meinen Abschlussartikel zum Parteitag vorbesprochen. Nach den Machtkonservativen wären nun die Gorbatschow-Leute zu behandeln. Allerlei Fragen von der Art, ob dies oder das »noch eine Zukunft« habe: die KPdSU, die Sowjetunion, der Sozialismus … Die nur 16 Prozent für Ligatschow eine große Überraschung. Wie zu erklären? Konzeptionslosigkeit der Machtkonservativen? Der Kultusminister, ehemals Chef des Tanganka-Theaters, zu den Delegierten: wir werden uns von der Jugend des Landes isolieren und die Beziehungen zu den Intellektuellen zerstören, wenn wir die Roy Medwedjew, Lazis, Gelman, Schatalin, Falin u.a. nicht wählen.

Die SU tut den großen Schritt von einem Wirtschaftsmodell zum anderen, das in der Logik der Dinge eigentlich nur mehr das des Westens sein kann. Zur sich neuen Konfiguration von Politik gehören der Nato-Generalsekretär, der die Feindrolle der SU für beendet erklärt, und Helmut Kohl, der eine Obergrenze der deutschen Armee und Geld und die Perspektive besonderer deutsch-sowjetischer Beziehungen anbietet.

Was verstehen die Leute um G unter »sozialistischem« Charakter der Politik? Die Rettung vor einem wilden Kapitalismus in einem drittrangigen Land.

Fragen. – Droht ein sowjetischer Bonapartismus, ein Präsidialregime mit Exekutiv-Verselbständigung auf Basis eines Klassengleichgewichts? Spricht dafür nicht die demokratisch dubiose Durchsetzung von Gorbatschows Kandidaten? Das Wiederholenlassen von Mehrheitsentscheidungen? So war freilich auch gehandelt worden, nachdem Ligatschow durch Mehrheitsentscheid von der Kandidatenliste gestrichen worden war. Oder entsprang es blindem Gehorsam, dass der kurz zuvor noch Gefeierte nicht gewählt worden ist? Nachträglich herrscht anscheinend der Eindruck, Gorbatschow habe den Kongress »total beherrscht«. NZZ erklärt Gorbatschows Erfolg mit alten Disziplin-Mechanismen und Angst vor weiterem Autoritätsverfall der KPdSU in der Öffentlichkeit.

Inwiefern ist Gorbatschow der (einzige) Garant der Umgestaltung? Ist die Angst des Westens vor seinem möglichen Verschwinden begründet?

Ist die Bewegung in den Städten, obwohl sie sich gegen Gorbatschow richtet, progressiv? Gibt es Ansätze einer nach Selbstverwaltung strebenden demokratischen Bewegung? Was bliebe andrerseits als Machtbasis der Partei? Provinz? Armee? Es sind doch wohl nicht nur die Funktionäre.

17. Juli 1990

So viele Energien in den Startlöchern, bereit zum Sprung –

Zwei Ungleichheiten: 1. Gedanken ungleich Worte; – 2. Worte ungleich Taten.

Manche sagen, Gorbatschows Text sei gut, aber unwirklich. Worte, denen nichts gefolgt sei. Und doch ist eine Revolution im Gange! Allerdings könnte sie in eine Konterrevolution münden. Dies dadurch begünstigt, dass dem Zerstören kaum ein neuer Aufbau entspricht.

25. Juli 1990

Perestrojka-Journal. – Erich Wulff, dem ich große Teile zu lesen gegeben hatte, schreibt dazu: »Es wirkt fast wie ein Drama, eine Schicksalstragödie, was da abläuft, an welcher der Seher auch nichts mehr ändern kann. Vielleicht ist ein bisschen zu kurz gekommen die rückblickende Reflexion darüber, weshalb die anderen Alternativen – Demokratisierung der DDR nach dem 9. November – sich als Illusionen erwiesen haben. Was und wann wurde Entscheidendes versäumt? Oder: gab es danach nichts mehr, was versäumt werden konnte? Irgendwann im November oder Dezember schätzt Du die Wiedervereinigungsparolen noch als ganz randständig, extrem ein – und nicht lange danach beherrschen sie nicht nur das Bild, sondern sind auch allesamt international akzeptiert.«

 

6. August 1990

Gestern bei Helmut Steiner, in seiner von Büchern und Papieren belagerten Wohnung am Prenzlauer Berg. Seine Frau, Roswitha März, eine Mathematikerin, hat fünf Jahre in Leningrad studiert. »Mathematiker beweisen Sätze.« Steiners Vorstellungen vom Nacharbeiten der Vergangenheit hängen noch in dieser. Das Unrecht, das den Bloch, Kofler, Trotzki zugefügt wurde, soll gutgemacht werden. Aber, sage ich, ihr verfehlt die Gegenwart.

8. August 1990

Inzwischen Jelzin angeblich »Hauptstütze« Gorbatschows. Die Stäbe der beiden arbeiten gemeinsam am Übergangsplan.

Türkei. – 75 Prozent Inflation. Hauptgrund: 50 Prozent des Staatshaushalts gehen für den Schuldendienst an westliche Banken drauf. In Istanbul würde der Durchschnittslohn gerade zum Mieten einer bescheidenen Wohnung reichen. Die guten Nachrichten gelten dem andern Extrem der Gesellschaft: Seit 1986 sind die Börsenkurse um 3000 Prozent gestiegen. Allein von Januar bis April 1990 um 50 Prozent! Der Export besteht zu 70 Prozent aus Rohstoffen, 10 Prozent sind Konsumgüter.

Börsenkrise in Tokio und New York. Die USA vor der Rezession. Die Invasion Kuwaits durch den Irak hat die Ölpreise hochgetrieben, was zusätzlich niederdrückend auf die US-Konjunktur wirkt.

9. August 1990

Von Ilse Ziegenhagen erfahren, dass »Sonntag« (DDR) und »Volkszeitung« (BRD) fusionieren.

10. August 1990

In der »Volkszeitung« schreibt Reinfried Musch: »Wenn man was zusammenholen will, was an Sozialismus-Theorie auf marxscher Grundlage in der DDR da ist, muss man es von draußen tun. Es wird von drinnen nicht mehr gehen.« Er hat das Gefühl, dass von der westlichen Linken die Situation nicht verstanden wird. »Sie wollen nicht selbst herausholen, was hier vorhanden ist, sie nehmen nur, was abfällt.« – Wenn ich nur wüsste, wie nehmen.

In der gestrigen FAZ das Entsprechende von Unternehmerseite: die Aktivität müsse vom Westen ausgehen.

16. August 1990

GB, ursprünglich Maurer, dann »Philosoph«, arbeitet jetzt als Nachtportier. Versucht, geistig am Leben zu bleiben. Will zurück in die Wissenschaft. Aber das könnte nur »mönchisch« gelingen, neben der Lohnarbeit.

Die Leitglosse der heutigen FAZ (Heike Schmoll, »Kirche nach dem Sozialismus«): »Dass Gott die Mauer zu Fall gebracht habe, ist nur ein Beispiel für Aussagen, die sich anmaßen, Gottes unbestrittenes [!] Handeln in der Geschichte direkt zu deuten und im einzelnen zu benennen.«

20. August 1990

Frigga hat eine Einladung zur Teilnahme an jenem nach dem Schneeballprinzip verfahrenden System erhalten, wo man an den Erstplazierten 30 DM überweist, so und so viele neue Leute zur Mitwirkung anwirbt und dafür auf der Liste der Berechtigten einen Platz erwirbt (den vierten), der mit jedem Durchgang eins aufrückt. Auf die Weise soll man rechnerisch nach kurzer Zeit zigtausend Mark erhalten können. In Wirklichkeit bricht die Kette irgendwann zusammen, einige haben sich bereichert, die große Menge geht leer aus, bzw. zahlt die Spesen. Da man nicht wissen kann, wann die Kette reißt, ist es ein Glücksspiel. Wir hatten von solchen geldreligiösen Praktiken gehört, pflegen alle derartigen Aufforderungen in den Papierkorb zu werfen. Aber hier zögerten wir, denn unter den vier Namen waren drei, die wir kannten, zunächst Albert E., bis vor kurzem Redakteur der »Marxistischen Blätter«, jetzt Herausgeber von »Z« (»Zeitschrift für marxistische Erneuerung«). An letzter Stelle stand Therese Dietrich, eben die, welche noch vor wenigen Wochen in unserm Ost-West-Workshop Labica referiert und danach ihr Ausscheiden aus dem marxistischen Projekt erklärt hatte. Beklemmung. Wir fühlen uns wie damals, als wir davon erfuhren, dass einer unserer langjährigen Mitforscher aus dem »Projekt Ideologietheorie«, Herbert B., der Scientology-Sekte beigetreten war.

22. August 1990

Arnold Schölzel nun PDS-Vorsitzender an der Humboldt-Uni. Micha Brie sein Stellvertreter. André Türpe kandidiert für die PDS zum Magistrat. Unsere Forschungsgruppe ist also über diese Personen stark mit von der Partie. Benno Hirschmann sagt fünf Jahre Strudel voraus, in den wir hineingezogen werden. Er spricht mit dem Triumph des gewohnheitsmäßigen Überbringers schlechter Nachrichten.

25. August 1990

In eine Liste der feigen Umbenennungen aufzunehmen: Werner Tübkes »Bauernkriegspanorama« heißt künftig »Panorama Bad Frankenhausen«.

Kapitalistische Internationale. – »Die politische Führung der Nato arbeitet im Bewusstsein, dass die heutige Welt Einzelgänge von Staaten allein wegen der wirksamsten ›Internationale‹, dem weltweiten Kommunikationsnetz von Industrie, Banken und Technik, nicht zulässt – zumindest nicht im industrialisierten Gebiet der Nordhalbkugel unserer Erde.« (Jan Reifenberg, »Von der Abschreckung zum Konsens«, in: FAZ)

Die nächste Kriegsfront. – »Der Kalte Krieg war der Dritte Weltkrieg, viel kostspieliger als der zweite«, sagte Falin. Die nächste Kriegsfront wird bereits rekognosziert. Sie erscheint als »Folge des jahrzehntelangen Luxus einer ausschließlichen Beschäftigung mit dem Ost-West-Gegensatz […]. Nukleare oder durch Androhung des Einsatzes chemischer Waffen ausgeübte Erpressung im ›Gürtel der Instabilität‹ der islamischen Staaten von Pakistan bis Marokko kann weit gefährlicher werden als zu Zeiten des Kalten Krieges.« (Reifenberg, ebd.)

26. August 1990

In meinem Radiogespräch mit Peter Huemer vom Mai zu kurz gedacht: Bipolarität der Weltordnung setzte die Dritte Welt frei. Dass jetzt der Irak der neue Feind, ist trotz aller fundamenta in re ein Vorwand: Der Feind von morgen ist die Dritte Welt. Aber so, wie das Verhungern der Vielen ein Feind der Satten ist.

Huemer gestern: Österreich wird in den deutschen Sog geraten; in 2–3 Jahren wird es eine »Identitäts«-Diskussion geben. In der BRD sieht er »die reichste Gesellschaft der gesamten Menschheitsgeschichte«. – Teresa Orozco schildert die Verwandlung der Innenstädte Ost- und Westberlins als innere Drittweltisierung.

28. August 1990

Von einer Reise in den Norden der DDR rückkehrend, erzählte Frigga von einer freundlichen, kinderreichen und –lieben Gesellschaft und einer demokratisch-egalitären Urlaubskultur an der Ostsee. Sie meint: unbrauchbar für Mercedesfahrer, weil man dort bisher keine Ausschließung kenne. Aber ohne kulinarische Kultur. Die Preise noch immer ein Witz im Vergleich zu den hiesigen.

*

Der Sinn meiner Arbeiten zur NS-Rezeption: einen Anstoß geben, ja geradezu erzwingen, dass weitergegangen werde, dass die Fragen noch einmal aufgemacht werden, darauf bauend, dass die Abstoßung der nazistischen Erfahrung ausreiche, den neu in Gang gebrachten Prozess in die entgegengesetzte Richtung laufen zu lassen. Was aber, wenn einzig Destabilisierung einer freilich schon immer scheinhaften Ordnung herauskommt, die zwar hohl, aber immerhin dem Nazismus entgegengesetzt war. Was, wenn die neue Schamlosigkeit, von der Peter Huemer gesprochen hat, die Gelegenheit nutzt?

Zurückblickend auf Kohls Visionen von deutscher Wiedervereinigung von 1986: Was damals Wunschtraum, ist heute erfüllt, ja übererfüllt, unerwartet für uns, die wir es für fern aller Realpolitik hielten. Haltepunkte (Verankerungen) der alten Weltordnung waren die Juden und der Osten, die deutsche Schuld und die aus ihr folgende Teilung. Nun aber waren die Juden beschäftigt mit den Arabern und brauchten die Unterstützung des Westens, also auch der Bundesrepublik, und der sowjetische Hegemonieraum im Osten löste sich auf. Plötzlich hatten die deutschen Unternehmer (die Konzernmanager) die Hände frei. Der riesige Akkumulationsraum (und zunächst Kapitalzerstörungsraum) des Ostens ergab sich ihnen. Reagans Hambacher Rede.

30. August 1990

Christian Meier arbeitet (in der FAZ) an folgendem Problem: Nachdem die DDR-Bürger »sich befreien wollten«, »haben sie gar nicht so selten den Eindruck, sie hätten nur die Herrschaft gewechselt«. Er kommt zurück auf sein Thema vom vergangenen Herbst: was er damals DDR-Identität nannte, nennt er jetzt »DDR-Mentalität«.

Vorgestern Abend hörte ich von Uwe Damm einiges über Ambivalenzen im Arbeiterbewusstsein der DDR. Man muss selbst Äußerungen der Resignation und Absage an die eigenen Kräfte sehr sorgfältig lesen. Uwe hat eine subversive Hermeneutik entwickelt. Denkt mit den Händen. Formuliert nah an den Arbeitenden.

September 1990

Jiří Kosta erklärte in einem Gespräch in der Augustnummer der Neuen Gesellschaft den Dritten Weg und die sozialistische Marktwirtschaft für Irrtümer. Den Begriff »Demokratischer Sozialismus« könne man behalten, wenn geklärt sei, dass es sich dabei um eine Orientierung an den Grundwerten Freiheit, Gleichheit, Solidarität handeln muss, die ein innerkapitalistisches Korrektiv anstrebt. Als mitteleuropäische Erfahrung (vor allem der Ungarn) gibt er zu verstehen, dass eine Mischwirtschaft nicht funktioniere und dass er sich die »soziale und ökologische Marktwirtschaft« nur als kapitalistische vorstellen kann.

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Die BRD war unfähig, der RAF jenen Rückzug aus dem Terror offen zu lassen, den die Existenz der DDR möglich machte. Inge Vietts offener Brief an ihr magdeburger Arbeitskollektiv schildert die DDR als einen Staat, dessen Leitwerte sie akzeptierte. Joscha Schmierer, der ihren Brief in der Augustnummer der »Kommune« zitiert, liest aus den Verwicklungen eine typisch deutsche tragische Farce heraus. Die BRD hält krampfhaft den Mythos einer ungebrochenen Kontinuität der RAF aufrecht. – Im Übrigen scheint Schmierer der Versuchung nachzugeben, den Kapitalismus nun, da er gesiegt hat, für ebenso irreal zu erklären wie den besiegten Sozialismus. – Metastasen linken Bewusstseins. Welcher Konformitätsdruck wird nun auf uns wirken?