Die kulturelle Unterscheidung

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8. Exkurs: Holbeins Kaufmannsportrait von 1532 – Kulturelle Unterscheidung oder Distinktionskultur?

Der französische Ausdruck distinction meint neben »Unterscheidung« – und vielleicht sogar zunächst – »Auszeichnung« und »Vornehmheit«, was beim deutschen Ausdruck »Unterscheidung« nicht mitschwingt. Die Wörter haben eine semantische Schnittmenge, im Übrigen fallen ihre Bedeutungen auseinander. Kulturelle Distinktion und kulturelle Unterscheidung haben unterschiedliche Gegenstände und drücken gegensätzliche Subjektmodi aus. Der gedachte Akteur der Distinktionskultur tut sich vor anderen hervor, der gedachte Akteur der kulturellen Unterscheidung gibt einem konkreten Etwas den Vorzug vor etwas anderem. Der erste richtet sich in den Augen der Welt aus, der zweite richtet Welt in seiner Sicht richtig ein. Ihr jeweiliges Verhältnis zum Schönen unterscheidet sich vom jeweils anderen wie instrumentelles Handeln vom Selbstzweckhandeln. Bourdieus Akteure der Distinktionskultur atmen die Gleichgültigkeit der sich Auszeichnenden gegenüber dem, womit sie sich auszeichnen. Entscheidend ist für sie die Darstellung von Geschmack, Kennertum und legitimem Gebrauch in der Perspektive des Aufstiegs in einer Rangordnung.

Auf empirischer Ebene lässt sich der sozialontologische Unterschied freilich nur als Konstruktion zweier Idealtypen vertreten. Es ist damit zu rechnen, dass in den Erscheinungen, mit denen wir es zu tun haben, immer beide Handlungsimpulse am Werke sind. Ihr idealtypisch gedachter Gegensatz mag helfen, die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen abzuschätzen.

Repräsentationsmalerei scheint per definitionem der Distinktionskultur zuzugehören. Repräsentiert wird ein Geltungsanspruch gegenüber anderen Geltungsansprüchen. Ob aber Repräsentation darin aufgehen muss, lässt sich an dem Portrait des deutschen Kaufmanns Georg Gisze aus dem Jahre 1532 untersuchen. Der in London Lebende ließ sich dort von dem aus Augsburg stammenden Hans Holbein dem Jüngeren malen. Er holte sich einen berühmten Maler, und der Geholte investierte in das Bild seine Künste zur Steigerung seiner Marktgeltung. Die beiden Akte greifen in dem, was Bourdieu als Prestige heischenden Kulturkonsum zeichnet, ineinander. Und doch lässt den Betrachter das Gefühl nicht los, dass das nicht alles sei.

Das Portrait stellt eine ausgeprägt individuelle Persönlichkeit vor, doch diese erscheint nicht herausgelöst aus ihrer Tätigkeitswelt und Gesellschaft, nicht in der Form also, die man ›individuelle Abstraktion‹ nennen kann, sondern beruflich situiert und mit Requisiten versehen, die sie vielfach bezogen auf andere zeigen. Der Ort ist ein aus Brettern gezimmertes, relativ eng wirkendes Gelass, von dem nur die fensterlose Rückwand und ein Stück der rechten Seitenwand sichtbar sind. Die Wand ist spärlich mit zwei Querleisten und am oberen Bildrand mit zwei Regalbrettern bestückt. Hinter den Leisten stecken Briefe und Briefverschlüsse, an den Regalen, auf denen ein Buch und weitere Papiere liegen, hängen Feinwaage, zwei Sigelringe, Petschaft, Fadenspender und Schlüsselbund. Vor dieser Wand ist der Portraitierte postiert. Er steht oder sitzt hinter einer Art Tresen. Von diesem ragt nur die Tischplatte ins Bild, bedeckt mit einem Orientteppich.60 Darauf befindet sich eine venezianische Glasvase mit drei Nelken und Blütenzweigen von Goldlack, Rosmarin und Basilikum; daneben eine goldene Dosenuhr, ein Stempel, ein Sigelring, ein Satz weiterer Schreib- und Sigelutensilien und eine Schere. Den Abschluss bildet, gegen die rechte Seitenwand gelehnt, ein mit Lederriemen zusammengehaltenes voluminöses Konvolut, das als Kaufmannsbuch identifiziert zu werden pflegt61 und von einem dem Blick entzogenen, unterhalb der Tischhöhe angebrachten Seitenbord gestützt zu sein scheint.

In diesem gegenständlichen Ensemble präsentiert sich Georg Gisze, angetan mit schwarzem Samtbarett und schwarzem Umhang über einem rotschimmernden Hemd aus schwerer Seide mit weißem Besatz an der Brust und Spitzen an den Ärmelenden. An der Hüfte ragt, schwarz schimmernd, etwas ins Licht, das der Griff eines Degens sein könnte. In den Händen hält er einen Brief, den er gerade zu öffnen scheint. Den Kopf leicht nach rechts gedreht, scheint er dem Betrachter aus den Augenwinkeln direkt in die Augen zu blicken. Sein Gesichtsausdruck zeigt nichts von Imponiergehabe. Er scheint selbstbewusst, doch nicht selbstzufrieden, entspannt und doch wachsam, in sich ruhend und doch mit einem Anflug von Einsamkeit und Kälteerfahrung. Auf einem links über seinem Kopf mit Sigellack an die Wand gepinnten Zettel wird in einem etwas holprigen, auf Lateinisch abgefassten Distichon bekräftigt, dies sei in der Tat des vierunddreißigjährigen »Georgs Bildnis / Solch lebendige Augen und solche Wangen hat er«. Am linken Rand in Gesichtshöhe ist in feiner weißer Schrift der mit G. Gisze gezeichnete lateinische Spruch an die Wand geschrieben: Nulla sine merore voluptas – »Keine Lust ohne Kummer«, mit Anklang an Senecas viel blasseren stoischen Satz Nulla dies maerore caret – »Kein Tag ohne Kummer« (Troades).

Umgeben von Kaufmannssigeln seiner selbst und seiner Korrespondenten, sind weder Ware noch Geld in Sicht. Dass Gisze ›betucht‹ ist, verraten die teuren Tuche seiner Bekleidung, die goldenen Gegenstände, der Orientteppich und die Luxusvase. Nichts jedoch verrät, womit dieser Händler handelt. Wie er jedoch handelt und in welchem Medium, wird von allen Seiten bezeugt: Es ist das geschriebene Wort, die Korrespondenz, durch die hindurch er seine Geschäfte tätigt, was immer deren Gegenstand sein mag. Spielt das Handelsobjekt fürs Selbstbild dieses Händlers keine Rolle? Die Hauptrolle unter den Dingen, die diesen Menschen charakterisieren sollen, spielen die Briefe, die ihm aus anderen Weltgegenden seine Vernetztheit und seine Anerkennung spiegeln, gerahmt von den schreib- und versandtechnischen Hilfsmitteln.

Dieser Mann lässt sich repräsentieren im Sonntagsstaat, aber am Arbeitsort. Räumt man die paar goldenen Dinge in Gedanken zur Seite, zeigt sich ein Ort von plebejisch-handwerklicher Bescheidenheit. Von ihm hebt die kostbare Ausstattung des jungen Herrn sich ab, doch dieser Ort repräsentiert den werktäglichen Boden, auf dem der Sonntagsstaat sich erhebt und dem er sich verdankt. Nicht dass die Hinweise auf vornehme Verwandtschaft fehlten. Doch sie sind dezent angebracht. Man muss sie buchstäblich mit der Lupe suchen, und sie erschließen sich nur dem, der etwa weiß, dass der Bruder Bischof von Danzig ist. Religiöse Objekte sind nicht in Sicht. So drückt das Bild eine humanistische Haltung und ein diesseitiges, in Tätigkeit gründendes bürgerliches In-der-Welt-Sein aus. Dieser Kaufherr, der »Erszame / vorsichtige Jurge gysze / to lund in engelant«, wie einer der ausgestellten Briefe adressiert ist, scheint sich und seinesgleichen so selbstverständlich im Aufstieg zu erfahren, dass er bei aller Distinguiertheit, die nicht zu knapp repräsentiert ist, den geschichtlichen Tag für sich so einzurichten vermag, dass er die Distinktionskultur gleichsam mit links beherrscht und gleichwohl sich in seiner kulturellen Unterscheidung zuletzt selbst verwirklicht.

Drittes Kapitel
Materielle Kultur. Eine Problemskizze
1. Die geschichtsmaterialistische Herausforderung

Wie sich zeigen wird, ist der Begriff »materielle Kultur« nicht allein »mehrdeutig und nur vage bestimmt« (Hahn 2005, 9),62 sondern von Grund auf paradox. Dennoch ist dasjenige, was er anzielt, desto gehaltvoller, je unbefangener es die Provokation aufnimmt, mit der die jungen Marx und Engels einst auf dem vom Deutschen Idealismus geprägten Feld63 aufgetreten sind: »Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.« (DI, 3/21). »Materiell« meint hier ›stofflich-physisch‹ nicht im dinglichen Sinn, sondern im dynamischen Sinn des »Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur«, durch den die Arbeit als »Bildnerin von Gebrauchswerten« und damit »von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen«, das menschliche Leben »vermittelt«, wie es später im Kapital heißt (23/57). ›Stofflich‹ ist im Begriff des Stoffwechsels also eher ›physiologisch‹ im Sinne der notwendigen Lebensmittel (im weiten Sinn aller Mittel zum Leben) und ihrer tätigen Gewinnung aus Naturstoff zu verstehen. Das hier gemeinte ›Materielle‹ ist daher, weil es die Arbeit als produktiven Stoffwechsel prominent enthält, dem ›Mentalen‹ nicht nur nicht entgegengesetzt, sondern impliziert es als humanspezifische Notwendigkeit. Zudem wird Marx im Ansatz darauf achten, dass die imaginären und symbolischen Dimensionen in die zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse bestimmten Gebrauchswerte eingeschlossen sind: »Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z. B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache.« (23/49)

Die produktivistische Note, die jener rhetorische Eröffnungszug der beiden enthusiastischen Gründer eines »neuen Materialismus« (Marx, ThF 10, 3/7) trägt, wird von ihnen unverzüglich korrigiert im Sinne jener »ursprünglichen […] Verhältnisse«, die »vom Anbeginn der Geschichte an […] zugleich existiert haben und sich noch heute […] geltend machen«, die wir im vorhergehenden Kapitel behandelt haben. Neben der Güterproduktion und der durch sie bedingten Bedürfnisentwicklung fungieren hier gleich ursprünglich Familie, Sprache und Bewusstsein. Nach diesen Strukturmomenten menschlicher Existenz im Sinne einer allgemeinhistorischen Anthropologie64 werden nacheinander die auf jener Grundlage sich historisch in Arbeitsteilung, Klassenherrschaft und Staat ausfaltenden weiteren gesellschaftlichen Verhältnisse eingeführt. Wie wir gesehen haben, werden damit zugleich die Bildungsbedingungen von »›reiner‹ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc.« (31) in Gestalt der »Teilung der materiellen und geistigen Arbeit« (31) aufgewiesen, wobei Marx dem Recht einen eigenen Zusatz widmet (539).

 

Unter den Nachfolgern ist vor allem Antonio Gramsci an der Schwelle der 1930er Jahre dem Zusammenhang von Produktionsweise und Lebensweise in die Verästelungen der Alltagskultur und des Alltagsverstands, aber auch der Moral, Religion, Kunst, Philosophie nachgegangen. Das machte ihn zum postumen Inspirator der Kulturstudien am CCCS Birmingham. Für Stuart Hall, dessen langjährigen Leiter, waren »von einem bestimmten Moment an« die Fragen, denen er sich zuwenden wollte, »nur noch über einen Umweg über Gramsci zugänglich« (1990, AS 3, 40). Hall beschreibt seine Auseinandersetzung mit und um Marx angesichts der »Dinge, über die Marx nicht sprach oder die er nicht zu verstehen schien und die unsere bevorzugten Untersuchungsobjekte waren: Kultur, Ideologie, Sprache, das Symbolische« in Anspielung an Genesis 32 als ein »Ringen mit den Engeln« (1990, AS 3, 38f). Es war kein Eintritt in eine ›Theoriepartei‹, sondern eine höchst eigenständige Untersuchung des Kulturellen, allerdings »in Hörweite des Marxismus« (38).

Was nicht als Cultural Studies, sondern unter dem Namen »materielle Kultur« auftritt, ist ein breites und heterogenes Spektrum von Forschungsrichtungen. Es reicht von V. Gordon Childe, der als »notable exception« unter den westlichen Archäologen Kenntnis hatte von der »explicitly Marxist archaeology developed in the Soviet Union in the 1920s and 1930s« (McGuire 2008, 77) und selbst in den Bahnen des objektivistischen Marxismus jener Epoche dachte, bis hin zu Studien über Werbungs- und Warenkonsum, deren affirmativer Ansatz sie als Beiträge zur Markforschung durchgehen lassen könnte. Zwischen diesen Extremen finden sich entnannte und ihres kritischen Impulses beraubte Ausläufer des Marxismus, die mit Konzepten der Alltagsforschung, des Strukturalismus und anderer momentan einflussreicher Strömungen verschmolzen und dem Mainstream einverleibt worden sind.65

Nimmt man das Kriterium der jungen Marx und Engels im engsten Wortsinn, dem zufolge unsere Vorfahren aus dem Tier-Mensch-Übergangsfeld die Schwelle überschritten hätten, sobald sie anfingen, »ihre Lebensmittel zu produzieren«, ist es weniger als die halbe Wahrheit und muss präzisiert werden. Nicht die Lebensmittelproduktion bezeichnet den anthropogenetischen Ausgangspunkt. »Es ist innerhalb der anthropologischen Forschung unbezweifelt: Das zentrale Merkmal, das den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist seine Fähigkeit zur systematischen Werkzeugherstellung« (Holzkamp 1973, Schriften IV, 108). Animal laborans, homo faber, tool making animal – in solchen und ähnlichen Formeln hatte sich diese Einsicht schon lange vor Marx niedergeschlagen. Und doch waltet in den philosophischen Selbstauslegungen seit dem klassischen Altertum ein merkwürdiger Bann über der bei Hesiod noch hochgehaltenen anthropologischen Fundamentalbedingung produktiver Arbeit.66 Mitsamt ihrem Material, dem Naturstoff, und den namenlosen Arbeitenden fand sie sich in die niedrigen Regionen verwiesen oder mit Schweigen übergangen. Geschichte war die der Könige und anderer Großer Männer und Kultur die des Geistes und seiner Künste. Hier haken Bertolt Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters von 1935 ein:

Wer baute das siebentorige Theben?

In den Büchern stehen die Namen von Königen.

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?

Und das mehrmals zerstörte Babylon –

Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern

Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?

[…]

Der junge Alexander eroberte Indien.

Er allein?

Cäsar schlug die Gallier.

Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

Die Welt der Bauleute und des Kochs, des Wohnens und Essens und aller anderen, aber auch der einfachen Soldaten und ihrer Familien, ihre dingliche Ausstattung und die Weisen des Gebrauchs, den sie davon machten, die konkrete Wechselwirkung von Produktionsweise und Lebensweise – wird das und vieles mehr von dieser Art unter der Rubrik »materielle Kultur« verhandelt? Wie wird es verhandelt? Warum unter dieser Denomination? Was ist mit der ›nicht-materiellen Kultur‹, die der Name der ›materiellen‹ als sein sinngebendes Gegenteil stillschweigend mit sich führt und ohne die er seine differentia specifica verlöre? Zuerst vergewissern wir uns der Bedeutung unserer beiden Titelkomponenten, des Materiellen und des Kulturellen.

2. Kultur und Kulturen

Das lateinische Wort cultura leitet sich ebenso wie der cultus von colere her. Im gestaffelten Wortsinn von colere zeigt sich eine genetische Spur: der Primärsinn ist »bebauen« und »bestellen« (des Feldes); am bebauten Boden hängt die Siedlung und damit das Be/Wohnen; hieran das Pflegen und dessen Hochschätzung, die in der Verehrung gipfelt. »Kultur« leitet sich von der Agrikultur her. In der Tat basiert seit der neolithischen Revolution alle Kultur auf dieser. Mit ihrem Mehrprodukt erzeugt die Landwirtschaft ihren Gegensatz in Gestalt des Tempels und der Stadt, wo infrastrukturelle Maßnahmen geplant und geleitet und mit den abstrakteren Fähigkeiten und der Schrift die ideologischen Sanktionierungsformen der bestehenden Verhältnisse ausgebildet und gepflegt werden. Nicht zuletzt wird der militärische Zwangsapparat dort seinen Sitz nehmen. Die Stadt wird zum Ort des Staates. In der Stadt als dem Ort des Gewerbes und des Handels, des Kultes und der Künste, der Verwaltung und der Rechtsprechung bildet sich obendrein das Archiv des gesammelten und verallgemeinerten Wissens.

Die semantische Schichtung, die in den modernen westlichen Sprachen mit dem Wort ›Kultur‹ assoziiert ist, trägt noch immer die Spur dieses genetischen Zusammenhangs. Das semantische Feld hebt mit dem landwirtschaftlich-produktiven Sinn an, wird dann auf die cultura animi (Plutarch) übertragen und gipfelt in der geistigen Bildung. Das Wort bleibt, doch was es – zunächst metaphorisch, dann terminologisch – meint, ›Kultur‹, ist seit dem Altertum seinem Ursprung entfremdet. Der Sinn des lateinischen rusticus reicht von »ländlich« über »schlicht« und »bäurisch« bis zu »ungebildet«, und der Sinn der rusticitas von »Einfachheit« bis »Blödigkeit« (Heinischen 1954). Vom Standpunkt der höheren Kultur erscheint der ursprüngliche Cultivator par excellence, der Bauer, also nurmehr als der ›Unkultivierte‹. Darin drückt sich die Herrschaft der Stadt über das Land, der Kopfarbeit über die Handarbeit aus. Im Innern der Stadt und bald im ganzen Land repliziert sich dieses Verhältnis als Herrschaft über die manufakturelle Arbeit. Ihren geistigen Ausdruck schafft sich diese immer komplexer ausdifferenzierte Herrschaft im logozentrischen Weltbild. Das Materielle wird zu etwas Formlosem aber Formbaren degradiert. Die Form kommt von oben. Sie ist das Höhere, in letzter Instanz Göttliche.

In diese Höhenwelt geistiger Kultur bricht im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit rasch anschwellender Macht der marxistische Diskurs ein, dessen intellektueller Schärfe der Aufstieg der internationalen Arbeiterbewegung eine mitreißende Wucht verleiht. Danach ist nichts mehr wie zuvor. Die Tragödie des Staatssozialismus im 20. Jahrhundert beraubte den ›offiziellen‹ Marxismus nach dessen ›konstantinischer Wende‹ zunehmend seiner intellektuellen Substanz und kostete ihn seine Glaubwürdigkeit. Der Zusammenbruch der auf ihn sich berufenden europäischen Staaten bereitete ihm schließlich ein Ende. Das Denken der Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse ist seither wissenschaftlich auf sich gestellt.

Diese Geschichte muss mitbedacht werden, um die im Ganzen diffus wirkenden und manchmal auf halber Strecke verharrenden Forschungsansätze und theoretischen Konzepte zu verstehen, die sich unterm terminologischen Dach der ›materiellen Kultur‹ treffen. Den spätbürgerlichen Ausläufern der einst so stolzen Höhenwelt geistiger Kultur treten diese unter der Fahne der ›Materiellen Kultur‹ oft weniger entgegen als zur Seite. Der residuale Protest gegen das Diktat der geistigen Kultur, das der Begriff des Materiellen transportiert, lässt sich in Anlehnung an die grobe Formel übersetzen, die Brecht dem Gangsterboss Mac the Knife in den Mund gelegt hat: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«. Sie lautet dann: »Erst kommt die materielle, dann die spirituelle Kultur.« »Fressen« im Brecht-Zitat meint natürlich nicht nur das Essen, sondern ist eine Allegorie für die Aneignung des Ensembles der lebensnotwendigen Gegenstände der Bewohnung, des Gebrauchs und des Verbrauchs. Herbert Marcuse versteht unter materieller Kultur den Bereich der »Lebensnotwendigkeiten, […] Bequemlichkeit und Luxus« (Triebstruktur, 90).67 Von Produktion ist so weit noch nicht die Rede. Der Standpunkt, dem die konsumtiven Güter die materielle Kultur verkörpern, kann nicht der Standpunkt der Gesellschaft sein, die von der Produktion lebt, sondern allenfalls der eines Individuums, für dessen begrenzten Horizont die Aneignung jener Elemente des ›materiellen‹ Reichtums zum Zwecke des Konsums genügt.

Die Produktion drängt sich auf, richtet man den Blick auf die Gemeinschaft. Von ihr wird nichts bewohnt, gebraucht oder verbraucht, was sie nicht zuvor der Natur abgewonnen, menschlichen Bedürfnissen gemäß umgeformt, gebaut usw., kurz, produziert hätte. Das unterm Namen ›materielle Kultur‹ auftretende Erkenntnisprojekt findet sich vor der Frage, ob es sich der anthropologischen und zugleich gesellschaftlich brisanten Tiefendimension dieser Ausweitung stellt. Denn zweifellos fußt die für die Herstellung der zum Bewohnen, Gebrauchen und Verbrauchen erforderten Güter auf historisch akkumulierten Fähigkeiten der gesellschaftlich systematisierten Werkzeugherstellung mit den hierfür erforderten geistigen und sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten. In der Anthropogenese kommt daher der Werkzeugherstellung die Bedeutung der Schwelle zu, die vom Tier-Mensch-Übergangsfeld in die humanspezifische Daseinsform führt. Wir kommen darauf zurück.

In der Umgangssprache definieren »Kultur« und »Natur« einander, indem sie sich wechselseitig ausschließen. Dem reflektierteren Blick zeigt sich ›Natur‹ als Wort für die ›wilde‹ Grundlage des ›Kultivierten‹ einerseits, für die Umwelt einer Kulturwelt und deren Einwirkungen und Rückwirkungen auf die Menschenwelt andererseits. Die Tücken des Kulturbegriffs lassen sich erahnen in einem DDR-Lehrbuch, wo es von ihm heißt, er »widerspiegelt zunächst den qualitativen Unterschied aller gesellschaftlichen Erscheinungen von der Natur, vom Naturzustand und von Naturprozessen« (Kosing 1976, 703; vgl. Abschn. 7 des folgenden Kapitels). Diese Bestimmung verrät nichts vom Fundamentalstatus der Kultur für die menschliche Gattung. Sie gleicht dem Versuch des Emporkömmlings, seine Herkunft zu verdrängen. »Für eine Spinne«, sagt Brecht, »gehörte, wenn sie den gleichen Begriff der Natur verwendete, ihr Netz nicht zur Natur, wohl aber ein Gartenstuhl.« (GW 12, 517)

Im Unterschied zum DDR-Lehrbuch und etwa gleichzeitig mit dessen Erscheinen kommt Lawrence Krader ohne Umschweife zum Kern der Kultur. Er begreift sie »in ihrer Totalität [als] das Instrument, mit dem wir die Natur außer uns und in uns bearbeiten. Sie ist das Werkzeug für unsere Arbeiten, deren Feld ist das kulturelle Feld selbst.« (1976, 13) Krader trifft damit den für unsere Frage entscheidenden Punkt, dass die Kultur unsere eigene Natur bearbeitet und dass wir als in ihr humanisierte die außermenschliche Natur bearbeiten. In diesem produktiven und an der konkreten Lebenserhaltung orientierten Sinn gewinnt die Notiz von Peter Weiss ihren Sinn: »Die Kultur ist nicht der Überbau, sondern die Basis menschlicher Tätigkeit.« (1981, 645) Indes führt Kraders Metapher vom Werkzeugcharakter der Kultur in die Irre. Um unser Werkzeug zu sein, müsste die Kultur uns äußerlich sein. Kulturell konstituierte Subjekte, die wir sind, sind wir aber nicht Subjekte außerhalb ihrer. Mit der Kultur verhält es sich in dieser Hinsicht wie mit der Sprache. Wir verfügen über Worte und Wendungen, aber nicht über die Sprache als solche, da wir außerhalb ihrer nicht denken können.

 

Wenn die »Kulturanthropologie« (Krader 1976, 15) von der Kultur als solcher im generischen Singular spricht, meint sie diesen omnihistorischen, weil für Geschichte konstitutiven Sachverhalt. Wenn dagegen die Ethnologie von Kulturen im Plural spricht, will sie diese in ihrem je konkret-differenziellen Wie und den an diesem ablesbaren Präferenzen (»Werten«) voneinander unterscheiden. Die Kriterien der Unterscheidung liegen jedoch nicht fest, sondern können nach vielen Parametern spezifiziert und detailliert sowie anders konfiguriert werden. Daher läuft der Kulturbegriff in hunderten von Definitionsversuchen aus. »Jeder scheint nach Belieben mit diesem Wort ›Kultur‹ etwas anderes verbinden zu können«, und selbst auf dem engeren Feld materialistischer Kulturtheorie herrschte »eine babylonische Sprachverwirrung«, wie im Vorwort zu einem einschlägigen Tagungsband von 1980 gesagt werden konnte (Haug/Maase 1980, 4). Ohne Klärung des Verhältnisses der allgemeinen Bestimmungen zu den individuellen Abwandlungen ist der Verwirrung nicht zu entkommen. Zur Schlichtung der unübersehbaren Vielfalt möglicher kulturwissenschaftlicher Unterscheidungen werden wir am Schluss auf unsere Leitfrage der kulturellen Unterscheidung durch die kulturellen Subjekte selbst, die das Objekt der Kulturwissenschaftler bilden, zurückkommen.