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Aus der Reihe: Zu Wasser und zu Lande #2
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HEJ LÜCHT

Vier Doppelschläge von der Schiffsglocke auf der Brücke zeigen acht Glasen an. Also 12 Uhr Mittag. Wachwechsel. Die neue Wache hat schon um halb zwölf gegessen, und löst gerade die alte ab. Wir lassen die Arbeit fallen und schauen uns das an beiden Seiten vorbeiziehende Land an. Niemand kann uns im Moment anmachen, es ist ja Mittagspause. Dann gehen wir nach achtern in die Messe essen. Inge, der wie die anderen seine zweite Reise macht, hat es vorgezogen, Backschaft zu machen. Er hat voll zu tun, das Essen von der Kombüse mittschiffs zur Messe achtern zu schaffen. Wie wird das erst auf See werden, wenn es noch schaukelt?


Die Back

Nach dem Essen klaren wir weiter das Deck auf. Geien und Preventer (in der Länge regelbare Stahlseile, die mit den Geien die seitliche Verankerung der Ladebäume darstellen) aufschießen. So vergeht der Nachmittag, während wir von der Strömung und der Maschine stetig elbabwärts bewegt werden. Cuxhaven und Brunsbüttel ziehen vorbei, weite, flache Wiesen unter einer glitzernden Reifschicht, hier und da eine Industrieanlage. Feuerschiff Elbe 1 kommt in Sicht. Rot liegt es im leicht bewegten Wasser. Der Himmel hat sich inzwischen aufgeklart.

Erneuter Lotsenwechsel. Ein kleines, mit einem klappbaren Spritzverdeck, ähnlich dem eines Kinderwagens versehenes gelbes Boot löst sich vom Lotsenschiff und hüpft zu uns heran. Als es nahe genug ist, wendet es, um parallel zu uns mit gleicher Geschwindigkeit zu fahren. Der Abstand verringert sich. Als es neben der ausgebrachten Leiter angekommen ist, tritt der Lotse hinter dem Klappverdeck heraus. Ein schneller, prüfender Blick, und schon steht er auf den Sprossen und hangelt sich hoch. Sogleich dreht das Boot ab, um in geringer Entfernung neben uns herzufahren. Ein Offizier und Schmidchen, der gerade Wache hat, stehen neben der Treppe an Deck, dort, wo die Leiter befestigt ist. Schmidchen hält das Geländer der Treppe fest, um sie zu sichern (und nach unserer Devise, immer etwas in der Hand zu haben, damit man uns nicht des Nichtstuns bezichtigen kann). Der Offizier reicht dem Lotsen, als dieser auf Schanddeckelhöhe angekommen ist, die Hand, und hilft ihm an Deck zu steigen. Haben die Offiziere die gleiche Devise wie wir? Beide eilen nach Mittschiffs zur Brücke hoch. Kurz darauf kommt der Flusslotse herunter, das Lotsenboot kommt wieder längsseits, er springt hinein, unterstützt von einem der zwei Besatzungsmitglieder des Bootes. Ein letzter Blick zum Schiff, die Hand grüßend an den Mützenrand gelegt. Der Mann am Ruder legt die Pinne um, und schnell entfernt sich das Boot. Der Maschinenrhythmus beschleunigt sich. Ich schaue auf meine Uhr und zähle mit. 95 Touren. Wir sind auf Höchstdrehzahl, also voller Fahrt!

Um mich nichts als Wasser. Das Land hat sich kleingemacht. Ich bin auf dem Meer! Ein paar Seehunde, exotische Lebewesen für einen Bayern, tummeln sich nicht weit entfernt auf einer kleinen Sandbank. Als sie mich bemerken, wedeln sie mit dem Schwanz. Einer kratzt sich mit der Flosse hinterm Ohr. Nein, er winkt mir, fast scheint es, er schwenkt den Zeigefinger. „Hei lücht“, sagt er, „das hier ist nur das Wattenmeer!“ Dann der Leuchtturm Roter Sand. Dort schwenken wir nach Süden, weseraufwärts in Richtung Bremen. Viele der Ortsnamen, an denen wir vorbeifahren, sind mir bekannt. Seit Jahren, seit ich mein erstes Radio hatte, einen uralten Röhrenempfänger, der nach Bakelit und heißem Staub roch, je länger er an war. Mein Vater wusste nichts davon, kannte ich doch seine Sprüche: „Hab ich früher nicht gehabt, also brauchst Du's auch nicht.“ Auf diesem Radio holte ich die große weite Welt in mein kleines Zimmer. Während mein Bruder „Junge, komm bald wieder“ und „Mit siebzehn hat man noch Träume“ oder „Heimweh“ anhörte, lauschte ich Radio Moskau, Peking und Sydney. Am interessantesten war die Kurzwelle, weil die am weitesten reichte. Zwischen dem Zwitschern von Störsendern suchte ich nach noch nicht gehörten Frequenzen, ob ich diese nun verstand oder nicht. Dabei stieß ich auf Pegelstandsmeldungen an der Nordseeküste. Namen wie Neuharlinger Siel, Mellum, Roter Sand erklangen da mit Ziffern hinten an, Tendenz fallend oder steigend. Das war für meine Kinderohren ebenso exotisch wie die endlosen Ave Maria, Gratia Plena, von Radio Vatikan oder die heulenden Gitarrenaloahes von Radio Honolulu. Natürlich versuchte ich auch, wie meine Freunde, den Polizeifunk zu empfangen. Aber was da gesprochen wurde, war mir zu nah. Da hörte ich lieber die Morsesignale russischer Spione oder sinkender Schiffe und schlief dabei ein.

Ja, unser Bootsmann hat uns wieder entdeckt. Es fängt an, dunkel zu werden, und bevor wir auf der Weser sind, müssen wir schnell noch den ganzen Schiet (Abfall) über Bord schmeißen. Jetzt bemerke ich, dass sowohl auf dem Vorschiff als auch achtern ein Ladebaum aufgetoppt geblieben ist. Mit ihnen hieven wir, natürlich mit einem Matrosen an der Winde, die Brooks (Netze) mit all dem Dreck aus den Luken und den Baumrinden außenbords. Eine Brook hat ein Auge (Schlaufe) an jedem Eck. Zwei davon binden wir mit einem Kardeel (Bestandteil eines Seils) zusammen und hängen das und die anderen Augen an den Haken des Windenläufers. Unser Matrose wartet nur darauf, um mit einer theatralischen Geste und wichtiger Mine die Winde in Gang zu setzen und das Dreckpaket hochzuhieven. Erreicht dieses Schanddeckelhöhe, schieben wir es außenbords. Der Matrose fiert (senkt) das Ganze etwas ab und wir dürfen mit unserem Takelmesser das Kardeel kappen. In einer riesigen Staubwolke verschwindet der Inhalt im Wasser. Soviel also zur Entstehung des Wattenmeeres.


Achterschiff

KLAR VORN UND ACHTERN

Dunkle Nacht. Nur Seezeichen zeigen an, wo der Fluss ist. Im Vertrauen auf den Lotsen und den Rudergänger setzen wir uns ab, um eine Mütze voll Schlaf zu nehmen. Irgendwann in der Nacht, mir ist, als hätte ich noch gar nicht geschlafen, knallt die Tür auf, das Licht geht an, „Hoch die Ärsche, Hand vom Sack weg! In einer halben Stunde klar vorn und achtern!“ Der Wecker lässt die Tür offen, die sich langsam hin- und herbewegt. Schmidchen knallt sie mit einem gezielten Fußtritt wieder ins Schloss. Das, was in der Seemannschule nur Bestrafung für nicht respektierte Nachtruhe war, uns um 2 Uhr antreten zu lassen, ist jetzt Wirklichkeit geworden! Ich schließe nochmal für eine Minute die Augen. „He! Los! Raus!“ Schmidchen schüttelt mich heftig. War ich wieder eingeschlafen gewesen? Unser Wecker schaut wieder rein. „Ah, ihr seid schon auf. In 10 Minuten klar vorn und achtern!“

Unsere Kammer rüttelte im Rhythmus der Schraube. Im Bordje (Regal) klirren die leeren Gläser mit den Flaschen um die Wette. Die Rudermaschine jault, die Luft riecht leicht ölig. Wir fahren die Weser aufwärts, und die ist nicht sehr gerade gebaut. Wenigstens hat sie keine Schlaglöcher wie das Meer. Rin in die Klamotten. Kurz durch den Waschraum. Alles geht auf unserem Dampfer auf Knopfdruck. Der Wasserhahn spuckt einen dünnen Pipistrahl laues Wasser aus, der schon wieder versiegt ist, ehe man die Hände am Gesicht hat. Ich verstehe: Süßwasser muss gespart werden. Darum gibt es auch keine Badewannen, sondern nur Duschen, deren staubiger Strahl rechtzeitig zum Einseifen wieder versiegt. Nach drei Faustschlägen auf den armen Wasserhahn ist die Seife dann weg. Nur der Kapitän hätte eine Badewanne. Aber nach der ersten Biskaya-Durchquerung zweifle ich daran. Auch zweifle ich daran, dass der Kapitän sonntags im Salon eine Messe abhält. „Brauchst ja nur hinzugehen, um 10 Uhr!“ Ich gehe lieber nicht hin. Ich bin sicher, die wollen mich nur auf den Arm nehmen, wie so oft. Jemand gibt dir die Order, zum Kabelgattsede zu gehen um den Schaumbesen zu holen. Dort angekommen erwartet dich die ganze Meute, grölend vor Lachen...

Doch vorerst in der Messe schnell einen Tee. Schon kommt die Order: „Klar vorn und achtern!“ Wir stürzen hinaus. Das Achterschiff ist schwach beleuchtet, im Gegensatz zum Vorschiff, wo aus Gründen der Sicht von der Brücke im Dunkeln gearbeitet wird. Zum Glück ist das Deck nicht vereist, wohl aber die Festmacher, die leise knistern, als wir sie ausfieren. Ringsherum an Land Lichter. Ein Hafen schläft nie. Neben uns schweben zwei Schlepper in der Dunkelheit. Man ahnt sie, sehen tut man nur die Positionslichter. Das Festmachen der Schlepper und das restliche Manöver ist fast schon Routine geworden. Wichtig ist: Nie die Hände in den Taschen und immer hinten anstellen beim Zulangen! Als das Schiff gut vertäut ist, kommen alle achtern in der Messe zusammen. Der Backschafter hat als heiligste Pflicht, immer heißen Kaffee bereit zu haben. Sonst geht’s rund! Um von den Vollgraden geschätzt zu werden, muss man ihnen ihr Getränk schon hinstellen, bevor sie es geordert haben. Dann bedanken sie sich mit einem „Der ist aber nicht besonders heute.“ Sonst sagen sie gar nichts. „Immer eine Prise Salz in den Filter!“, belehrt jemand den Backschafter. Rudi Zimmermann, der Gefechtsrudergänger, der gerade von der Brücke herunterkommt, hört das. Wie immer, wenn er etwas Wichtiges mitzuteilen hat, hebt er den Zeigefinger und sagt: „Auch in den Kakao immer einen Löffel Salz! Schreibt euch das hinter eure schmalzigen Ohren, ihr Ratten!“ „Ist das nicht des Zimmermanns Sohn?“, feixt Fiete von seinem Stammplatz in der Ecke der Messe. „Kommst wohl gerade aus der Koje? Hast zu lang am Bändsel gezogen? Wir haben dich den ganzen Abend nicht gesehen!“ Die ganze Meute bricht in Lachen aus. Nur wir Mosesse sind nicht sicher, ob wir mitlachen dürfen. Auch beschäftigt uns die Frage, ob nun wirklich Salz in den Kakao gehört oder ob das wieder so eine Verarschung ist. „Schweig, du impotentes Meerschwein! Wäre ich nicht am Ruder gewesen, könntest du heute Abend nicht am Waller-Ring 'ne Nummer schieben gehen!“, antwortet Rudi, mit künstlich empörter Stimme.

 

„Moin Moin, will nicht stören“. Der Erste Offizier tritt ein. Er wendet sich an den Bootsmann: „Bäume auftoppen an Luke 3 und 5, Sonnenstrahler (Scheinwerfer) anbringen! Abends 18 Uhr Auslaufen. Kein Landgang!“ Fiete entrüstet sich: „Ich muss aber an Land. Hab hier 'ne Oma, die liegt flach, muss ich dringend besuchen!“ „Wie alt ist sie denn, deine Oma?“ „Dat weiß ich nicht so genau. Vielleicht 30.“ Alles grölt. „Na dann such dir noch 'ne zweite, dann stimmt das Alter wenigstens.“ Im Schlepptau eines anderen Kadetten gehe ich zum Deckshaus von Luke 2. Darin liegen auf weggeschossenem Tauwerk mehrere fast 60 Zentimeter breite Scheinwerfer. Ich versuche, einen durch den Niedergang hinab in den Laderaum zu schaffen. Zu eng. „Das machen wir anders: Du steigst hinunter, und ich lasse sie von oben in die Luke hinab.“ Ich zwänge mich in den engen Schacht und hangele mich an der senkrechten Leiter ins fast dunkle Zwischendeck. So langsam beginne ich die Anatomie des Schiffsbauches zu begreifen. Die Zwischendecksluke war offen geblieben. Nur nicht zu nahe ran, denn der Unterraumboden ist wohl 10 Meter tiefer. „Geh auf die vom Kai abgewandte Seite!“

Er lässt die Lampe am Kabel herab. Das Bändsel, mit dem der Scheinwerfer befestigt wird, hat er mit einem Stopper-Stek am Kabel befestigt, damit dieses nicht aus der Lampe gerissen wird. Muss ich mir merken! „So, nun befestig das Ganze an einem der Augen und hänge alles nach unten.“ Oben stecken wir die Stecker in die 110 Volt Gleichstromdosen und schrauben sie fest. Es wird taghell in der Luke. „Verdammt! Da ist noch eine Brook mit Dreck drin. Die muss der Meister (Kranfahrer) vor dem Laden noch an Deck setzen!“ Die Lampen verstrahlen eine wohlige Wärme. Wir nutzen das aus und legen unsere verfrorenen Hände auf den staubigen Lampenschirm. „Was steht ihr da 'rum, faules Rattenpack! Los! Liegt genug Arbeit an! Soll ich denn alles selber machen!?“ Zum Glück sind wir zwei Neue; da kann der Scheich wenigstens nicht immer hinter mir stehen, denke ich. Bald geht dann der Ladebetrieb los, was uns direkt nur wenig betrifft. Das ist Sache der von Land gestellten Arbeiter, der Schauerleute (manipulieren die Waren), Lukenfietzen (geben mit Handzeichen dem Kranfahrer Anweisungen), Tallymänner (zählen die Güter). Auch auf der Pier ist reges Treiben. Güterwagen werden rangiert, Paletten oder Brooks beladen, Gabelstapler fahren inmitten des Ganzen ihr Wettrennen. Anweisungen hallen von Deck an Land und vermischen sich mit dem Geruch der in den Schuppen gelagerten Güter. Wir schuften bis sechs Uhr, dann ist Ausscheiden (Feierabend). Wir fallen in die Kojen.

Nur für Sekunden, so scheint es mir, als wir um halb acht wieder geweckt werden. Zuerst liegt mal Frühstück an. Ich gehe dem Backschafter etwas zur Hand. Sogar wenn der Chef nicht mit der Zubereitung des Essens folgen kann, ist es immer der Backschafter, der angeraunzt wird. Mit dem Chef traut sich niemand anzulegen. Wer das macht, der riskiert, dass ihm der Koch das nächste Mal unter das Schnitzel spuckt, klärt man mich auf. Das ist gerade das Frühstücksgespräch. Jürgen, so an die 30, gibt seine Geschichte zum Besten: „Als ich noch Moses gewesen bin, damals auf der Windhuk, hatten wir einen völlig beknackten Ersten Offizier. Vor allem einen bestimmten Matrosen hatte dieser immer auf dem Kieker. Nachdem es wieder mal heiß hergegangen war, wurde dieser nachts zum Kaffeekochen geschickt. Bevor er den Kaffee auf die Brücke brachte, rotzte er in die Tasse des Ersten und rührte das Ganze mit Milch und Zucker unter.“ „Ne schöne Sauerei!“, wirft einer ein. „Was ist 'ne Sauerei?“, fragt ein anderer. „Na, so'n Ersten zu haben!“ Alles lacht. „Hei lücht!“ Kommt es aus einer Ecke. „Ich schwöre!“ erwidert Jürgen. Schweigen. Jeder geht seinen Gedanken nach. Vielleicht werden die Matrosen uns ab jetzt etwas respektvoller behandeln, denke ich. Wir sprechen über den weiteren Fahrplan. Nach Bremen soll noch kurz Rotterdam und Antwerpen angelaufen werden. Maschinen oder deren Teile kommen in riesigen Kisten an Bord. Beschriftet auf allen Seiten mit TOP, NO HOOKS, FRAGILE. Bestimmungshafen Abidjan, an der Elfenbeinküste. Weiterhin übernehmen wir etliche Unimogs, militärfarben. So insgesamt 1500 Tonnen Ladung sind für Westafrika vorgesehen. „Da wird’s in der Biskaya rund gehen...“ Was haben die immer mit ihrer Biskaya, denke ich.

NACHTLEBEN AN BORD

Wir lassen Hoek van Holland achteraus. Der Lotse ist von Bord. Bald der Englische Kanal. Wir begegnen vielen Schiffen. Wir sind nicht allein auf dem Meer. Vor allem nachts, wenn man den Radarschirm betrachtet, da wimmelt es nur so von grünen Glühwürmchen. Das sind die großen. Die aus Metall. Die aus Holz sieht man nicht, ebenso wenig die aus Polyester, es sei denn, sie besitzen einen Radarreflektor. Die Natal ist ein ganz normales Stückgutschiff, aber zugleich auch Ausbildungsschiff. Wir Junggrade gehen Wache. Dabei kommen wir mit vielen Dingen in Berührung, die einem Decksjungen sonst lange unbekannt bleiben. Oft ist es auch unsere Neugier, die bewirkt, dass man uns Dinge zeigt, die selbst einem Matrosen fremd sind. Die Nächte auf der Brücke können lang sein, vor allem, wenn man müde ist. Und um sich gegenseitig wach zu halten, spricht man mit dem anderen.


In der Biskaya

Am gefährlichsten sind die Fähren, die Fischer (beim Fang) und die Segler. Die haben immer Vorfahrt. Da heißt es, deren Geschwindigkeit abschätzen, deren Kurs, um früh genug das Ausweichmanöver einzuleiten. Klar, dass dies nicht meine Sache ist. Ich leihe nur meine Augen aus. Manchmal ist ganz schön Hektik auf der Brücke. Dann bleibe ich besser in der Nock. Oder kümmre mich um den Kaffee, damit die Stimmung entspannter wird. Ich bin zur Abendwache eingeteilt, die 8/12 Wache. Um 6 Uhr ist Feierabend an Deck. Um 8 Uhr muss ich auf der Brücke sein, bis Mitternacht. Mit Schmidchen und Fiete, einem Matrosen. Und Teuber dem Dritten Offizier. 20 Minuten vor Mitternacht wecke ich die neue Wache, die vom Deck und den Offizier. 10 vor 12 nachsehen, ob alle auf sind, Kaffee in der Messe bereitstellen und wieder auf die Brücke. In der Maschine tut sich dasselbe. Nur, dass dort der Assistent die anderen weckt. Langsam lebe ich mich ein.

Einmal die Häfen und das Land hinter uns, wird alles ruhiger. Im Englischen Kanal und der Biskaya verbringe ich die Ausguckzeit hinter den Windabweisern auf der Nock, die Hände fest um eine Mug mit heißem Tee, gemäß unserer Devise, immer etwas in der Hand zu halten. Ich habe schnell gemerkt, dass Kaffee nicht meine Sache ist. Ich ziehe Schwarztee vor. Solange der zu heiß ist, atme ich den aromatischen Duft ein. „Gehört in Tee nun auch eine Prise Salz?“, geht es mir durch den Kopf. Müsste ich mal versuchen. Mit dem Risiko, dass man mir das Gesöff ins Gesicht schüttet. Oder doch lieber nicht. Die Engländer haben das bestimmt schon versucht... Dann schlürfe ich ihn genüsslich in kleinen Zügen. Um zu genießen, muss man Zeit haben. Da, an Backbord ein Licht. Ich melde es und hole zugleich das Fernglas aus der Brücke. Es ist ein grünes Licht, und dahinter, etwas höher, ein weißes. „Das ist ein Mitläufer“, klärt mich der Wachhabende auf. „Man sieht seine Steuerbordlaterne und darüber das Topplicht. Ein einziges Topplicht heißt, dass es ein Schiff mit unter 45 Metern Länge ist. Also ein Kümo (Küstenmotorschiff) oder ein Fischer. Auf jeden Fall maschinengetrieben. Segler haben kein Topplicht. Nur Seiten- und Heckleuchte. Keine Gefahr im Augenblick. Trotzdem im Auge behalten, und beobachten, ob er sich nähert oder den Kurs ändert. Nach einer Stunde haben wir ihn weit hinter uns zurückgelassen. Die Offiziere sind bessere Lehrer als die Matrosen...

Finisterre querab. Nur noch zwei Decksleute auf Wache, Junggrade. Die Matrosen nützen das, um in der Messe einen loszumachen. Jetzt, wo sie keine Wache mehr gehen, brauchen sie auch nicht mehr nüchtern zu sein. Der Backschafter schafft es kaum, den Nachschub an Flaschen von mittschiffs (vom Stewart) nach achtern zu bringen. In der Früh ist die Messe oft übersät von rollenden Flaschen, wenn nicht gar Scherben, wenn die Flaschen vom Seegang von den Tischen fallen. Es riecht nach Alkohol, Rauch und manchmal draußen nach Kotze. Der Backschafter ist von der Wache befreit. Nachdem wir die ersten Stundenzettel mit den Arbeitszeiten abgegeben haben, findet der Erste, dass wir Junggrade zu viele Überstunden machen und hat uns als Erstes die Hälfte unserer Überstunden gestrichen und das Zutörnen (Arbeiten außerhalb der Wache) eingeschränkt. Somit habe ich jetzt oft nachmittags frei. Der Scheich und die Matrosen sind stocksauer, wenn sie uns in der Freiwache beim Lesen oder Nichtstun sehen. Aber auf einem Schiff sind so viele Orte, wo man sich verkriechen kann, um in Ruhe das Meer anzuschauen oder sich zu unterhalten. Und wie oft erwischen wir die Vollgrade in irgendeinem Eck bei einer Flasche Bier.

Das Decksjungeneuer (Gehalt) ist 95 DM monatlich, für die Überstunde zahlt man uns 75 Pfennig. Ein Matrose hat 5 DM in der Stunde. Klar, dass die Schiffsleitung eher an Matrosenstunden sparen will. Aber da ist auch das Jugendschutzgesetz. Da wird halt jongliert... Als wir unsere erste Abrechnung bekommen und die Streichung feststellen, sind wir empört. Das ist ja Betrug! Die Matrosen kriegen das mit. Sie lachen. „Das ist doch ganz einfach“, sagen sie. „Jetzt wisst ihr, dass die euch die Hälfte eurer Stunden wieder streichen. Schreibt einfach das Doppelte, und so stimmt die Rechnung wieder!“ Logisch. Gesagt, getan.

Die Arbeitsstunden tragen wir jeden Tag auf einem mit 24 Kästchen (24 Stunden) pro Reihe versehenen Blatt ein. Dieses Blatt hat 31 Linien. In diese Kästchen markieren wir bei der entsprechenden Uhrzeit mit einem X die volle Arbeitsstunde, mit einem / die halbe oder angefangene. Am Monatsende gibt man das dem Bootsmann, der das Ganze mit einem „Stimmt ja hinten und vorne nicht!“ zur Überprüfung entgegennimmt und dann dem Ersten übergibt. Dieser hantiert dann, je nach wirtschaftlicher Lage der Reederei oder eigenem Ermessen mit dem Rotstift und gibt es dann an den Funker weiter, der dann die Abrechnung macht.

Im Ausland bekam man beim Funker nur einen Vorschuss in Landeswährung. Die Endabrechnung dann in Hamburg. Manche konnten dort nicht einmal abmustern, weil sie zu viele Schulden hatten, bedingt durch Vorschüsse und Konsum an Bord... Da wir gerade beim Geld sind: Es gab an Bord ein inoffizielles Zahlungsmittel, die Kantinentickets. In jeder Messe lag ein Block aus, in dem sich perforierte, herausreißbare Zettelchen befanden, und eine feste Seite, der Durchschlag (das Doppel). Darauf schrieb man das gewünschte, z. B. 1 Holsten, 1 Lucky Strike, 2 Johnny Walker, Datum und Unterschrift, und gab es dem Backschafter. Der brachte das so gegen 17 Uhr dem Chief Steward. Dieser wusste mit den Jahren, dass das nicht 1 Flasche Holsten hieß, sondern 1 Kiste. Bei Zigaretten war das natürlich 1 Stange. Beim Whisky bedeutete das aber nur Flasche. Man musste schon fast studiert haben, um Steward zu sein. Zumindest einen klaren Kopf behalten, bei all dem Stoff, den er verwaltete. Diese Tickets wurden bei der Monatsabrechnung berücksichtigt. Geschenkt wurde uns nichts an Bord. Hatte einer eine Wette verloren oder jemanden Geld geliehen oder was abgekauft, dann zahlte man mit einem Ticket, das der andere dann einlöste. Manchmal glich unsere Mannschaftsmesse vorm Abendessen einem Gabentisch an Weihnachten! Leider führte das bei so manchem zu einem Überkonsum, so dass bisweilen nichts von der Heuer (Lohn) übrig blieb. Diesen ließ der Funker ein anderes Papier unterschreiben, den Ziehschein. So wurde ein Teil der Heuer bei der Reederei zurückbehalten und der Steward informiert, der rechtzeitig einen Kantinenstopp durchführte, eine Maßnahme, die so manchen, zumindest zeitweise, vorm „Ertrinken“ rettete...

Der zweite Tag auf See. Ouessant lag achteraus, wir waren im Golf von Biskaya. Der Engpass des Englischen Kanals lag zurück, die andern Schiffe hatten ihre definitiven Kurse eingeschlagen, wir auch, und so löst sich der Pulk fast in Nichts auf. Es sind drei Mitläufer zu sehen, weit genug entfernt. Der wachhabende Offizier ruft mich von der Nock ins Ruderhaus. Dort steht Schmidchen am Steuer. „Übernimm du mal das Ruder“, sagt er. Ich zögere. „Ich denke, das ist für Junggrade nicht erlaubt“, antworte ich. „Hier oben bestimme ich! Los, übernimm!“ Ich versuche, mich an das zu erinnern, was ich in der Seemannschule gelernt hatte. Aber mein Hirn setzte aus. Nur eines fällt mir ein: „Wiederhole!“ Ich gehe zum Steuer. Schmidchen rückt zur Seite, ich stelle mich an seinen Platz und ergreife das halboffene Steuerrad. „230“, sagt Schmidchen. „230“, wiederhole ich. Der Kompass zeigt 230 an. Eine schwarze Linie durchzieht die Glasabdeckung, das muss die Schiffsachse bedeuten. Langsam kommt mir das Gelernte ins Gedächtnis zurück. Man steuert entweder nach Kompass oder nach Ruderlage. 230 klingt eher nach Kompass, denn der hat 360 Grad, das Ruder legt sich bis maximal 45 Grad. Das sehe ich vor mir auf dem Ruderlagenanzeiger stehen. 230, nicht vergessen. Ich bewege das Steuerrad nicht. So wird der Kahn wohl seinen Kurs beibehalten. Doch der Kompass ist anderer Meinung. Langsam bewegt sich die Scheibe auf 225°. Ich muss also was tun. Die andern grinsen und schauen auf mich. Ich drehe also das Ruder etwas nach links, wundere mich, dass das so leicht geht. Hoffentlich ist nichts kaputt gegangen, denn soviel ich wusste, braucht man viel Kraft am Steuerrad. Aber anstatt wieder auf 230° zu kommen, weicht die Scheibe immer mehr und immer schneller ab. Sie ist schon auf 210°, 205°. Was ist da los? 200°. Ich komme ins Schwitzen, schaue zum Wachoffizier, zu Schmidchen. Der kann sich das Lachen kaum zurückhalten. Der lacht, wo wir doch immer weiter vom Kurs abkommen!

 

„Wir sind nicht mehr auf Kurs!“, melde ich, „Irgendwas stimmt da nicht.“ Da greift der Wachoffizier ein: „Steuerbord 5“, sagt er. „Steuerbord 5“, wiederhole ich und drehe das Rad bis der Ruderlagenanzeiger 5° nach Steuerbord anzeigt. „Ruder liegt Steuerbord 5“, melde ich. Ich bemerke, wie die Kompassscheibe sich langsam zurück nach 220° bewegt. „Mittschiffs“, kommt die nächste Order „Mittschiffs! - Ruder liegt mittschiffs!“ „230° beibehalten!“ Schmidchen freut sich wahnsinnig! So hat man es mit ihm also auch gemacht und ihn blamiert, wie mich. „Soll ich's ihm sagen?“, fragt er den Wachhabenden. „Wenn du's besser weißt, sag's ihm!“ „Schau“, sagt er in versöhnendem Ton, schau auf diesen geraden Strich“ und zeigt auf die Glasscheibe des Kompasses, „diesen Strich musst du durch Ruderbewegung mit dem angegebenen Kurs, also 230° auf der Kompassscheibe in Deckung bringen. Ja nicht die 230 mit dem Strich, so wie du versucht hast! Meine feuchten Hände kleben am Steuerrad, ich schwitze. Warum hatte uns das keiner gesagt? Es hieß immer, man muss das Schiff auf Kurs halten. Aber wie, das hatte man uns verschwiegen! „Schmidchen, übernehme mal wieder. Der da vorn läuft etwas zu quer zu unserem Kurs.“ „230“, sage ich und übergebe erleichtert. „230“, wiederholt Schmidchen. Der Offizier ruft mich in die Nock und zeigt achteraus. Die vorher noch gerade Spur des Kielwassers macht weit hinten einen Knick, und kommt dann langsam wieder auf die alte Linie zurück. „Das ist deine Unterschrift“, sagt der Wachhabende. „Je gerader deine Unterschrift, umso schneller bist du mal Gefechtsrudergänger!“ Ein hochtrabendes Wort. Doch bald merke ich, dass unter uns Kadetten eine Art Wettkampf besteht, wer der beste Steuerer ist. Wer einmal Gefechtsrudergänger wird oder zumindest Ersatzmann! „Doch jetzt wollen wir uns mal um den da an Steuerbord kümmern. Steuerbord 10“. „Steuerbord 10. Ruder liegt Steuerbord 10“... Mit der Zeit wurde all dies mein Alltag.