Die kulturelle Unterscheidung

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5. Quellform der Kultur

Auch der theoretische Kulturbegriff ist nach dem bisher Entwickelten gehalten, bei der Elementar- und Keimform zu beginnen. Wir nennen sie vorläufig das Kulturelle Moment. Nach ihm fragend, interessieren wir uns für die Quellform der »Kultur«, so wie wir an anderer Stelle Keimform und Modus der Ideologie das Ideologische genannt haben.36 Das Ideologische entspringt der Herrschaft, die sich rückwirkend aus ihm begründet. Seine historische Grundlage ist die staatlich reproduzierte, arbeitsteilige Klassengesellschaft. Grob gesprochen fällt sie mit dem Beginn der geschriebenen Geschichte zusammen. Insgesamt umfasst sie nicht mehr als die jüngsten Minuten des geschichtlichen Tages der menschlichen Gattung. Von der Kultur dagegen müssen wir annehmen, dass ihre Elementarform auf derselben anthropologischen Basisebene entspringt, auf der diejenigen humanspezifischen »Seiten der sozialen Tätigkeit« angesiedelt sind, die »gleich von vornherein in die geschichtliche Entwicklung [eintreten]«. Marx und Engels, aus deren gemeinsamer Gründungsschrift der materialistischen Geschichtsauffassung diese Formulierung stammt, haben als solche »Seiten der ursprünglichen geschichtlichen Verhältnisse« fünf gleichursprüngliche Momente skizziert: 1. die »Produktion des materiellen Lebens selbst«, einschließlich der Lebensmittel; 2. die »Erzeugung neuer Bedürfnisse«; 3. die Familie, »im Anfange das einzige soziale Verhältnis«, später ein untergeordnetes;37 4. die Tatsache, »dass eine bestimmte Produktionsweise […] stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens […] vereinigt ist«; 5. Bewusstsein, aber »nicht von vornherein als ›reines‹ Bewusstsein«, sondern »mit Materie ›behaftet‹ […], die hier in der Form von […] Tönen, kurz der Sprache auftritt« (DI, 3/28-30). In den Gründungsschriften der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1973; Holzkamp-Osterkamp 1975 u. 1976; Schurig 1975 u. 1976) ist diese Skizze später, auf der Spur der Kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie, im Material der in den 1970er Jahren verfügbaren biologischen und psychologischen Forschungen präzisiert und wissenschaftlich konsolidiert worden.

In derselben, durch unsere körperliche Organisation bedingten gattungsspezifischen Freiheit von Festlegungen38 wie diese fünf provisorisch skizzierten weiterwirkenden ursprünglichen Momente des Menschseins entspringt nach unserer Annahme das Kulturelle. Auf zugleich offene und umfassende Weise sind wir einzig auf den geschichtlichen Produktionsprozess des menschlichen Wesens festgelegt, auf Basis sprachlich vermittelter gesellschaftlicher Arbeit.39 Wo Nahrungsgewinnung, die zur Gewinnung verlangten Werkzeuge, die Aufzucht der Kinder, die Art der Unterkunft und das Wie des Zusammenlebens weder instinktiv noch in der körperlichen Organausstattung festgelegt sind, steht jegliches Wie und Was zur Entscheidung und damit zur Unterscheidung an. Wie alles Instrumentelle als ›zweckmäßig‹ in Zielrichtung liegt, so ›spielt‹ überall ein Moment jener ersten und letzten Zweckmäßigkeit aller bloßen Mittel, eben des Selbstzweckhandelns mit, das wir als den Sinn der kulturellen Unterscheidung gefasst haben. Das Kulturelle in diesem ›mitspielenden‹ Sinn kann daher keine eigene »Seite« neben den fünf genannten sein, sondern muss als Moment in jedem der fünf Momente oder als mehr oder weniger hervortretender Aspekt aller anderen Seiten gedacht werden.40 Auf jeden Fall müssen wir das kulturelle Moment als gleichursprünglich mit dem Menschsein annehmen, auch wenn die kategoriale Institutionalisierung von ›Kultur‹ erst eine Spätgründung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist. Obwohl also seit Urzeiten in der Vorgeschichte der Kultur wirksam, ist das kulturelle Moment wie die anderen Grundbestimmungen dennoch nicht gewesene, sondern fortwesende Geschichte als ein allgegenwärtiges Moment menschlicher Lebenspraxis.

Durch seine ›Winzigkeit‹ und Flüchtigkeit im Vergleich zur überwältigenden Dominanz der geronnenen Verhältnisse und Gewohnheiten bleibt dieses kulturschöpferische Moment zumeist verborgen. In ihm erfindet sich die menschliche Gattung in jedem Individuum fortwährend neu, auch wenn nur das Wenigste davon ins Sozialerbe Eingang findet und damit Dauer gewinnt. In diesem flüchtigen Element ankert unsere Untersuchung. Selbst in entfremdeten Verhältnissen wirkt es und geht als Moment der Selbstbejahung in jenem Amalgam aus Verhältnissen und Verlangen nicht völlig auf. Es mag auf einen Differenzialwert schrumpfen. Solang es indes größer als Null ist, kann (und muss) man mit ihm rechnen, wie man mit der Glut in der Asche rechnet, um das Feuer der Tätigkeit erneut anzufachen. Auch wenn es im Moment der kulturellen Unterscheidung nur aufblitzt, also keine nennenswerte Ausdehnung auf der Zeitachse hat, verlangt das Kulturelle nach seiner eigenen Zeit. Sie zeichnet sich aus durch Langsamkeit und Wiederholung, wie die verleugnete Mutter aller Kultur, die Agrikultur, auf die wir im folgenden Kapitel zu sprechen kommen.41

Nach diesem Moment zu fragen heißt, die Keimform positiver Diskriminierung hervorzuheben. Diese entspringt dem zunächst spontanen Vorzugsverhalten42 und entspricht der Vorliebe, indes nicht der gewohnheitsmäßig geronnenen, sondern der Vorliebe im flüssigen Zustand. Diese hat das Angestrebte noch vor sich. Sie ist ebenso verwandt mit der Selbstliebe wie unterschieden von ihr. Denn auch das Selbst ist für sie noch nicht heraus. Sie west in dem von Ernst Bloch in die berühmte Formel gegossenen Sachverhalt: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« (1963, 11) Darin beruht die Nähe des Kulturellen zu dem, was bei Thomas Metscher noch einmal emphatisch als »menschliche Selbstproduktion« (2010, 49) gefasst ist und was, auf die Individuen bezogen, »Selbstverwirklichung« genannt zu werden pflegt. Und wie bei dieser ist die Kreuzung des Wer-Seins mit dem Wir-Sein der wunde Punkt. Denn das Selbst verwirklicht sich nur, indem es aus sich herausgeht. Anders findet es keine Wirklichkeit. Der Selbstzweck treibt über den aufs eigene Selbst beschränkten Zweck hinaus.43 Er muss nach Handlungsfähigkeit streben, und diese ist nur sozial zu verwirklichen. Antonio Gramsci erkennt daher in dem Verlangen, »Führer seiner selbst zu sein«, die keimförmige Zielstrebigkeit hin zu geschichtlicher Handlungsfähigkeit: Die spontan »bizarr zusammengesetzte« Mentalität erlangt die mögliche Kohärenz nur im Einklang mit anderen, also tendenziell in dem, was ihm als hegemoniefähiger Entwurf vorschwebt, in dem die Selbst- und Weltverhältnisse einer großen Anzahl von Menschen in Übereinstimmung gebracht sind.44 Das ›Hegemoniegesetz‹ des Politischen und das ›Sinngesetz‹ des Kulturellen greifen an dieser Nahtstelle ineinander.

Während Bourdieu mit dem Begriff der distinction die bürgerliche Geltungskonkurrenz analysiert, in der die Individuen sich selbst, die Sache instrumentalisierend, von anderen unterscheiden, interessieren wir uns dafür, wie sie in der Sache unterscheiden und womöglich die Anderen einbeziehen. Das mag wie ein feiner Unterschied aussehen und ist doch einer ums Ganze. Denn die Sache selbst, das sind die gegenständlich tätigen Menschen in ihrer geschichtlichen Selbstwerdung. Aus dieser Bewandtnis ist ein Begriff der kulturellen Praxis zu entwickeln, der geeignet ist, ihr ein Licht aufzustecken.

Von der Kultur das Kulturelle als ihr Vorgängiges zu unterscheiden, macht die ontisch-ontologische Differenz auf diesem Felde aus. Auf die Quelle zurückzugehen, aus der die Kultur entspringt, läuft nun freilich nicht auf eine retrograde Utopie jenes Typus hinaus, den Marx am Beispiel der Historischen Rechtsschule als das absurde Rezept verlacht hat, »dem Schiffer [anzumuten], nicht auf dem Strome, sondern auf seiner Quelle zu fahren«.45 Unser Rückgang auf den Quellpunkt der kulturellen Unterscheidung nimmt Anlauf zu einer kritischen Theorie des Kulturellen, indem es auf dessen konstituierende Macht im Verhältnis zur konstituierten Kultur abhebt und dem im Motto zu diesem Kapitel zitierten Streben des Peter Weiss nach einer »Kultur (Kunst), die uns ein Mittel sei, uns selbst gegenüber der Politik zu verwirklichen«, einen theoretischen Ausdruck gibt. Denn das Resultat des Übergangs von der kulturellen Unterscheidung zur Kultur, deren in vielen Schritten vollzogenem Gründungsprozess, ist eine sanktionierte Ordnung wie sie als »Politik« in der Notiz von Weiss auftaucht. Für sie gilt, was Freud von jeder Ordnung sagt: Sie »ist eine Art Wiederholungszwang, die durch einmalige Einrichtung entscheidet, wann, wo und wie etwas getan werden soll, sodass man in jedem gleichen Falle Zögern und Schwanken erspart« (Unbehagen, 224). Wie die elementaren Überlebensbedingungen schränkt auch sie die Wahlmöglichkeiten ein.46 Gegen sie bleibt Kants ethisches Kriterium virulent, dass sie die Form der Allgemeinheit anstreben muss, und Adornos Einspruch, dass diese Allgemeinheit, solange sie »unversöhnt ist mit dem Besonderen« (GS 8, 128), das Kulturelle an ihr erstickt. Kritische Kulturtheorie, die von der kulturellen Unterscheidung ausgeht, ist daher gehalten, eine Unterscheidung in Bezug auf das Machen von Unterschieden zu treffen. Ihr Begriff der kulturellen Unterscheidung wird auch diese nicht unkritisch aufnehmen. Dennoch, wissend um den Widerspruch, sucht sie die Kriterien, nach denen sie unterscheidet, immanent zu entwickeln. Sie setzt keine ›Werte‹ und dergleichen ideologische Größen voraus, um sie ans Material heranzutragen, sondern hellt als Manöverkritik des Daseins die von diesem vorgenommenen Wertungen auf.47 Dialektisch ist sie, indem sie das Gewordene im Flusse seiner Bewegung fasst und aus seinen inneren Gegensätzen auf die Tendenz seines Werdens schließt. Das macht sie zur Geburtshelferin emanzipatorischer Praxis.

 

6. Ambivalenz des Kulturellen

Stuart Hall, der die Kultur als »das Gebiet der Umwege, des Indirekten«, ja als Gründung des Imaginären48 ansieht, hält Distanz zum umweglos direkten, »sehr explosiven, keine Grenzen kennenden Wesen der Lust«;49 zumindest »als politische Kategorie ist Lust sehr irreführend« (2008, 485).50 Das Lustprinzip kann jeden Antagonismus durchqueren, kann alle, die es ins Visier nimmt, zu Objekten des Begehrens machen. Daher sieht Hall es zur Desartikulation der Politik tendieren, die von Gegensätzen lebt. Im Konsum von Produkten der Kulturindustrie mit ihrer oft »komplizierten Kombination aus Warenform und Erfahrungsrelevantem« bringt es einen dazu, mit letzterem die Warencharaktere zu schlucken. So muss zum Beispiel »die Trennlinie […] innerhalb der Popkultur51 selbst liegen«, und »um jene Unterscheidungen zu erkennen, die tatsächlich einen Unterschied machen, die Unterschiede wirklicher Erfahrungen sind, Unterschiede gelebter Geschichte«, muss man sich auf dieses Feld einlassen (486).

Wenn Lust und Genuss das gesellschaftlich-politisch Trennende hinter einem Gemeinsamen verschwinden lassen können, so ist erst recht die kulturelle Unterscheidung, deren Wurzeln keine ganz anderen sind, auf allen Seiten der gesellschaftlichen Antagonismen anzutreffen. Obwohl sie im anthropogenetischen und dann menschheitsgeschichtlichen Sinn weitertreibend wirkt, kann sie im Einzelfall ins Privat-Hedonistische oder auch Regressive gehen. Als Universalie menschlichen Daseins vermag sie alle Formen anzunehmen, doch immer entspringt ihr Ja der Selbstbejahung der Subjekte. Alle praktizieren sie ständig und auf ihre je eigene, durch Lebensumstände und -geschichte bedingte Weise, die Unterdrücker wie die Unterdrückten. Selbst »Kaufentscheidung ist (wenngleich oft nur marginal) immer auch kulturelle Unterscheidung« (KdW, 275).52 Man muss das Denken des Kulturellen zunächst weghalten von moralischen Wertungen und sozialer oder politischer Parteilichkeit. Gut für mich selbst heißt nicht ethisch gut. Die Ethik erweist sich im Verhältnis zum Anderen, wie Aristoteles, der sie als Teil der Politik begreift, es auf den Punkt gebracht hat.

Die Resultate der kulturellen Unterscheidung fixieren sich in Gewohnheiten und Institutionen. Dies machen die verschiedenen Ebenen und Formen antagonistischer Kommunikation53 sich zu Nutze. Das massenhaft Vorgezogene wird Legitimationsstoff und Konkurrenzmittel zugleich. In der Epoche der ästhetischen Gebrauchswert-Monopole in Gestalt der Markenartikel (KdW, 231ff) wird das Kultivieren konkurrierender Unterschiede zur Existenzbedingung fürs Kapital und ist »im Grunde nichts anderes als ein Aspekt des modernen Konsumismus« (Hall 2008, 486). In der resultierenden Kultur überlagern und durchdringen sich die Aktionen all dieser Mächte, Instanzen und Akteure. Kurz, nicht alles ist kulturell an der ›Kultur‹, diesem opaken, vielgesichtigen Gegenstand von Diskursen und Politiken. Alle Mächte mischen in ihr mit, nicht zuletzt die ökonomischen, politischen und ideologischen. »›Herrschende Kultur‹ mag kulturelle Bedeutung im hier definierten Sinn für eine herrschende Klasse haben, ideologische jedoch für die beherrschten Klassen oder Völker. Die kulturellen Blumen werden ständig von den ideologischen Mächten gepflückt und als ›unverwelkbare‹ Kunstblumen von oben nach unten zurückgereicht, eingebaut in die vertikale Struktur des Ideologischen. Umgekehrt können auch ideologische Phänomene von den Volksmassen ›profaniert‹, angeeignet und in ihren eigenen Kultur- und Identitätsprozessen assimiliert werden. Wie in solchen Fällen von kulturellen Effekten von Ideologischem gesprochen werden kann, so von ideologischen Effekten von Kulturellem, wenn dieses aufgrund seiner Attraktivität – sei es für die Massen, sei es für die Ideologen selbst – in eine ideologische Macht hineinwirkt und dort Veränderungen bewirkt. In der kapitalistischen Warenproduktion kompliziert eine dritte Instanz die Struktur des Alltagsbewusstseins: die Warenästhetik ruft kulturelle Effekte hervor, wenn sie das tätige Ausfüllen ihrer imaginären Räume um die Waren durch Konsumenten induziert. Andererseits fungiert sie als ideologieförmige Macht, die Glück und Befriedigung als oberste Attraktionen setzt und alle möglichen anderen Attraktionen und Kohäsivkräfte, auch ideologische, dem unterordnet und mit dem Erwerb und Konsum bestimmter Waren verknüpft.« (ETI, 53)

Den genetischen Prototyp ›herrschender Klasse‹ haben Marx und Engels in den patriarchalischen Geschlechterverhältnissen in Gestalt der Verfügung der Männer über Körper und Arbeitskraft ihrer Frauen und Kinder gesehen. Dass Freud den Hauptteil des »Unbehagens in der Kultur« den Frauen zuschreibt,54 zeigt ihn mitten in der Hellsichtigkeit blind für diesen Urgrund der patriarchalen Kultur. Blind dafür machte sich auch die UNESCO-Weltkonferenz über Kulturpolitik in Mexiko-City 1982, als sie in §2 festlegte, »die Behauptung der kulturellen Identität [trägt] zur Befreiung der Völker bei«, während sie gleichzeitig »jede Form von Dominanz« zur »Verleugnung oder Beeinträchtigung dieser Identität« erklärte, ohne die für die Frauen repressive Dominanz der Männer in den meisten dieser feierlich für unantastbar erklärten Kulturen zu erwähnen oder anders als implizit in Frage zu stellen.55

7. Valenzen des Schönen

Le paradis est toujours à refaire

Paul Valéry, »Narcisse parle«

Welcher Platz gebührt der Schönheit in unserer Skizze des Kulturellen? Ohne Zweifel gehört sie zum Erwählten des kulturellen Unterscheidens. Warum, ist leicht einzusehen. Alle Menschen streben nach Glück. Und das Schöne, sagt Nietzsche, einen Satz Stendhals aufnehmend, »verspricht das Glück« (KSA 5, 349). Wenn die kulturelle Unterscheidung dem Schönen den Vorzug gibt, so nicht dem antagonistisch eingesetzten Pandora-Schönen der Warenwelt, das sich den Betrugskünsten verdankt; sondern ihr steht der Sinn nach »Schönheit ohne Lüge« (Bloch, Materialismusproblem, GA 7, 408) als dem verkörperten »inhärenten Maß« aller Dinge (Marx, I.2/241).

Auf die Frage nach einer Erklärung dieses Vorrangs der Schönheit in Begriffen seiner Kulturtheorie bleibt Freud die Antwort schuldig.56 Marcuse dagegen, der ihm in den Grundaussagen zunächst folgt, versteht sie auf den Spuren der idealistischen Utopie einer Versöhnung zwischen Vernunft und Sinnen. Zwischen dem Triebverzicht, der der Not gehorcht, und dem gegen die Vernünftigkeit des Verzichts subversiven Lustverlangen soll die Schönheit vermitteln. Die Begriffe »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« und »Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz«, mit denen er sie fasst, entlehnt er, wie wir gesehen haben, Kants Kritik der Urteilskraft. Aus den Worten, in denen Adorno das Scheitern der darin enthaltenen Utopie einer nicht-unterdrückenden Kultur an der gesellschaftlichen Realität verzeichnen wird, spricht noch immer ihr Uneingelöstes: »Die unstillbare Sehnsucht angesichts des Schönen57, der Platon mit der Frische des Zum ersten Mal die Worte fand, ist die Sehnsucht nach der Erfüllung des Versprochenen. Es ist das Verdikt über die idealistische Philosophie der Kunst, dass sie die Formel von der promesse du bonheur nicht einzuholen vermochte.« (Ästh. Theorie, 128)

Am Schönen und der an dieses sich klammernden Lust trennen sich die Wege. Es kann einschlagen wie eine Bombe ins falsche bourgeoise Leben, an das man sich gewöhnt hatte. Dann ist es »nichts / als des Schrecklichen Anfang«,58 unvereinbar mit den Logiken der Macht, des Geldes, der Reputation. Es wird zerstört, wenn diese zu seiner Eroberung eingesetzt werden. Und es zerstört, die um seinetwillen diese Logiken missachten.

Oder es lassen am Verlangen nach Schönheit die Menschen sich tiefer in die zwanghafte Kultur ziehen, wo sie, wie Marcuse sagt, »als die Werkzeuge und Opfer ihres eigenen Lebens funktionieren«. Dabei wird »die verdrängende und unterdrückende Kraft des Realitätsprinzips […] erneuert und verjüngt« und »durch ›schöpferische‹ Identifizierungen und Sublimierungen gestärkt, die den Haushalt der Kultur bereichern und gleichzeitig schützen« (Triebstruktur, 93). Marcuse bestreitet nicht Freuds Annahme von der Triebversagung im Fundament der Kultur. Doch er geht davon aus, dass die Produktivitätsentwicklung den »Verbrauch an Energie und Anstrengung zur Entwicklung eigener Hemmungen […] sehr verringert hat« (93). Die wachsende Kluft zwischen dem objektiv Möglichen und der durch den mechanischen Selbstlauf der hinter der Entwicklung herhinkenden Kultur aufgezwungenen Praxis haben nach seiner den »Goldenen Jahren« des Fordismus entstammenden Diagnose die »Verbindungen zwischen dem Einzelnen und seiner Kultur […] gelockert« (ebd.).59

Die entfremdete Kultur ist die für uns unverfügbare, die über uns verfügt. Doch Kultur hängt von Bedingungen ab. Zuletzt hält nicht die Kultur die Menschen gefangen, sondern die Bedingungen halten das Bedingte, die Ökonomie hält die Kultur gefangen und vermittels dieser die Menschen selbst.

Das Menschenwerk, das sich gegen die Menschen verselbständigt hat und sich ihnen gegenüber auf die Hinterbeine stellt, ist nicht das Kulturelle an der ›Kultur‹, sondern entspringt den historischen »Formen, denen es auf der Stirn geschrieben steht, dass sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozess die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozess bemeistert«; sie gelten dem »bürgerlichen Bewusstsein für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst« (23/95f). Der Bann der entfremdeten Kultur verfügt, »die materiellen Produktionsbedingungen, die Bedingungen der Kultur als solche« (26.1/261) mit der Kultur selbst zu verwechseln. Das Gegenextrem, die Kultur für die Bedingung der Ökonomie zu halten, ist freilich nicht besser.

Brecht, Dichter der »Weltänderer«, holt die Perspektive zurück auf den Boden der Wirklichkeit. »Schön ist es, wenn man die Schwierigkeiten löst. Schön ist also ein Tun.« Und je nach Art der überwundenen Schwierigkeit ist dieses Tun »ganz verschieden schön und nicht ewig schön« (GA 21, 520; GW 20, 154). Schönheit ist nicht moralisch zu verstehen. In den Keunergeschichten bringt er sie mit Erfolg zusammen. »Herr K. sah eine Schauspielerin vorbeigehen und sagte: ›Sie ist schön.‹ Sein Begleiter sagte: ›Sie hat neulich Erfolg gehabt, weil sie schön ist.‹ Herr K. ärgerte sich und sagte: ›Sie ist schön, weil sie Erfolg gehabt hat.‹« (GW 12, 387) Die gleichsam vorkulturelle, ›animalische‹ Schönheit, deren Anziehungskraft er eine frühe Erzählung gewidmet hat, rückt bei dieser seiner ›kulturellen Unterscheidung‹ zwischen Schönheit und ›Schönheit‹ aus dem Bild. Auch wenn die Schönheit wie der Erfolg für ihn ein ›Werk‹ ist, wendet Brecht sich dagegen, die Kunst als »das Reich des Schönen zu bezeichnen«, und besteht darauf, sie als »ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit« zu respektieren, »welches weder verhüllte Moral, noch verschönertes Wissen allein ist, sondern eine selbständige, die verschiedenen Disziplinen widerspruchsvoll repräsentierende Disziplin.« (Messingkauf, GA 22.2, 755). Widerspruchsvolle Repräsentation – diese Formel wird uns bei der Analyse der Schicksale des Kulturellen weiterhelfen.