Jahrhundertwende

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

27. August 1991

Gespenstische Post: von Nowosti soeben den Entwurf zum Unionsvertrag erhalten, eine Woche alt und schon aus einer anderen Zeit. Dazu Lukjanows Nachbesserungsforderungen vom Standpunkt der Zentralmacht.

28. August 1991

Gorbatschow hat seinen Verbleib im Amt vom Abschluss eines neuen Unionsvertrags abhängig gemacht. In der BBC hörte sich das an, als gälte die Rücktrittsdrohung dem Westen, falls er sich zu sehr mit der Anerkennung der drei baltischen Staaten beeilt.

Jelzin will Japan die Kurilen geben. Er zahlt Eintritt.

*

Der jugoslawische Bürgerkrieg in den Hintergrund gedrängt. Die Namen von zerstörten Orten, die uns etwas sagen, denen das Jugoslawien der Selbstverwaltung ein Stück politischer Heimat bedeutet hat. Wäre unser zeitweiser Ziehsohn Yuri, der bei uns auf sein Visum wartete, nicht nach Neuseeland ausgewandert, müsste er jetzt beim Militär dienen.

29. August 1991

Die FAZ will, dass die EG in den jugoslawischen Bürgerkrieg eingreift. Was die Sowjetunion angeht, hat die FAZ entdeckt, dass die Atomrüstung unbestritten an Russland übergehen würde, so dass der Auflösung der Union nichts im Wege steht.

Als ich Swetlana Askoldowa telefonisch Katja Maurers Bitte übermittle, mit ihr ein Gespräch für den »Freitag« zu führen, sagt sie mehrfach: »Ihr könnt nicht wissen, wie die Dinge in Moskau abgelaufen sind.« Es klingt bedrohlich. Sie will es mir unter vier Augen erklären.

30. August 1991

Als ich heute anrief, hingen die Askoldows gerade am Radio. Swetlana erregt, ich meinte, Angst zu spüren. Voller Entsetzen verfolgen sie Jelzins Gegenputsch. Sie erzählt von den Haussuchungen bei zehn Abgeordneten heute Nacht, darunter Falin. In den Nachrichten sehe ich einen Verbitterten und verlassenen Gorbatschow. Jakowlew, Schewardnadse und Popow haben ihm eine Abfuhr erteilt, als er sie für den neuen Sicherheitsrat vorschlug, der provisorisch die SU verwalten soll. Jelzin hat in aller Eile mit der Ukraine ein Wirtschaftsabkommen geschlossen, das als Kristallisationspunkt für die Bestandteile der auseinanderfallenden Union dienen soll, ihre Probleme ohne Zentralregierung zu bearbeiten. Gorbatschow wird es nicht mehr lange machen, und das Parlament scheint die Legitimität verloren zu haben.

31. August 1991

Beim Wiederlesen der vor einem Jahr angefertigten Notizen fällt mir auf, dass die politische Rekonstituierung Russlands den Beginn der Auflösung der Sowjetunion markierte. Russland in den Knien unter der imperialen Last. Wird es die Last abwerfen? Steht ihm eine Entwicklung bevor analog zu der des Westens nach der Entkolonialisierung, hin zu einem marktvermittelten Neokolonialismus?

An etwas Misslingendem teilzunehmen, importiert das Misslingen.

1. September 1991

Rashomon-Muster der Geschichte, Wirklichkeiten ohne Wirklichkeit, so fühlte ich mich während des Gesprächs mit den Askoldows. »Gorbatschow hat alle verraten, und sie haben ihn alle verraten.« Sie verfolgten noch immer die Direktübertragung aus dem sowjetischen Parlament, kriegten die Manipulationen mit, das Abschalten der Mikrophone, wenn ein Redner nicht genehm ist. An die Selbstmorde glauben sie nicht, am wenigsten an den des KP-Finanzchefs, eines der ältesten Freunde Gorbatschows (aus Komsomolzeiten), der aus dem 8. Stock gestürzt (sie glauben: geworfen worden) ist; er habe gewusst, wohin Geld verschoben worden sei, welches die Konten im Westen seien, Jelzins, Gorbatschows usw., denn er habe dabei geholfen.

Alexander hat mit Jewtuschenko gesprochen, als dieser vor wenigen Tagen hier war, um in der Akademie der Künste seinen Film »Stalins Beerdigung« vorzuführen. J. habe Angst gehabt, offen zu sprechen.

Jetzt lauert eine neue Art von Terror. Im Fernsehen Telefonnummern mit der Aufforderung bekanntgegeben, dort alle Angaben zu machen, die der »Aufklärung« helfen können, aber das kennt man von früher, das fördert die Denunziation. Die Prärogative des Parlaments angeschlagen, die Abgeordneten eingeschüchtert, viele verhaftet, ohne dass ihre Immunität zuerst aufgehoben worden wäre, dem Parlament die Möglichkeit abgeschlagen, Anhörungen mit den Verhafteten durchzuführen. Die Askoldow überzeugt, dass »sie« Lukjanow, der beim letzten Aufenthalt in Moskau drei Stunden mit ihnen gesprochen hat, erschießen werden, dass auch die Juden irgendwann wieder an die Reihe kommen, usw. usf. Denn die ökonomische Lage ist fürchterlich und wird schrecklicher werden. Wolski, der dem Sonderkomitee für Wirtschaft vorsitzt, sagt 1000 Prozent Inflation bis zum Jahresende voraus. Es ist mit Hungeraufständen zu rechnen, und was wird Jelzin dann tun?

In der Antinomie, die Ziele des Staatsstreichs wollen zu müssen, ohne diesen akzeptieren zu können, während sie im derzeitigen Gegenputsch nur Gefahren, Zerstörungen, Gemeinheiten zu erkennen vermögen, neigen die Askoldows dazu, alles auf die Intrige der jetzigen Sieger zurückzuführen. In ihrer Darstellung zeigt der Staatsstreich die Tendenz, zu verschwinden, und die Grenze zwischen Mittäterschaft und Viktimisierung durch den Gegenputsch verschwimmt. G habe »wahrscheinlich«, sie können es sich »nicht anders vorstellen«, davon gewusst und gesagt, »macht ohne mich«, um zurückzukommen, »wenn es so weit ist«. Die Situation war unhaltbar, der Machtkampf Jelzin-Gorbatschow blockierte jede Handlungsfähigkeit, es war Zeit für eine Entscheidung, wer der Kopf wäre. »Man musste einen dritten Führer finden.« Jelzin schildern sie als eine Null, einen von anderen aufgeblasenen Ballon, nennen ihn aber zugleich den »russischen Saddam Hussein«.

Für mich eine fremde Welt, in der ich keine »Tatsachen« westlichen Typs zu fassen kriege. Ein Schein-Staatsstreich, der einzig abschrecken wollte, hinüberschillernd zu einem irgendwie hintergründig von Jelzin inszenierten Theater, Vorwand für den wirklichen Staatsstreich. Ein einziger Schuss fiel, und der wurde in die Luft abgefeuert. Kein wirklicher Angriff ausgeführt, keine effektive Verhaftung usw. usf. Dann waren, sage ich, die Übertölpelten dumm, weil sie all das, was sie verhindern wollten, erst entfesselten – aus Angst, und Alexander und Swetlana teilen diese Angst.

Alexander ist zweimal von der KP ausgeschlossen worden, das erste Mal 1969 nach der »Kommissarin«, das zweite Mal 1986 unter Jelzin, nachdem er diesem ein 80-Seitenpapier mit Vorschlägen zur Parteireform geschickt hatte. Er zeigt mir das Papier und seine (einseitige) Korrespondenz mit Andropow, Jelzin, Ligatschow und Gorbatschow. Man habe ihn aufgefordert, der Partei wieder beizutreten, zuletzt Jakowlew (den er seit 1967 kennt) im vergangenen Dezember, aber er habe zur Voraussetzung gemacht, dass die an seinen beiden Ausschlüssen Schuldigen zur Rechenschaft gezogen würden, und das wurde nicht akzeptiert. Schon früher hat ihn Pugo, als der noch Vorsitzender der Kontrollkommission der KP war, angerufen und zum Wiedereintritt aufgefordert, mit demselben Ergebnis.

*

In der sterbenden Sowjetunion scheint ein Prozess der »ursprünglichen Akkumulation« der Macht in Staat und Wirtschaft abzulaufen, das heißt der kriminellen Aneignung. Anflüge davon waren ja auch in der DDR zu beobachten. Metamorphosen der Staatsmacht und des staatlichen Eigentums, nicht zu vergessen Macht und Eigentum des bisherigen politischen Monopolisten, der Staatspartei. Eine schwarze »Renaissance« mit allem erdenklichen Machiavellismus, aber inszeniert von Gogol, arbeitend in (und geschlagen mit) dem alten russischen Simulationismus. Die »Umgruppierung der Kräfte« kann vielleicht gar nicht anders als schwindelhaft, verlogen und gewalttätig vor sich gehen. Aus Staatsklasse und Mafia werden sich die neuen Machteliten zusammenwürfeln. Das schlimmste Erbe des Bolschewismus wird nun privatbolschewistisch umfunktioniert. Millionen gutgläubiger KP-Mitglieder werden den »Lumpen« (das deutsche Wort auf Russisch und Englisch) ausgeliefert, während unter den Karrieristen der Verrat und die Cliquenbildung herrschen und es darum geht, sich die Ressourcen und Positionen unter den Nagel zu reißen. Man denke nur, was mit den KGB-Akten geschehen wird: die jetzt die Hand darauf haben, werden vernichten, was sie belastet, und werden Belastendes gegen ihre Feinde oder Konkurrenten nutzen. Bündnis des Schwarzmarkts mit Teilen der Staatsklasse; entlassene Afghanistan-Soldaten als Prätorianer angeheuert. In solchem Schmutz wird ein Staat geboren.

Schewardnadse und Jakowlew haben deshalb abgelehnt, dem neuen »Sicherheitsrat« beizutreten, weil sie sich dann zu Parteilosigkeit verpflichten müssten, während sie bei der Gründung einer neuen Partei und bei der Aneignung des KP-Vermögens durch diese Partei dabei sein wollen. »Sie werden bald im alten ZK-Gebäude sitzen.«

Zum Schluss eine moralische Demütigung, die uns, die westlichen Freunde Gorbatschows, nicht ausspart. Vom Ausmaß und den Folgen dieses Untergangs haben wir noch keine Vorstellung.

3. September 1991

Volker Braun ringt um einen neuen archimedischen Punkt, der ihm Themen zu finden und über sie zu schreiben erlaubt. Böhmen am Meer hat er im September 1989 begonnen, dann unterbrochen. Die Themen liefen weg. Überlegt, nur halb überzeugt, ob das Sich-Wenden eine Figur hergäbe, analog dem Hinze-Kunze-Gespann, eine Idee, an die sich Material ankristallisieren kann. Ihm ist sein großes Thema, die Perspektivierung zwischen den Gesellschaftsformen, genommen: der von kommunistischem Standpunkt durchschaute Sozialismus. Die neueren Gedichte, die er mir zeigt, alle etwa in der Länge eines Sonetts, bezeugen einen frischen und kraftvollen Umgang mit der Sprache, eine Schwebe zwischen Politik und Traum, durchzuckt von Wortwitz und ganz neu aufbrechenden metaphorischen Blöcken.

 

Christa Wolf hat ihm gesagt, sie fühle sich frei und beim Schreiben endlich unbehindert, seit sie ohne politische Bindung sei.

Vom neu-alten Hausbesitzer aus dem Westen erfährt VB sich wie ein »Asylant« behandelt: anredelose Briefe, Drohungen, der Ton am Telefon, und gestern eine über fünfhundertprozentige Mieterhöhung. Die Vorstellung, in den Westen zu ziehen, überhaupt weg aus dem Stadtviertel, wie eine drohende Entwurzelung. Er ist dabei, die Gesamtrechte seiner Schriften auf den Suhrkamp Verlag zu übertragen, weg vom Mitteldeutschen Verlag, mit unguten Gefühlen.

Die Geschichte seiner Mutter, die, 80 Jahre alt und vom Krebs gezeichnet, von einem Maler portraitiert wurde, geschönt, sodass Volker das Bild wohl wird kaufen müssen, um es zu vernichten, wie er sagt, weil es ihm sonst sein Bild von seiner Mutter nähme. Ich rate ihm, diese »Geschichte« zu schreiben (bislang sind es 2 Zeilen in seinem Journal). Er kam auf sie durch meine Frage, ob nun wohl die DDR zu einer Episode in der Geschichte würde, wie das Gottesreich zu Münster, und er über die zweideutige Macht der Kunst sprach, weiterwirkende Bilder des Vergangenen zu hinterlassen, die für dieses stehen werden.

In der FAZ blätternd, die halb gelesen auf dem Küchentisch liegt, findet er die Rezension unserer Gramsci-Ausgabe durch Alexander Gauland, der Staatssekretär in der hessischen CDU-Regierung gewesen ist. Die Überschriften arbeiten gegen die mögliche Entdeckung des besprochenen Werkes: »Die Macht der Groschenblätter«, Untertitel: »Noch eine Bastion, die fällt: Auch Antonio Gramsci kann den Marxismus nicht mehr retten«. Valentino Gerratanas Erstausgabe der vollständigen Gefängnishefte von 1975 wird auf »die späten vierziger und frühen fünfziger Jahre« datiert und Gramsci zum »Katalysator des Zerfalls« des Marxismus erklärt. »Er hat keine neue Theorie entwickelt«. – Schund.

4. September 1991

Wolfgang Scheffler feiert in der FAZ Jimmy Connors, der mit Tennisspielen rund 50 Mio Dollar gemacht habe, aber nicht des Geldes wegen kämpfe, sondern weil für ihn Sport »ein exemplarischer Existenzkampf« sei, den er »am liebsten öffentlich« ausfechte: »Ein Mann, mit eher bescheidenen Tennistalenten gesegnet, kämpft sich stellvertretend für alle durch.« Nie aufgeben, den Gegner bis ans Ende der Welt verfolgen, sind die Tugenden. Sein Stil habe den Tennissport verändert: aus »einem zivilisierten Zeitvertreib für Damen und Herren aus besseren Kreisen« habe er »einen erbarmungslosen Schlagabtausch gemacht, eine Art Boxen auf Distanz, […] Krieg auf Zeit«. – Zeitgemäß.

*

Im Editorial der Septembernummer von »Marxism Today« schreibt Eric Hobsbawm zum Umbruch in der Sowjetunion: »Die Perestrojka ist nicht gescheitert: sie hat nicht stattgefunden.« Der Text nicht so sehr unschlüssig, als mehrschlüssig. Vermutlich zunächst noch in der Gewissheit des Gelingens des Staatsstreichs geschrieben, dann angesichts von dessen Scheitern verlängert. So passt der Anfang nicht zum Ende. Das Zusammenhalten der Union sieht er als dominantes Ziel des Staatsstreichs. »Von Anfang an war der Separatismus die Achillesferse der Perestrojka.« Die ökonomischen Ziele der Perestrojka – und Hobsbawm sieht sie als Projekt einer Wirtschaftsreform – wurden von den diversen Elementen des Establishments mitgetragen, »obwohl sie wie jedermann sonst zu dem Schluss kamen, dass Gorbatschow es verdorben hatte« (had messed it up). – Hobsbawm nimmt zunächst an, es habe sich um einen Militärcoup gehandelt; am Schluss lässt er ihn scheitern am Autoritätsverlust der KPdSU und an der Spaltung der Armee. Er geht von der Notwendigkeit eines autoritären Regimes zur Rekonstruktion der Wirtschaft aus. Der Fehler von G sei gewesen, Glasnost einzuführen, um die Perestrojka zu erzwingen: »it should have been the other way round«. Hätte mit Zwang (bei intaktem Zwangsapparat) begonnen werden müssen? H. sagt das nicht, alles was er sagt, ist wie durchkreuzt. Am Schluss lobt er G als großen Staatsmann, der vom Rekonstrukteur zum Politiker und dann zum Symbol wurde. Dahinter lauert vermutlich eine scharfe Kritik.

Von Nowosti den Text einer Rede Jelzins über Radio Russland (vermutlich TV) vom 29. August, worin er den »Einsturz des Unionszentrums« feiert. Nichts wirklich argumentiert, wie stets bei G, sondern ein Impressionismus vom gewünschten Resultat her. Skrupellos wird die Geschichte umgeschrieben. Dieser Präsident, dessen Amt erst einige Monate alt ist, spricht von sich und dem russischen Parlament, das es erst seit gut einem Jahr gibt, als wären sie seit sechs Jahren blockiert worden. »Nach der Liquidierung des Staatsstreichs […] begann die Bewegung […] von der Allmacht und Unkontrolliertheit des bürokratischen Apparats zur Demokratie, vom ideologischen Diktat der KPdSU zur geistigen Freiheit« usw. Aber was ist mit der Glasnost, deren vorrangige Einführung Hobsbawm kritisiert? Die Fiktion, jetzt erst beginne Veränderung. Als wäre nicht der Zusammenbruch der SU die Folge des Abbaus von oben und von innen gewesen. Wie ein unbewusstes Echo der Gemeinsamkeiten von Putsch und Gegenputsch: »Der Staatsstreich […] hintertrieb die Unterzeichnung des Unionsvertrags und verstärkte die zentrifugalen Tendenzen.« Muss heißen: wollte mehr Einheit und verursachte mehr Zentrifugalität, wollte Putsch sein und brachte den Gegenputsch zur Macht. Nun komme »es darauf an, so schnell wie möglich den normalen Arbeitsrhythmus wiederherzustellen, das heißt, der Siegeseuphorie muss ein Ende gesetzt werden«.

5. September 1991

Die Askoldows verdächtigen Gorbatschow weiterhin, von den Notstandsplänen gewusst zu haben. Geschichten von millionenschwerer Wundertechnik an Kommunikationsmitteln.

Real ihr Schilderung der Entmächtigung des Parlaments. Haben am Radio haben sie verfolgt, wie es zum Schweigen gebracht wurde: Als Nasarbajew zu Beginn der Sitzung den Auflösungsvorschlag unterbreitet hatte, wurde die Sitzung sofort für einige Stunden ausgesetzt. Das Plenum mit Öffentlichkeit wurde praktisch ausgeschaltet. Wer später zu widersprechen wagte, wurde in den Straßen angepöbelt. Loben vor allem Schilikanow, den Vizechef des Leningrader Stadtsowjets, der einmal Oberst gewesen ist, dann aber Armee und Partei verlassen hat. Jetzt fordert er Gorbatschows Rücktritt. Obolemski, ein Rechtsanwalt, habe die Situation mit der Verhaftung der Parlamentarier von 1918 verglichen. Rühmen auch den leningrader Dimisow, der, »ein Bär«, der Ethikkommission vorsteht. Sobtschak dagegen habe dem Gesamtplan zugestimmt und nur Details kritisiert.

*

Von Thomas Laugstien zwei Tagesspiegelartikel von Engelbrecht: Am 1. September schildert er die mächtige Sojusgruppe, die nun, nachdem sie mit dem Staatsstreich sympathisiert habe, ohne jede Selbstkritik die parlamentarischen Möglichkeiten ausschöpfe, um G nun doch noch loszuwerden. (Ob Askoldow mit der Sojusgruppe sympathisiert?) Aber das »Superparlament« hängt in der Luft. Die Macht hat sich zu den Republiken und dort zu den »demokratisch mehr oder minder legitimierten Exekutiven« verschoben. Jelzin sei »hektisch bemüht«, seine »unbedachten Beiträge zur Beschleunigung des Zerfalls der Union […] zu korrigieren«. Als Nachfolger der Machtzentrale der Union wird jetzt von G und Sobtschak u.a. die Idee eines schon nicht mehr »interrepublikanisch«, sondern »zwischenstaatlich« genannten Koordinierungsrates verfolgt: mit der Wirtschaft als gemeinsamem Interessensgebiet. Engelbrecht schildert die Situation in marxistischen Begriffen als »paradox«: »Während im staatlichen Überbau […] alle möglichen […] unterschiedlichen neuen Verhältnisse geschaffen werden, hat sich an der gemeinsamen materiellen Existenzgrundlage nichts geändert.« G wolle neben Sobtschak auch dessen Gefolgsmann Arkadij Wolskij im Koordinationsgremium. Der souveränitätsbesessene Überbau müsse sich abkühlen, was Jahre dauern könne, die Wirtschaftspolitik bräuchten aber alle, und dies sofort.

Am 4.9. schreibt Engelbrecht: Die »entschlossenen Präsidenten« verlangen nur mehr Akklamation vom Parlament und würden sich auch um dessen Ablehnung nicht scheren. Der »Vertreterrat« sei nur »gehorsames Erfüllungsorgan der heimischen Potentaten« (falls diese sich einigen könnten, siehe Jugoslawien). Bedroht erfahren sich jetzt die kleineren Völker. Wilde Szenen, als ein Abgeordneter die Unabhängigkeitserklärung von Nagorny-Karabach erläutern will. Die Aserbaidschanischen Repräsentanten laufen Amok. Wird nun eine »Massenmigration« geschehen? Fjodor Burlazkij, der Chef der Literaturzeitung, sorgte sich über »den quasi verordneten Zerfall der Demokratie«. Keine tragfähige Struktur in Sicht. Auch Engelbrechts Bericht atmet Ratlosigkeit.

*

In Gorbatschows Schlusswort auf der außerordentlichen Sitzung des Obersten Sowjets von vergangener Woche finde ich folgende Szene mit Lukjanow: »Als ich nach der Nachmittagssitzung hinausgegangen war, begegnete er mir im Korridor. Wir haben mit ihm in all den Tagen nicht gesprochen, und ich habe keinen Wunsch mehr, mit ihm zu sprechen. Denn ich persönlich vertraute Lukjanow, war sicher, dass er weder unsere Sache noch mich verraten würde. Vierzig Jahre lang, seit unserer Studienzeit, unterhielten wir Beziehungen miteinander. Wurde er feige, wollte er seine Haut retten?« Das hieße, dass »seine Haut« bedroht gewesen wäre. G setzt sich hier übrigens auch mit den von den Askoldows geglaubten Versionen auseinander.

Details: Vom Gespräch mit der Junta-Abordnung: »Die gröbsten Ausfälle erlaubte sich Warennikow.« Ein Detail, das der Behauptung von der »russisch« motivierten Haltung des Generals Makaschow widerspricht: Dieser habe in einem chiffrierten Fernschreiben kritisiert, dass Jelzin noch nicht verhaftet sei. G: »Wir mussten unser Schiff zwischen Szylla und Charybdis steuern und sind manchmal gestrandet.«

*

Gestern Abend erzählte Thomas Schwarz, er habe in einem Antiquariat die Bibliothek von Rolf N. gesehen und einige Bände daraus erstanden, u.a. Roman Jakobson, der doch zum Kernbestand gehören müsste, den man behält. Greift der Geschichtsbruch im Osten auf westliche kritische Intelligenz über?

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?