Eine Tote im Fluss

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Vorne, am Ufer der Eder, waren die Herren in Weiß im Einsatz. Rechtsmedizin und KTU in prominenter Besetzung. Doktor Julius Kölblin und Gerd Steiner. Alte und von Klaiser sehr gemochte Bekannte. Entsprechend herzlich fiel auch die Begrüßung aus. Soweit das unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich war.

„Wollen Sie‘s wirklich wagen?“ Der Kummer gewohnte Doc Kölblin war sich nicht ganz sicher, ob der Kriminalist den Anblick der Leiche so einfach wegstecken würde.

„Wieso? Ist es so schlimm? Der Kollege Lukas hat schon solche Andeutungen gemacht. Wo ist denn der überhaupt?“

„Der spricht vorne im VW-Bulli gerade mit den beiden Jungs, die die Leiche entdeckt haben“, antwortete Steiner. „Und ja, der Anblick ist grausam. Da muss ich dem Doc beipflichten. Ich glaub‘, der will Sie nur schützen.“

„Das ändert ja nichts. Ich muss mir ja ein Bild machen können. Von Leichen- und Tatortfotos allein halte ich nicht so besonders viel. Also bringen wir‘s hinter uns.“

„In Ordnung. Wie Sie wollen“, fügte sich Kölblin, öffnete den Reißverschluss am Leichensack von oben bis unten und legte dann mit einem Ruck den gesamten Leichnam der jungen Frau frei, der lediglich einen Slip trug.

Klaus Klaiser schrak zurück und schlug eine Hand vor den Mund. Entsetzt starrte er in den Leichensack und schüttelte nur den Kopf. Dann drehte er sich herum und holte tief Luft. „Wie ist denn so was möglich?“, stammelte er. „Wer zerstört denn, aus welchem Grund auch immer, derart einen so jungen Körper?“

Fassungslos wanderte Klaus im Kreis herum und versuchte, zu klarem Verstand zu kommen. Dann blieb er schließlich wieder vor dem Rechtsmediziner stehen und schaute ihn mit wässrigen Augen an. „Was genau hat man ihr angetan?“

Doc Kölblin zuckte mit den Schultern und schüttelte sein in Ehren ergrautes Haupt. „Was genau, das kann ich Ihnen natürlich erst nach der Obduktion sagen. Falls überhaupt.“

„Wieso?“, fragte Klaiser nach. „Dass ihr Gesicht völlig zerstört ist, das habe ich ja gesehen.“

„Ja, aber wodurch das geschah und ob das todesursächlich war, lässt sich aus dem Stand auf gar keinen Fall sagen. Außerdem weist ihr Körper mindestens zwei Einstiche auf und hat überall Risswunden.“

„Dann waren die beiden Stiche doch wohl eher tödlich, Herr Doktor.“

„So wie es aussieht, stimmt das bei einem auf alle Fälle. Der ging vermutlich direkt ins Herz. Wofür aber hat man dann ihr Gesicht derart zertrümmert?“

„Fragen Sie mich bitte was Leichteres.“

„Wenn ich mich recht erinnere, wurde uns im Studium erzählt, dass es wohl Stämme im tiefen Afrika gebe oder gegeben habe, bei denen es üblich war, ihre getöteten Feinde so zu verunstalten. Damit sie aus dem Jenseits nicht mehr auf die Lebenden blicken konnten. Andere Stämme haben den Getöteten wohl deshalb auch die Augen ausgestochen. “

„Hören Sie auf, hören Sie bitte auf“, wandte sich der Kripo-Chef vehement gegen die Ausführungen des Mediziners. „Sie haben ja ein Gemüt wie ein Schlachterhund. Das gibt es doch gar nicht.“

„Moment, Moment! Ich kann ja verstehen, dass bei Ihnen Kopf und Magen gleichzeitig rebellieren“, brachte sich der Medizinmann in Abwehrstellung. „Aber den Schuh, den Sie mir da hinhalten, ziehe ich mir nicht an. Ich habe lediglich mein Wissen zu der höchst seltenen Praktik des zerschmetterten Gesichts preisgegeben. Das könnte nämlich durchaus auch eine Botschaft sein.“

„Wie?“, versuchte Klaus wieder auf die Höhe der Diskussion zu kommen. „Wollen Sie damit etwa andeuten, dass der oder die Mörder aus einem dieser Länder oder Stämme kommen könnten und so eine besondere Form von Rache üben?“

„Das könnte man so sehen.“

„Ja, aber für was denn bitteschön?“

„Keine Ahnung. Das ist Ihre Sache, verehrter Herr Klaiser. Ich wollte nur helfen“, endete Doktor Kölblin leicht indigniert und wandte seinen Blick ab. „Kann ich den Leichensack jetzt wieder schließen lassen?“

„Ja, natürlich.“ Klaus hatte den Unterton sehr wohl verstanden und bemühte sich um Wiedergutmachung. „Verzeihen Sie bitte meine Reaktion. Das war zu viel auf einmal. Sie hatten von Anfang an recht. Entschuldigung.“

„Schon gut. Alles wieder in Ordnung“, lächelte ihn der Doc etwas schräg an. „Wissen Sie, vielleicht liegen Sie ja richtig mit diesem ‚Schlachterhund‘. In meinem Beruf muss man gelegentlich eine Schwarte haben, gegen die sich eine Elefantenhaut wie Pergament ausmacht. Kann sein, dass man dann auch verbal ein wenig zu weit hinausrudert. Kann sein …“, murmelte er mehr in sich hinein und versuchte, den weißen Anzug vom Leib zu bekommen, der ihm durch den Körperschweiß zur zweiten Haut geworden war.

„Kommen Sie, ich helfe Ihnen“, bot Klaiser an. Doch sein Funkgerät rührte sich plötzlich. Harry Senftleben von der Schutzpolizei meldete einen Fund am Ederufer.

„Ihr müsstet mal hier raufkommen und jemanden von der Spurensicherung mitbringen. Das ist vielleicht so sieben-, achthundert Meter von Euch entfernt auf der rechten Uferseite. Hier geht ‘n Wiesenweg vorbei, der am einfachsten vom hinteren Ende der Stedenhofstraße her erreichbar ist. Dann zweimal links. Wo die Eder fast direkt an den Wald heranführt, stehen wir.“

Klaus Klaiser informierte noch schnell Sven Lukas per Handy und wenige Minuten später waren er, Rüdiger Mertz und Gerd Steiner schon vor Ort. Der KTU-Mann hatte sie zweckmäßigerweise in seinem fahrenden Labor mitgenommen. So hatte er alles dabei, was er unter Umständen brauchen könnte. Zwei seiner Leute mühten sich nach wie vor in der Flachwasserzone am Fundort ab, bedeutsame Funde zu machen. Bisher waren sie leer ausgegangen.

„Grüß Dich, Harry“, streckte Klaiser dem Uniformierten die Hand entgegen. „Was habt Ihr?“

„Och, ‘ne ganze Menge, würde ich behaupten. Da vorne auf der kleinen Lichtung, Frauen-Sommerkleidung, ein Badelaken, einen Bikini und, wenn ich das hier richtig sehe, getrocknete DNA in Form von Sperma.“ Senftleben wies dabei auf eine Stelle auf dem Badetuch, die jeder der Betrachter ebenfalls sofort als vertrocknete Samenflüssigkeit ausmachte.

Nicht weit davon ein Papiertaschentuch, das womöglich einen ebensolchen Inhalt einschloss. Musste man zumindest vermuten. Denn es ließ sich nicht auseinanderfalten. Ein fast untrügliches Zeichen für ‚Männerpattex‘.

„Prima gemacht“, lobte der Kripomann. „Seid Ihr auch sicher, dass die Besitzerin nicht noch irgendwo hier im Wasser sitzt oder herumschwirrt?“

„Na, hör mal“, empörte sich der Polizeikommissar künstlich, „das Zeug bröckelt ja fast. Frisch sieht‘s hier sowieso nirgends aus. Und überhaupt – würdest Du als Frau splitternackt in der Gegend rumlaufen?“

„Er sicher nicht“, schaltete sich Steiner grinsend ein und ging auf die Knie, um das Badetuch näher zu betrachten. „Ich muss Ihnen recht geben“, sagt er nach einer Weile. „Das Sperma ist schon ein paar Tage alt. Das ist knochentrocken. Und riechen tut‘s auch nicht mehr.“

Die anderen schauten ihn kopfschüttelnd und mit gerümpfter Nase an.

„Aber Sie meinen schon, dass sich daraus eine DNA erlesen lässt.“

„Und was für eine“, lachte Steiner. „Vielleicht sogar zwei.“ Dann drehte er ab. „So, jetzt isses aber gut“, beendete er das Thema.

„Hat eigentlich jemand irgendwelche Papiere der Dame hier gefunden? Oder einen Schlüssel, oder etwas in der Richtung?“, wollte Klaus schließlich wissen.

Allgemeines Kopfschütteln. „Auch in Sachen Kampf- oder Blutspuren, oder Gewebeteilen ist die Antwort ‚niente‘.“ Harry Senftleben schwitzte aus sämtlichen Knopflöchern. „War ‘ne ganz schöne Tortur durch das ganze Gestrüpp da.

Und deswegen sind wir flussaufwärts auch noch nicht weiter gekommen. Da wird‘s übrigens noch unwegsamer“, wies er auf eine geschlossene Buschgruppe.

„Habt Ihr denn auch mal reingeschaut?“, wollte Mertz wissen.

„Nein! Sag‘ ich doch. Wir haben Euch erstmal über den Fund hier informiert und ‘ne Pause eingelegt. Guck Dir doch mal die Kollegen an“, echauffierte sich Senftleben und wies auf die schwitzenden Polizisten des Suchtrupps, die mit roten Köpfen teilweise an Baumstämmen lehnten.

„Och Mann ey, das hätte doch einer mal gerade machen können. Die Büsche hören ja nach 20 Metern sowieso auf.“

„Ja, ja, mecker‘ Du nur. Weißt Du, wie kaputt wir sind? Das Gestrüpp macht Dich kirre, Mann“, motzte Harry, während er sich vornüberbeugte und beide Hände auf die Knie stützte.

Aber da war Mertz bereits im Dickicht verschwunden. Er musste alle Kraft aufwenden, um halbwegs aufrecht gehend in das Gewirr von Ästen, Zweigen und Blättern einzudringen. ‚Ganz schön dunkel hier‘, dachte er, während er sich vorkam wie von Humboldt im Regenwald. Drei, vier Meter weiter öffnete sich eine kleine Lichtung.

Und dort wich er unweigerlich zurück. So, wie schon vor zwei Stunden, als er die Leiche der jungen blonden Frau zu Gesicht bekommen hatte. Vor seinen Augen schwirrten Tausende von Fliegen herum.

„Hier!“, brüllte er. „Hierher! Schnell! Schnell!“ Mertz‘ Puls raste, Schweiß brach aus jeder seiner Poren, rann an seinem Körper herunter und ließ in Sekundenbruchteilen sowohl sein Uniformhemd als auch seine Hose an der Haut festkleben. Ihm wurde kotzübel.

Während er sich wegdrehte und gegen sein Unwohlsein ankämpfte, wurde es laut hinter ihm. Gleich vier Leute bahnten sich einen Weg durch das Gestrüpp und blieben plötzlich wie angewurzelt stehen.

„Nein! Das gibt es doch nicht“, schrie Klaiser auf. Wer sind denn diese Dreckschweine, die so was machen?“

Auch den anderen stand pure Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben, als sie sahen, was Mertz entdeckt hatte. Eine riesige Blutlache und von dort aus blutige Schleifspuren hin zu dem Wiesenweg und rüber zum Fluss.

 

„Das … das sieht nach einem furchtbaren Gemetzel aus“, stellte Gerd Steiner nüchtern fest. „Verdammt, verdammt, verdammt! Das ist mit Sicherheit unser Tatort.“ Überall vertrocknete Blutspritzer und blutige Fußabdrücke. Selbst an zwei, drei Baumstämmen fanden sich die Abdrücke blutverschmierter Hände.

Nebenan im Busch röhrte es plötzlich. Rüdiger Mertz hatte seinen Magen nicht unter Kontrolle bekommen. Nur zu verständlich bei diesen Bildern.

„Leute“, rief Steiner. „Bitte keinen Schritt mehr weiter auf die Funde zugehen. Ich muss das alles fein säuberlich registrieren und fotografieren. Auch alle Fußspuren. Am besten macht ihr alle kehrt und geht den Weg zurück, den wir gekommen sind. Da ist eh alles zertrampelt.“

Die Leute folgten seiner Aufforderung nur zu gerne. Bis auf Klaus, der stehen geblieben war, um Fotos mit seinem Smartphone zu machen. Auch seine Innereien rebellierten. Aber er verbot es sich mit eisenharter Disziplin, hier noch in die Büsche zu kotzen. Wenngleich sich in seinem Mund seltsame Seen sauren Wassers sammelten. Er schluckte einfach dagegen an.

„Ach übrigens, Herr Klaiser, würden Sie bitte per Funk meine Leute hierher beordern und auch den Doc? Wir werden jetzt hier jede Menge zu tun bekommen.“

Im Hause Klinkert in der Stedenhofstraße hatten zwei Duschen parallel gegen all den Schweiß angekämpft, den sich Reinhard und Desiree während ihrer Reise vom Lago Maggiore bis nach Wittgenstein eingehandelt hatten. Und beide fühlten sich frisch und erholt, nachdem sie sich abfrottiert und ihr Haar in Ordnung gebracht hatten.

Die Klimaanlage tat ihr Übriges, um ihr Wohlbefinden noch zu steigern. Jetzt, wo die große Tür zum Garten hin geschlossen war. Sie konnte aber von außen durchaus geöffnet werden, falls das Liebespärchen irgendwann einmal ins Hausinnere zurückkehren sollte.

Und das würde hoffentlich bald sein. Denn die Eltern wollten ihrer einzigen Tochter noch gebührend gratulieren und ein wenig mit ihr feiern. Morgen musste schließlich wieder gearbeitet werden.

„Sag mal“, lachte Papa Klinker seine Frau an, „meinst Du nicht auch, dass die sich die beiden da draußen vielleicht doch ein wenig zu sehr verausgaben?“

„Weiß ich nicht“, lachte Desiree, „was ich gesehen habe, sah sehr entspannt aus. Sie war oben. Konnte nur ihren Rücken sehen.“

„Also, weißt Du“, mupfte er auf, „das musst Du einem Vater aber nicht so en Detail erzählen.“

„Wieso? Ist doch nichts Außergewöhnliches dran. Ich mag das so doch auch ganz gerne. Äh übrigens, wusstest Du, dass Hanna Marie sich ein Tattoo über dem Po hat stechen lassen? So knapp über Hosenbundhöhe.“

„Nee, wusste ich nicht.“ Ihr Mann schüttelte den Kopf. „Muss ganz frisch sein. Als wir am Mittwoch fuhren, hatte sie‘s auf jeden Fall noch nicht. Da lag sie nämlich mit Bikini im Garten bäuchlings auf der Liege und lernte. Das Teil wäre mir aufgefallen. Wie sieht das denn aus?“

„Na, wie so ein typisches … ‚Arschgeweih‘ nennen die Leute das, glaube ich.“

„Ich fass‘ es nicht. Wo bleibt denn das ästhetische Empfinden unserer …“ weiter kam er nicht. Denn er starrte auf die blonde junge Frau, die draußen barbusig auf die Schiebetür zukam. Mit raschen Schritten war er bei der Tür und zog sie auf. So heftig, dass die Frau erschrocken zurückwich.

„Was wollen Sie hier?“, rief er ihr entgegen.

„Sind Sie Gast unserer Tochter?“

Doch die Fremde schüttelte nur den Kopf.

„Ich … ich wollte nur …“, rief sie und machte kehrt.

„Halt! Hiergeblieben“, rief Reinhard der Flüchtenden mit dem Arschgeweih hinterher und legte einen kräftigen Sprint ein, um die Frau zu fassen zu bekommen. Doch die dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben.

Desiree war furchtbar erschrocken. Wie hatte sie sich nur so irren können? Wie konnte es passieren, dass sie diese Frau für ihre Tochter gehalten hatte? Sie hatte zwar die gleiche Figur und gleiches Haar. Aber … Kurz entschlossen rannte sie ins Arbeitszimmer, um die Polizei anzurufen.

Im Garten kam Reinhard Klinkert der Fremden schnell näher. Doch bei dem Bogen um die Thuja trieb die Fliehkraft Jäger wie Gejagte aus der Kurve. Mit dem Erfolg, dass es beide der Länge nach auf den Rasen haute. Nur war er schneller wieder auf den Beinen. Deshalb konnte er die Frau mit einem beherzten Sprung erwischen, bevor sie sich wieder ganz aufrichtete.

„Wie kommen Sie denn hier auf unser Grundstück, verdammt? Was machen Sie denn hier?“, fragte er, nach Luft hechelnd. Der Sprint hatte ihn Kraft gekostet. „Nun los, antworten Sie“, insistierte er weiter.

„Was wir hier machen?“, kam es von der anderen Seite der Hecke. „In aller Ruhe vögeln, Alter. Und jetzt werden wir erstmal duschen. Und, wenn Du uns einlädst, auch noch gesittet zu Abend essen. Danach werden wir mal sehen.“

„Was erlauben Sie sich?“, brüllte Klinkert dem Mann entgegen, den er gar nicht sehen konnte. „Was sollen denn diese Unverschämtheiten?“

„Kann ich Dir sagen, Alter. Mit solchen Unverschämtheiten verdienen wir unser Geld“, sprach der Unbekannte in aller Seelenruhe weiter und tauchte plötzlich hinter der Hecke auf. Mit einem Trommelrevolver in der rechten Hand, den er auf den Hausherrn richtete.

‚Oh Gott, ein Tarzan-Verschnitt‘, schoss es Reinhard ganz plötzlich durch den Kopf. Langes schwarzes Haar, sonnengebräunt, frisch eingeölt und scheinbar durchtrainiert. Allerdings mit nur kleineren Muskelpaketen.

Wie einer, der vor lauter Kraft nicht gehen kann, kam der Typ auf Klinkert zu und zielte mit der Waffe direkt auf sein Gesicht. „Irgendwas schiefgelaufen beim Italien-Urlaub? Schon überraschend, dass Ihr so früh wieder zu Hause seid. Sonst hätten wir Eure Hütte in aller Ruhe ausgeräumt und wären geräuschlos wieder verschwunden.“

„Wie – Urlaub in Italien. Woher wissen Sie das denn? Hat Ihnen das unsere Tochter erzählt? Wo ist die überhaupt?“

„Nein, das hat uns ihre Nachbarin erzählt, die uns heute Vormittag anquatschte. Die wollte wissen, was wir hier treiben. Da haben wir ihr erzählt, dass wir Hanna Marie an ihrem Geburtstag überraschen wollten.“

„Also kennen Sie unsere Tochter?“, fragte Reinhard nach.

„Nee. Aber sie hatte ja zum Glück den Perso an ihrer Badestelle liegen lassen.“

„Den was?“

„Den Perso, den Personalausweis, Du Knaller. Und den wird sie jetzt vermutlich dort auch noch suchen. Vergeblich, wie Du Dir denken kannst.

„Ja, aber …“

„Was aber?“

„Wo ist Hanna denn jetzt?“

„Keine Ahnung. Ist uns auch scheißegal. Wir hatten ja alles, was wir brauchten. Die Adresse und sogar ‘ne offene Terrassentür an Eurem Superbunker hier.“

„Und woher wissen Sie von dem Geburtstag?“

„Schon mal in so ‘n Ausweis reingeguckt? Da steht auch ein Geburtsdatum drin, Du Hirni! Scheint Euch hier recht gut zu gehen, was?“

„Hören Sie augenblicklich mit dem Geschwafel auf“, herrschte Klinkert den Aggressor an und ging samt der zappelnden Arschgeweihträgerin im linken Arm noch einen Schritt auf ihn zu. Was den dazu veranlasste, Reinhard die Waffe fast auf die Nase zu drücken.

„Oh, die kenne ich. Das ist ‘ne Röhm“, bemühte sich Klinkert um totale Lockerheit. „Reiner Schreckschussrevolver. Hab‘ ich auch – für Silvester.“ Völlig unerschrocken schaute er dem Versuchsrambo tief in die Augen.“

„Hä, Schreckschussrevolver?“, stieß der hervor und schaute sich die Waffe prüfend an. „Willste mich verarschen?“

In dem Moment stieß Reinhard die junge Frau weg und entwandt dem blöde dreinschauenden Typen mit stahlhartem Griff die Kanone. Indem er das Ding in dessen Hand so gegen den ‚Strich‘ und Richtung Boden drehte, dass die Finger zu knacken begannen. Beim letzten Knack löste sich ein Schuss. „WUMM“, Dreck spritzte unmittelbar neben seinem rechten Fuß auf.

„Oh, Scheiße, verguckt! Is‘ ja doch scharf.“ Noch immer gab sich der Hausherr betont lässig. Aber ihm sauste die Muffe 1:200.000. Doch der Coup war nun mal gelungen.

Lässig zielte er seinem Widersacher mit der Waffe auf den Bauch und befahl: „Umdrehen! Und ab zum Haus. Und Sie auch“, herrschte er die total verdutzte Frau an. „Aber dalli! Wie ich meine Frau kenne, wird die sich richtig freuen über Ihren Besuch.“

Und wie die sich ‚freute‘. Desiree stand drinnen, hinter der geschlossenen Glastür und starrte, das Telefon noch in der Hand, auf das Trio, das ihr da entgegenkam. Auf einen Wink ihres Mannes schob sie den schweren Glasflügel zur Seite und begab sich außer Reichweite der beiden Einbrecher.

Mit einem katzenhaften Satz war die immer noch halbnackte Frau bei ihr und wollte sie angreifen. Doch das büßte sie schneller als sie gucken konnte. Desiree hatte ihren Sprung nach vorn noch in der Luft mit einem wuchtigen Handkantenschlag seitlich auf den Hals jäh gebremst und sie kraftlos zusammenbrechen lassen.

„Taekwondo, schwarzer Gurt, zweiter Dan“, stellte ihr Mann nüchtern fest. „Ich würde Ihnen raten, sich nicht mit meiner Frau anzulegen. Mit mir übrigens auch nicht. Ich kann aber leider nur Karate.“ Der Schmalspurtarzan schluckte und schaute jetzt noch blöder aus der Wäsche.

„Ich hab‘ übrigens die Polizei schon angerufen. Die schicken so schnell wie möglich eine Streife, wurde mir versichert.“ Desiree Klinkert legte das Mobilteil des Telefons zur Seite und schaute mit einer Mischung aus Wut und Mitleid auf die Frau am Boden. Die kam langsam wieder zu sich und weinte, während sie mit einer Hand die Einschlagstelle an ihrem Hals massierte.

„Wo ist Hanna?“, fragte sie die mittlerweile erbärmlich Zitternde am Boden.

„Wo ist wer?“

„Unsere Tochter. Hanna! Wo ist sie?“, insistierte die Mutter mit Nachdruck.

„Keine Ahnung. Woher soll ich das denn wissen?“

„Woher?“, rief Desiree hysterisch. „Ja, aber wie kommen Sie denn in unser …“ – ‚Haus‘ wollte sie noch sagen. Doch ihr Mann unterbrach sie und packte dem Kumpanen, der sich gerade dem Griff seiner linken Hand entwinden wollte, mit rechts ziemlich brutal zwischen die Beine.

„Junge, wenn Du noch einen solchen Versuch machst, mach Dich auf was gefasst. Dann is‘ nix mehr mit ‚mal in aller Ruhe vögeln‘, wie draußen im Garten. Du bleibst jetzt hier stehen, bis die Polizei da ist. Und in der Zwischenzeit erklärst Du uns noch mal in aller Ruhe, warum Ihr hier seid und wie Ihr in den Besitz von Hannas Sachen kamt.“

Doktor Kölblin war gemeinsam mit dem ‚Freak‘ zur Fundstelle auf der kleinen Lichtung gekommen. Während der Doc noch ein Telefonat führte, gab der Kriminalbeamte seinem Chef schnell einen Bericht über die Befragungen. „Nichts brauchbares darunter“, erzählte er enttäuscht. „Keiner hat etwas gesehen. Bis auf die beiden Jungs, die die Tote gefunden haben. Zwei Brüder, neun und elf Jahre alt. Die sind total fertig und werden jetzt zu Hause vom Notfallseelsorger und einem Arzt betreut.

Die Eltern sind natürlich fast genauso schwer betroffen. Wer rechnet schon damit, dass seine Buben beim Spielen am Flussufer einen solchen Fund machen? Keine Ahnung, wie man das aus deren Köpfen wieder rausbekommt.“

„Das wird schwer“, nickte Klaus. Man sah ihm an, wie sehr auch ihn der Fall belastete. „Das ist so unerträglich, was wir hier haben. Ich …, ich kann es gar nicht beschreiben.“

„Ja, ich muss ganz ehrlich zugeben, dass ich mich da heute schon an meinen Grenzen gesehen habe“, nickte Lukas. „Und was Ihr hier im Wäldchen gefunden habt, muss die Unerträglichkeit ja nur noch steigern, sagen die Kollegen.“

„Da vorne auf der kleinen Lichtung muss sich Furchtbares abgespielt haben“, antwortete Klaiser. „Hier, guck Dir das an“, zeigte er Lukas das Display seines Smartphones, auf dem er im Zweisekundentakt Fotos durchlaufen ließ.“

„Oaaaaah, mach das weg, Chef. Bitte!“ Sven wandte sich ab und bekam einen Hustenanfall, während Doktor Kölblin um eine erneute Vorführung der Bilder bat. Tonlos bewegte er dabei seine Lippen. Der Mediziner verstand offenbar die Welt nicht mehr.

Genauso wenig wie jene Männer im weißen Ganzkörperkondom, die jetzt auf und um die Lichtung herum Schwerstarbeit leisteten. Teilweise auf allen vieren kriechend, suchten sie den Waldboden nach jeder noch so kleinen Spur ab. Stets darauf achtend, dass sie nicht irgendetwas übersehen oder gar durch Fußtritte zerstören würden.

Keiner von ihnen hielt seinen Blick länger auf den Blutlachen, die einen hässlich süßlichen Duft verbreiteten und offenbar eine Labsal für jede Art von Fluginsekten darstellten.

„Wir müssen die Fläche absperren und Proben nehmen an allen möglichen Stellen. Kann sein, dass da auch Blut eines Täters dabei ist. Das will ich haben“, hatte Steiner denn auch entschieden. „Bringt die Proben bitte schnell zum Doc raus, bevor der hier reinkommt. Wir brauchen nicht noch jemanden, der alles platt trampelt.“

 

„Hab‘ schon verstanden“, erscholl die sonore Stimme des Gerichtsmediziners durch das Gebüsch. „Danke fürs Einsammeln. Ich mach‘ mich dann, wenn nichts dagegen spricht, schon mal zurück ins Institut. Ich will möglichst schnell obduzieren und mich an einer Gesichtsrekonstruktion versuchen. Wir wollen ja schließlich wissen, wer die unglückselige Person ist.“

„Klar“, rief Gerd Steiner zurück. „Aber Sie werden sich noch einen Moment gedulden müssen. Hier geht noch ein Pfad in die Büsche, der, wenn ich mich nicht irre, auf dem Weg herauskommen müsste. Auch da liegt reichlich Blut. Kann da mal jemand von draußen ran und nachschauen, ob dort was zu finden ist?“

Rüdiger Mertz war mit wenigen Schritten an der vom KTU-Mann beschriebenen Stelle. „Sie haben recht“, rief er, „hier muss ebenfalls was ganz übles passiert sein!“

„Wieso?“ Steiner war hellhörig geworden.

„Weil hier nicht nur Blut im Gras und auf dem Boden zu finden ist. Hier gibt es offenbar auch Gewebefetzen. Aber das müssen Sie sich selbst anschauen. Ich glaube, das könnte auch interessant für Doktor Kölblin sein.“

„In Sachen Haut und Blut bin ich eh die Nummer eins“, rief es aus dem Busch. Kölblin hatte sich in Gang gesetzt.

„Aber lassen Sie mir noch ‘n Schluck übrig“, rief Steiner zur Vervollkommnung der makabren Inszenierung hinterher.

„Das ist deren besondere Art des Sarkasmus, den sie wohl pflegen müssen, um mit einer solchen Scheiße überhaupt fertig werden zu können“, entschuldigte Klaiser gegenüber Sven Lukas die lautstark geführten Gespräche der beiden Spezialisten.

„Ach, wir können noch ganz anders“, wandte Doktor Kölblin ein. „Aber mir ist hier wirklich nicht danach.“

Nachdem er, neben den Tüten aus dem Gebüsch, auch noch die mit der DNA vom vermeintlichen Liebesspiel übergeben bekommen hatte, verabschiedete sich Kölblin und ließ sich vom ‚Freak‘ wieder zurück zur Ederbrücke bringen. Dort warteten seine beiden Mitarbeiter bereits in dem Transporter, in dem sie auch gleich die sterblichen Überreste der jungen Frau mit nach Siegen nahmen.

„Hier ist die Polizei. Sie hatten uns gerufen.“ Die Meldung einer netten Frauenstimme kam aus der Haussprechanlage, an der sich Desiree Klinkert auf Klingeln gemeldet hatte. Mit dem Summer öffnete sie die Haustür und ging dann selbst zur Tür zum Vorraum, um die Beamten einzulassen.

„Oh, das ging ja dann doch ganz schön flott“, sagte sie und bat die Uniformierte und deren Kollegen ins Haus.

„Guten Abend. Ich bin Oberkommissarin Sarah Renner. Und das ist mein Kollege, Oberkommissar Jens Höver“, stellte sie den zweiten Beamten vor.

„Wir sind vom Revier Bad Laasphe und von den Berleburger Kollegen um Hilfe gebeten worden. Für die gibt es augenblicklich sehr viel zu tun. Was ist denn passiert?“

„Kommen Sie erst mal mit durch, bitte. Dann werden Sie selbst sehen, was hier los ist.“ Desiree führte die beiden Polizisten um die Kaminecke, wo sie von Reinhard Klinkert mit ‚Tarzan‘ im Schraubstockgriff und der ‚falschen Hanna‘ auf dem Fußboden begrüßt wurden. Die junge Frau trug inzwischen ein T-Shirt, das ihr die Dame des Hauses aus eigenen Beständen gegeben hatte.

Als Jens Höver die Waffe auf dem Tisch liegen sah, verfinsterte sich seine Miene. „Wem gehört die?“, fragte er scharf, bevor überhaupt ein anderes Wort gesprochen worden war.

„Ihm“, antwortete Klinkert und drehte ein wenig an der Armschraube.

„Warum haben Sie eine Waffe dabei?“, wollte der Beamte wissen. „Lassen Sie ihn bitte mal los. Der haut uns nicht ab“, bat er beiläufig.

„Warum, warum …“, äffte der Einbrecher nach. „Warum hat man eine Kanone? Zum Selbstschutz natürlich. Hätte ich vorhin gut gebrauchen können. Der Typ hier hat auf mich geschossen.“

„Ist das wahr?“

„Blödsinn! Ich habe nicht auf ihn geschossen. Der Schuss hat sich gelöst, als ich ihm die Waffe abringen wollte. Niemand wurde getroffen. Das Geschoss steckt draußen im Rasen.“

„Abringen. Interessant“, meinte Höver, während der mit spitzen Fingern den Revolver aufnahm und an der Mündung schnupperte. „Wie lief das denn ab? Oder warten Sie“, wehrte er mit erhobenen Händen ab. „Das wird alles später kommen. Jetzt prüfen wir erst einmal Ihrer aller Identität. Können wir mal Ihre Personalausweise oder Reisepässe sehen?“

Desiree holte ihren und den Pass ihres Mannes aus dem kleinen Büro. Die beiden Eindringlinge konnten oder wollten mit derlei nicht aufwarten.

„Wie, keine Personalpapiere dabei?“, fragte Sarah Renner, immer noch sehr freundlich. Schulterzucken bei den Angesprochenen.

„Vielleicht sollten Sie mal nach deren Klamotten schauen. Die liegen, glaube ich, noch immer draußen hinter der Thuja-Hecke“, meinte Frau Klinkert. „Da haben wir die beiden auch entdeckt, als wir aus Italien zurückkamen.“

„Ja, ich hol‘ sie Ihnen“, rief ‚Tarzan light‘ und wollte schon nach draußen enteilen. Aber da hatte er die Rechnung ohne Sarah Renner gemacht. Die stellte sich kurzerhand in dessen Laufweg und brachte blitzschnell seine rechte Hand in eine außergewöhnlich schmerzhafte Haltung für deren Besitzer. „Wenn, dann gehen wir gemeinsam“, sagte sie. Und das duldete keinen Widerspruch.

„Lass mich doch in Ruhe, Du dumme Fo…!“ Sarah Renner wurde ernst.

„Wie bitte?“, brüllte ihr Kollege den Typen an. „Wir wollen doch hier höflich bleiben. Klar!? Sie hätten zumindest allen Grund dazu.“

„Was willst Du Arschloch denn? Du kannst uns gar nix.“

„Na, schon allein das A-Wort reicht für eine Beamtenbeleidigung. Und Ihr aggressives Verhalten gefällt mir überhaupt nicht.“ Mit einem Griff auf den Rücken hatte er Handschellen von seinem Gürtel geholt und zunächst an dem Arm festgemacht, den die Kollegin so sehr unter Spannung gehalten hatte. Dann kam der nächste dran. „Fertig. Setzen“, befahl Höver.

„Wir haben nix gemacht. Außer ‘nem kleinen Nümmerchen da draußen im Garten.“

„Jetzt nehmen Sie sich mal zusammen! Hier sind schließlich drei Frauen mit im Raum“, motzte der Polizist.

„Wieso? Meinste, die wüssten nicht, was ‘n Nümmerchen ist. Ohne die Weiber ginge das alles ja gar nicht“, griente der Typ, der trotz der Klemme, in der er saß, seine große Klappe einfach nicht halten konnte.

„Setzen!“, wiederholte der Beamte.

Und endlich folgte das Großmaul. Mit den Händen auf dem Rücken. Höver setzte sich daneben, um Notizen machen zu können. Reinhard stellte allen ein Glas Mineralwasser hin.

Auch den ungebetenen Gästen. Derweil war Sarah Renner mit Desiree Klinkert zusammen nach draußen gegangen, um nach den Sachen der Eindringlinge zu sehen.

„Dort vorne habe ich sie entdeckt. Sie hatten Sex. Und ich dachte zunächst, das sei Hanna, unsere Tochter. Wollte natürlich nicht stören und bin gemeinsam mit meinem Mann wieder ins Haus gegangen.“

„Das ist ja nicht zu fassen“, war die Polizistin baff. „Ist das wirklich wahr? Die machen einfach auf fremdem Gelände miteinander rum, wo sie nicht hingehören und wo sie niemand reingelassen hat?“

„Genau so ist es. Die sind ganz offensichtlich durch die Terrassentür rein, die Hanna nur leicht zugezogen hatte, als sie fortging. Ich hab‘ ihr tausendmal gesagt, dass das nicht geht. Aber für sie war‘s praktisch und sie meinte immer, dass hier in dem ‚Kaff‘ sowieso keiner einbrechen würde.“

„Aber wie sollen sie denn an die Adresse rangekommen sein?“

„Angeblich haben sie die an der Badestelle unserer Tochter an der Eder gefunden. Behaupten sie zumindest. Da hätten Hannas Papiere gelegen.“

„Und daher kannten sie wohl auch Ihre Adresse.“

„Genau. Das haben sie uns sogar brühwarm erzählt. Nachdem sie hier eingebrochen waren, haben sie alles fein säuberlich auf dem Tisch im Wohnzimmer deponiert.“