Jahrhundertwende

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22. Februar 1991, Aachen



Greven schlägt vor, die Position von Honneth, Giegel u.a. als Konstruktive Theorie zu bezeichnen, jedenfalls nicht mehr als Kritische Theorie, denn diese war institutionenkritisch. Er beschreibt den Gestus der Habermasianer als ein permanentes Entwerfen von Denkmöglichkeiten: »Man könnte dies so fassen …«. Diese Konstruktive Theorie betreibe eine normative Institutionentheorie, von der man über die Gegenwartsgesellschaft kaum mehr etwas erfährt. Der einstige Gehlenschüler Rehberg fügt hinzu: Die Nachtseiten institutioneller Zusammenhänge, die vielleicht Institutionalisierungsgrund waren, werden vor lauter Affirmativität ausgeblendet.



Hans Joas erklärt sich mit Habermas nur in der einzigen Weise verwandt, gleichfalls kilometerweit entfernt von Adorno zu sein. Axel Honneth erklärt Habermas’ Verschweigepraxis mir gegenüber kühl mit »Inkompatibilität der Theorieansätze«. Da irrt er, der er am selben Machtspiel teilhat: zur honorierten Linken des Systems zu gehören und dem die systemkritische Linke zu opfern. In der Diskussion warf er mir vor, »radikal skeptisch« zu sein. Ich nehme den Ball auf. Wenn

skepséô

 untersuchen, erforschen bedeutet, dann will ich weiter untersuchen, was ist, wogegen er konstruiert, warum es so sein muss, wie es ist. Ich bestehe immer wieder (mit geringem Echo) darauf, dass wir uns als institutionelle Diskursanten selbst ins Bild einbeziehen müssen.



Auf der Fahrt nach Frankfurt ignorieren mich diese falschen Frankfurter. Ich meinte während der gesamten Tagung etwas wie Hass von ihnen zu spüren. Wer bin ich?



Privatisierung

. – Nun nehmen sie sogar die Kläranlagen aufs Korn. Die giftigen Exkremente werden über uns kommen.





23. Februar 1991, Frankfurt



In Frankfurt bei den Götzes überaus lieb aufgenommen: zunächst von den Kindern. Grete mit ihren neun Jahren eine kleine Persönlichkeit, macht Ballett und spricht sehr bestimmt. Den zwei (oder drei?) Jahre älteren Florian nennt sie ihren »kleinen Bruder«. Es stimmt in gewisser Weise; er scheint die Zeit anhalten zu wollen an der Schwelle zur Pubertät, ungeheuer zart und phantasievoll.



Bei der IMSF-Tagung im Haus der Jugend am Deutschherrenufer finde ich Jupp Schleifstein noch kleiner geworden, auf einen Kinderkörper zusammengeschrumpft. Verteidigt Gorbatschow. Man

musste

 runter von der Gewalt, daher nun Zerfall und Auflösung.



Die Tagung beginnt überraschend unergiebig. Hatte vom altkommunistischen Milieu mehr erwartet. Flüchte in der Mittagspause zu den Götzes, vor allem der Kinder wegen.



Heinz Jung erzählt mir sein Leben und bringt mir den alten Spruch bei: »Professoren und Doktoren – Proletariat, Du bist verloren!« Er kriegte ihn dereinst von seinem alten kommunistischen Onkel zu hören, der ihm eurokommunistische Tendenzen verübelte.





25. Februar 1991



Eine ebenso intelligente wie gut vorbereitete Radio-Journalistin (Walz) interviewte mich für den Bayrischen Rundfunk über die Gramsci-Ausgabe.





26. Februar 1991



Nach fünfstündiger Autofahrt Lesung in Bremen (aus dem Perestrojka-Journal). War müde, fand keine Form, beim Diskutieren kein Ende. Das Publikum (MASCH) freundlich, wollte aber über den Krieg reden. Ich meine zu merken, dass sie unter der Maske radikaler Kritik unsere Niederlage verinnerlichen und sage, sie hätten die Dinge früher zu harmlos gesehen und jetzt zu negativ. Der Moment, da ich aus dem Journal vorlesen konnte, scheint vorbei.





1. März 1991, Fern (Lungau)



Die Shakespeare-Sonette präsentieren sich überraschend: Reklame fürs Heiraten und Kinderzeugen. Eine recht manierierte Metaphernkompetenz führt sich vor, möglicherweise ironisch-doppelbödig. Dass der Adressat ein Jüngling ist, dessen Schönheit vom älteren Dichter besungen wird, erinnert an die antike Päderastie; in der Schwebe gehalten wird (zumindest in den ersten neun Sonetten), ob diese Erinnerung zulässig ist. Manifest dient die »Schönheit« als

Vehikel

, das die

Zeit

 unaufhaltsam in Bewegung setzt, indem sie dieselbe zum

Vergänglichen

 schlechthin macht, dem indes ein Weg zur Dauer offensteht in Gestalt des

Erben

 (heir).



Die Ähnlichkeiten (resemblances), in die das Problem des rechten und rechtzeitigen Nützens der Schönheit eingewoben ist, sind aberwitzig: Zeuger, Sohn und »glückliche Mutter« harmonieren zusammen wie wohlgestimmte Saiten im Akkord. Wenn die

starke Jugend

 (strong youth) der Sommer ist, so der Sohn, in dem sie wieder auflebt, das im Sommer aus Blüte und Frucht hergestellte »Destillat«, das im Alters-Winter in Glaswänden (der Schnapsflasche) lebt, während draußen der Tod herrscht.



*



Im Golf »Feuerpause«; das Wort »Pause« droht mit Wiederaufnahme im Falle verweigerter Fügsamkeit. Der Bodenkrieg soll eine Art Spaziergang gewesen sein. »Es war wie Truthahnschießen« (vom Flugzeug aus), beschrieben US-Soldaten ihren Feldzug. Nur 79 US-Soldaten sollen gefallen sein, auf irakischer Seite dagegen »bis zu 200 000«, freut sich die FAZ. Schon wieder Sektlaune. Nur ein Tropfen Wermut: Die BRD hat gewissermaßen verloren, weil sie es an Kriegsbegeisterung missen ließ. In der FAZ-Leitglosse verhöhnt Fack die »ablassheischende Nachtwächterrolle« der BRD: dass sie keine Soldaten geschickt, sondern sich freigekauft hat (»Ablass«). Der Grund für diesen Ärger ganz materialistisch: Die riesigen Summen für den Wiederaufbau Kuwaits werden nicht nach Regeln des Weltmarkts (Preis- und Qualitätskonkurrenz) vergeben, sondern feudal, als Lohn für Gefolgschaftstreue: Aufträge wie Lehen. Deutsches Kapital hofft jetzt, wenigstens durch die koreanische Hintertür Zugang zu diesen Profittöpfen zu erhalten. Südkorea hat Flugzeuge und Sanitäter für den Krieg gestellt, und in manchem koreanischen Kapital steckt ein deutsches. Den ersten »Auftrag« aber erhält die US-Armee, die sich dadurch in ein riesiges Lohnunternehmen verwandelt: sie darf die von ihr angerichteten Trümmer aufräumen. Neue Verhältnisse kündigen sich an: das Ölscheichtum, einer der größten Grundrentner der Welt, der sich längst in den westlichen Industrialismus eingekauft hat (z.B. bei Mercedes-Benz), zahlte zunächst mit über 50 Mrd USD die Aufrüstung des Irak, dann die Zerstörung dieser Ausrüstung durch die USA und nun den Wiederaufbau. Eine neue Dimension von angewandtem Militärkeynesianismus. Ein Grund für Konflikte in der OPEC (und mit dem Irak): Was Kuwait an niedrigen Ölpreisen verliert, gewinnt es an westlichen Kapitalprofiten.



Irak.

 – Katastrophale militärische Niederlage. Die Elite-Panzertruppen zum Schluss eingekesselt und ausgeschaltet. Infrastrukturell das Land kaputt, ökonomisch völlig am Boden, angewiesen auf Gnadenerweise. – Die

Chemiewaffen

 nicht eingesetzt. Warum nicht? Unfähig dazu oder aus Selbsterhaltung (Kriegsbegrenzung)? Die

Raketen

 eher symbolisch. Das

Kalkül

 einer Ausweitung des Krieges (auf möglichst viele islamische Länder, ausgelöst durch ein provoziertes Eingreifen Israels) ist nicht aufgegangen.

Israel

 konnte von den USA herausgehalten werden.



USA.

 – Warum stellten sie (und

wann

) den Krieg ein? Welche Rolle spielten dabei UNO, Sicherheitsrat, Sowjetunion? Gingen die USA so weit als irgend möglich, an die äußerste Grenze der Resolutionen des Weltsicherheitsrats?



In der BRD fielen die Aktien wegen der Feuereinstellung: hinterm Rauchschleier des Krieges scheint die Weltrezession wieder hervorzutreten.



Slowenien will eine eigne Währung einführen. Heißen soll sie zwischen donaumonarchischem Taler und amerikanischem Dollar: »Tolar«.





2. März 1991



Gina Thomas ist sich nicht zu schade, in der gestrigen FAZ mit einem imperialistischen Kiplingzitat, das im Munde eines britischen Offiziers vor dem Fronteinsatz im Irak bei der Truppe Wirkung gezeigt haben soll, fürs Bildungswesen zu werben. Dabei geht es irgendwie ums Töten zwecks dauernder Weltherrschaft (»als Mittel dauernder imperialer Überlegenheit«) und darum, ein richtiger Mann zu werden. Wie aus Theweleit. Und für so was will die Thomas klassische Bildung.



Im Irak soll es zu Bewegungen gegen das Baath-Regime gekommen sein, in Basra »Anarchie« herrschen, nachdem die Führungsschicht sich fluchtartig davongemacht habe.



Jugoslawien rutscht weiter in den Bürgerkrieg. Kroatien setzt »Sonderpolizei« gegen serbische Autonomisten ein. Gestern sechs Tote. Nun soll die Armee eingreifen.



Im Januar in der Bundesrepublik 22 000 Wehrdienstverweigerer angesichts des Golfkrieges.



*



Gewimmel von Assoziationen: Phantasiegestalten, Sekundenfilme, ein anderes Reich der Schatten, mögliche Leben, ungelebte Möglichkeiten. Diesen Gestalten sich zuzuwenden, sie auszukosten, das heißt Ausruhen.





3. März 1991



Shakespeare-Sonette.

 –

Fair

 war einmal =

kalós

. Wirft ein überraschendes Licht auf die

fairness

 und von dieser zurück ins alte Griechentum.

The sonnetts:

 Liebesmanierismus mit eingeblendetem (manieristischem) Antimanierismus (130).



XXII: Zauberhafte Teilhabe des Liebenden an der Jugend des Geliebten. Dieser Zeitzauber geht nur gleichgeschlechtlich. Er unterstellt jedoch (Unmöglichkeit am Grunde jedes Zaubers)

Gegenliebe

. Dann lebt eines jeden Herz in der Brust des andern. »How can I then be elder than thou art?« Er sagt nicht, dass dann für den jungen Geliebten das komplementäre Gegenteil gelten müsste:

How can thou then be younger than I am?



Synästhesien, hervorgehend aus den alten Analogien und den mittelalterlichen Ähnlichkeiten:

To hear with eyes belongs to love’s fine wit

.

 



XXXV: Irgendein öffentlicher Sexskandal scheint geschehen. Sie dürfen sich nicht mehr sehen. Der Dichter-Liebhaber mit sich selbst im Clinch:

for thy sensual fault I bring in sense

. Seine Zerrissenheit artikuliert er als inneren Bürgerkrieg:

such civil war is in my love and hate

.



*



Joseph S. Nye jr. (Harvard):

Transformation der amerikanischen Macht

. Das gewandelte Umfeld in Gestalt der transnationalen Konzerne und der ökologischen Politiken kostet die Staaten ihre Autonomie. Dazu reiht er den »Terrorismus« (Deckwort).



Terrorismus.

 – Vergleich mit der Piraterie des 16.–17. Jahrhunderts. Doppelte Übergangserscheinung von Freibeuterei in Handel und von beidem in die moderne Staatsmarine. Die britische Flotte bildete sich aus eben jener mixed economy aus Handel und Freibeuterei. Die Entfaltung von Welthandel per Schiff machte – außerhalb der um die entsprechenden Machtpositionen sich drehenden Kriege – Verkehrssicherheit auf See nötig. Zu Lande die

Räuber

. Heute entsprechen jenen alten Störern alle Arten von Mächten, die der auftauchenden globalen Verkehrsordnung des transnationalen High-Tech-Kapitalismus in die Quere kommen. Völker, denen ihr Recht vorenthalten ist, kommen kaum als Völkerrechtssubjekte in Frage. Die Unterliegenden werden doppelt unterliegen, falls sie nicht nachhaltig kämpfen und effektiv stören. Erst wenn sie das tun und dabei nicht besiegt werden können, werden die Herrschenden bestrebt sein, sie in den Völkerrechtskompromiss einzubeziehen.



Das schlechte Gewissen während des Golfkrieges nährte die Terroristenangst. Zusammenbruch des Flugtourismus und überhaupt eines Teils des Flugverkehrs. Auffallend wenig wirklicher Terrorismus in dieser Zeit.





5. März 1991, Esslingen



Der Oberste Sowjet hat ein neues Währungsgesetz verabschiedet, das schon wieder (noch immer) Staat gegen Geld (Eigenlogik des Marktes) einsetzt, derart wieder Wirklichkeit (und Eigentätigkeit der Leute) von sich abspaltend.





7. März 1991



»Von der SED gestohlenes Grundvermögen« nennt die FAZ-Leitglosse den aus Enteignungen hervorgegangenen genossenschaftlich genutzten Boden der DDR. Hybris der Sieger. Aber im Osten reift ein zweiter Aufstand heran, und die Klügeren aus den bürgerlichen Parteien haben begriffen, dass Ökonomie vor dem Prinzip Privateigentum rangiert. Zumindest verbal macht man jetzt Zugeständnisse: »Sanieren, um verkaufsreif zu machen«, soll der neue Auftrag an die »Treuhand« lauten, die bisher privatisiert hat um der Privatisierung willen und zu diesem Zweck die Unternehmen zuerst vollends ruinierte: Ausrottungskreuzzug gegen nichtkapitalistische Eigentumsformen.



*



Mit Barbara, meiner ›illegitimen‹ Halbschwester, traf ich mich auf dem Parkplatz des pforzheimer Krankenhauses Siloa. Sie führte mich auf den Trümmerberg. Als die Stadt am 22. Februar 1945 ohne jeden militärischen Sinn vernichtet wurde und mit ihr 17 000 Menschen untergingen, da war B. noch im Mutterleib. Es war wie ein Gleichnis: der Boden, auf dem wir zusammenkamen, waren die Trümmer einer großen Liebe, einer unheilbaren Verstrickung dreier Menschen. Mein Vater war beinahe vierzig, das Mädchen Else knapp halb so alt (sie ist am 4. August 1924 geboren).



Zu denken, dass diese Else, die nie einen anderen Mann hatte, noch lebte, als ich vor drei Jahren in Pforzheim über Antifaschismus sprach, während Barbara mit ihrem Mann inkognito im Publikum saß, um mich zu beobachten. Ihre Mutter lehnte damals den Gedanken, mich kennenzulernen, noch strikt ab. Jetzt versuchen wir, die fragmentarischen Hinweise, die wir von unseren Müttern haben, zusammenzusetzen und unsere jeweilige Verstrickung zu erkunden. Es ist ein Puzzle, aber kein Spiel, allzu viel Dunkles hängt an dieser Familiensaga.



Barbara hat blaugraue Augen. Sie ist Lehrerin in einer Grundschule, auf dem Trümmerberg befürchtet sie einen Moment lang, in einem Kind den Schüler wiederzuerkennen, mit dem sie am Morgen »zusammengerasselt« ist. Sie ist mit allerlei Selbstetikettierungen zur Hand, als wollte sie möglicher Kritik zuvorkommen: »unfähig zur Spontaneität«, »konfliktscheu« usw.



Ihre Mutter hat das Unglück ihrer großen und »schuldigen« Liebe auf eine Weise verallgemeinert, dass sie alles Unglück aus der Umgebung auf sich nahm; sie war »der Jesus von Pforzheim«. Als Arzthelferin die Klagen der Patienten nicht nur anhörend, sondern das geklagte Leid mitduldend. In jenem Schicksalsjahr 1945 war Elses Mutter der Schwangeren nicht beigestanden, sondern hatte sie zu einer Tante geschickt. Standardsatz der Mutter: »was sollen da die Leute sagen«. »Diesen Satz haben meine Kinder nicht ein einziges Mal von mir gehört«, sagt Barbara. Sie schildert ihre Ältere (Brita, 15) als verschlossen und hausgebunden, die jüngere (Berit, 10) als »Außenministerin« der Familie, nicht zu Hause zu halten. Als mein Brief kam, sagte Berit sofort: »kriege ich jetzt einen Onkel?«



Namenszauber: Barbara (genannt Bara), Bernd; Brita, Berit.



Als wir uns verabschieden, zögert B. einen Moment lang, ob sie mich nach Hause einladen soll. Meine Schwester zu sein, lehnt sie ab; wir haben nicht denselben Vater, sondern nur denselben Erzeuger, sagt sie, und Geschwister haben eine gemeinsame Geschichte, während wir nur eine dunkle Geschichte unter uns haben, wie den Schutt von Altpforzheim, als ein Unbewusstes unserer Kindheit.





8. März 1991



Geschichten meiner Mutte

r. – Die von einem Arzt eines Tags diagnostizierte Rückgratverkrümmung, die sie darauf zurückführte, dass sie als Kind stets verschraubt bei Tisch saß, weggedreht von ihrem Vater, um ihn nicht sehen zu müssen, zur Körperform gewordener Vaterhass. Irgendeine schlechte Sitte seinerseits widerte sie an. Mütterliche »Sexualaufklärung« nach ihrer ersten Periode, die viel zu früh gekommen sei, bei noch ganz kindlich dünnem Körper: »Und dann gibt es da noch etwas, aber das sollte man lieber lassen.«



In der FAZ ein Gedicht von Werner Söllner,

Swanns Arrangement mit sich selbst

, das, wie schon der Titel zeigt, mit Kennern von Proust kommuniziert, die den Namen Swann wie ein Emblem für die Suche eines Homosexuellen nach seiner verlorenen Jugendzeit (Jugendliebe) lesen:

Vergangenheit, halb / vergessener Ton, bittere Frucht, einzig / gelebte Zeit: süßer Kern deiner Flucht

. In der Gegenwart fühlt sich das poetische Ich in einem

Abgrund / voll Traum und Verlust / dieser süßen Last aus allem / was du gesehen hast

. Hübsch die Rede von den

Zimmern / die dich noch immer bewohnen

.





9. März 1991



Sabine Brandt darf im FAZ-Feuilleton hetzen, gegen Hermann Kant, Helmut Baierl, Gerhard Bengsch (»Krupp und Krause«), die sie mit Bedacht zwischen schreibenden Sicherheitspolizisten untermüllt, um darüber zu lamentieren, dass sie kraft deutscher Einheit jetzt die demokratischen Grundrechte nutzen dürfen und »unsere Mitbürger« geworden sind: »Das müssen wir schlucken, wie die Generation vor uns nach 1945 manches und manchen hat schlucken müssen.«



Laut Neil Postman hat der Durchschnittsamerikaner an seinem 20. Geburtstag 800 000 Werbespots über sich ergehen lassen. Rechnet man die ersten drei Lebensjahre ab, wären das knapp 134 pro Tag. Er würde sich nicht wundern, wenn demnächst Jesus mit einer Flasche aufträte: »Als ich damals in Kanaa Wasser in Wein verwandelte, war er nicht entfernt so gut wie dieser Pinot Noir von Gallo.«





10. März 1991



In Moskau eine riesige Demonstration der »Demokraten« gegen Gorbatschow. Afanasjew, der in meinem Gorbatschow-Buch von 1989 noch als eine der Stimmen im Einklang mit G, wenngleich sich in manchem vorwagend, vorkommt, seit mehr als einem Jahr ein scharfer Gegner, ja Feind. Als mein Buch erschien, gingen die Flitterwochen der Perestrojka, als sich noch alle Unzufriedenheit hinter G sammelte, eben zu Ende. Die Taktik Jelzins jetzt, Gorbatschows rechtsstaatliche Rekonstruktion der Sowjetunion zu durchkreuzen. Der Bürgerkrieg, vor dem G warnt, sei dessen Krieg gegen das Volk, schreien sie.





11. März 1991



Im Deutschlandsender Kultur – einem Sender der ehemaligen DDR, der

noch

 existiert und wo ich zu Wort komme, wie nie zuvor (und vermutlich auch nicht danach) in der Bundesrepublik – eine Diskussion über Gramsci mit Johannes Agnoli und Otto Kallscheuer. Manfred Lötsch, der zugesagt hatte, bleibt aus. Meine beiden Gesprächspartner haben aus entgegengesetzten Gründen ein Interesse daran, Gramsci als Anhänger der Diktatur des Proletariats hinzustellen, Kallscheuer, um ihn zugunsten von Croce zu verlassen, Agnoli, um ihn als Kronzeugen gegen den bürgerlichen Parlamentarismus zu haben. Ich vermute dagegen, dass bei Gramsci aufgrund seiner Fragestellung (Scheitern des revolutionären Kommunismus im Westen) zu aller bewussten Fragestellung eine gleichsam hinterrücks erfolgte Problemverschiebung hinzugekommen ist, die seine weiterwirkende Aktualität ausmacht: Transposition der (Klassen-) Kämpfe in die politische Kultur. In der Gesprächsstruktur fehlt ein DDR-Intellektueller. Aus taktischen Gründen stütze ich mich vor allem a