Hans Weigel

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Weigels Text und die Musik von Bernard Grün entstanden in Karlsbad, da Direktor Hellmer dort zur Kur weilte. Im Foyer des mittelgroßen Stadttheaters stand ein Klavier. Weigel „kam am Vormittag hin und brachte Texte und verfasste am Nachmittag die nächsten. Es war eine gute Arbeit. Ich hatte vor, das sogenannte ,musical‘ zu reformieren und über die Operette hinauszugelangen. […] Wir hätten etwas Zeit nötig gehabt, wir hätten in dem Genre, das ich begonnen habe, weitermachen müssen, und Wien wäre vielleicht eine Hauptstadt der Musik geblieben“.27 Weigels Ziele waren hoch gesteckt: „Ich wollte mit ‚Madame Sans-Gêne‘ nicht nur einen Theaterabend liefern, sondern ein Reformwerk einleiten, das musikalische Theater nach dem Ende der Operette vom Schauspieler her, vom Text her, vom Geist der Musik her erneuern. Ähnliches geschah ja dann am Broadway, hieß Musical und war auch nicht viel wert. ‚Madame Sans-Gêne‘ wäre, hätte das Reformwerk sich fortgesetzt, bestenfalls ein Vorstadium gewesen. Ein erster Schritt zum Anfang, nicht zum Ziel hin […] in ‚Madame Sans-Gêne‘ war viel zu wenig Erneuerung und viel zu viel Musik. Ich habe das Stück nach dem Krieg wiedergesehen und war von meiner Arbeit enttäuscht. […] Dass die [in zaghaften Ansätzen begonnene] Reform scheiterte, war natürlich die Schuld der Weltgeschichte.“28 Die Galapremiere fand mit großem gesellschaftlichen Aufgebot am 1. September 1937 statt, im letzten Herbst der Ersten Republik. Nicht einmal ganze sieben Monate später war der „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich vollzogen.

Christl Mardayn und Leopold Biberti

Durch die vorzügliche Besetzung, die effektvolle Regie mit sorgfältigem Bemühen von Direktor Hellmer fand Madame Sans-Gêne durchwegs gute Kritiken. So lobte die Neue Freie Presse am 2. September 1937: „Die heikle Aufgabe, Sardou zu bearbeiten, wurde einer sehr geschmackvollen Hand anvertraut. Der des jungen Hans Weigel, eines der stärksten Talente, die aus der Wiener Kleinkunst hervorgegangen sind. Er hat eine eigene Art, moderne Chansons zu formen, mit klug ironischem Witz zu pointieren und trifft deshalb auch den ‚Sans-Gêne‘-Ton ausgezeichnet. In neuen, zeitgemäß gefärbten Dialogein- und -ausfällen und in zahlreich eingestreuten Texten. Besonders aber in drei Couplets: ‚Was hat man davon?‘, in dem Wiener Couplet und dem Polizeilied, die in ihrem ungeniert kecken und zugleich liebenswürdigen Gehaben zum Besten dieses Genres gehören. Im übrigen hat der Bearbeiter vor allem Raum geschafft, wozu er viel Sardou wegräumen musste. Um Platz zu machen für Musik, Ensembles und die sonstigen Bedürfnisse der singenden Gattung. Da hat er wohl zuviel des Guten und noch mehr des Operettenhaften getan. Dadurch geht es in der wilden Umsturzzeit des Wäschereiaktes gar zu behäbig zu. Und daß vor jedem Akt ein Invalide das Bänkel von der Madame Sans-Gêne in Raten singt, ist zwar ein aparter Einfall, aber kein wirksamer. Umso stärker wirkt der letzte, der große Napoleon-Akt. Hier ist die Bearbeitung gar keine Operette und hauptsächlich Sardou …“ Bernhard Grüns Musik, eine Mischung aus älterer, martialisch-gemütlicher Wiener Operette im leicht amüsanten Ton der Musik von Jacques Offenbach und Charles Lecoque, wurde als gefällig und ins Ohr gehend bezeichnet. Die Titelrolle spielte Christl Mardayn, der vor allem der Abend gehörte, den sie nach ihrem eigenen herzhaft wienerischen Naturell mit Witz, Humor, Gefühl, aber auch Pariser Esprit zum Erfolg mit Lach- und Beifallsstürmen führte. Auch an den Darstellern der Nebenrollen, unter ihnen Leo Reuss als Napoleon, wurde nichts ausgesetzt und der Dirigent Anton Paulik brachte das Orchester „im Schmetternden wie im Zarten zu guter Begleitwirkung“, so die Neue Freie Presse weiter.

Auch Das Kleine Blatt hob in der Ausgabe desselben Tages Weigel hervor: „Das neue, überaus amüsante, mit aktuellen Geistesblitzen und Witzen reich ausgestattete Buch von Hans Weig[e]l hat aber zu blendenden Liedtexten von Bernhard Grün noch viele andere Schlagermusik mit auf den Weg bekommen, die bald überall zu hören sein wird. Ganz besonders geglückt sind einige Chansons voll Humor und Grazie.“ Sprach die Wiener Zeitung von „einem großen Erfolg“, so registrierte Das Kleine Blatt den „stürmischen, nicht enden wollenden Applaus“.

Im Frühjahr 1938 wurde Madame Sans-Gêne in Prag nachgespielt. Weigel sah nach dem Krieg Aufführungen am Wiener Volkstheater, eine Inszenierung von Hans Thimig in Gustav Mankers Bühnenbildern und wieder mit Christl Mardayn in der Titelrolle, die am 12. Dezember 1947 Premiere hatte, und in Frankfurt (Premiere am 26. Jänner 1955), doch war er, wie zuvor schon erwähnt, von seiner eigenen Arbeit enttäuscht.

Zu Max Kolbes Text sowie der Musik von Fritz Spielmann und Stephan Weiss schrieb Hans Weigel 1937 einige Liedtexte für das musikalische Lustspiel Pam-Pam, das nach der Madame im Theater an der Wien aufgeführt wurde. Mit der Silvestervorstellung als glanzvolle Prominentenrevue mit Einaktern von Felix Salten (mit Albert und Else Bassermann), Arthur Schnitzlers Abschiedssouper (mit Oskar Karlweis und Lotte Lang), einem Schwejk-Einakter von Rudolf Weys, einem weiteren mit Gisela Werbezirk und einem Goethe-Sketch, verfasst und gespielt von Egon Friedell, ging das Jahr 1937 als Abgesang des abtretenden Wien zu Ende.

Hans Weigel, der sich als Hausdichter des Theaters an der Wien nicht als Künstler, sondern stets als Handwerker sah, war damit „in die Welt der zergehenden, zerfließenden, sich auflösenden Vergnügungsbranche Wiens geraten“29, die er im Kabarett, das ihm sehr viel bedeutete, angegriffen hatte. Ihm tat es später leid, ja es machte ihn sogar zornig, dass diese kurze Epoche der Wiener Kleinkunst zu seinen Lebzeiten nicht gründlich aufgearbeitet worden war. Er hätte selbst viel dazu beitragen können, aber niemand hatte ihn gefragt. Laut Elfriede Ott, seiner letzten Ehefrau, schrieb er am Vormittag seines Todestages, dem 21. August 1991, seinen letzten Text über die Wiener Kleinkunst vor 1938, Notwehr und Widerstand:

Kabarett ist Notwehr.

Kabarett ist Mini-Widerstand.

Kabarett gedeiht in schlechten Zeiten, die aber nicht ganz schlecht sein dürfen.

Wohlstand gibt für das Kabarett nichts her, denn er bezieht die Kabarettisten mit ein. Der Protestsänger im Mercedes ist ein linker Peter Alexander.

Demokratie gibt für das Kabarett nichts her […]30

Jahre nach seiner Zeit am Theater an der Wien, lange nach seiner Emigration, stellte Weigel sich die illusorische Frage, was aus ihm geworden wäre, wenn der „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland seine beginnende Karriere nicht unterbrochen hätte. Eine Antwort darauf gab sein späterer Freund Oscar Fritz Schuh, der die politische Wendung mit so enormer Tragweite als Weigels Glück bezeichnete: Er wäre beim Film gelandet und künstlerisch erledigt gewesen. Er selbst vermutete, er wäre der Kunst, wie sie in den Kellern dargebracht wurde, treu geblieben, doch „blieb er auf der Strecke, die von Dollfuß über Schuschnigg zu Hitler führte“.31

Im Exilland Schweiz

Die Schweiz war vor 1933 das geradezu klassisch zu nennende Exilland, das jedoch immer schon streng nach seinen Gesetzen handelte, man denke nur unter vielen anderen an Georg Büchner, Richard Wagner, Ferdinand August Bebel, Wladimir Iljitsch Lenin … Die Formulierung des schweizerischen Asylrechts gewährte politisch Verfolgten aller Parteien Asyl, wenn sie durch ruhiges Verhalten nicht gegen das Agitationsgesetz verstießen und sich von ihrem politischen Engagement lossagten. Kein Asyl jedoch wurde jenen gewährt, die auf Schweizer Boden die Existenz und das System anderer Staaten anfochten und bekämpften.

Mit den Problemen nach der Machtübertragung an Hitler 1933 im Nachbarland Deutschland und der damit verbundenen ersten Flüchtlingswelle in die Schweiz – die zweite erfolgte im März 1938, also nach Hitlers Einmarsch in Österreich – verlor sie ihren Ruf als humanes Asylland. Das Asylrecht wurde nicht als objektive Rechtsfrage, sondern als eine Frage der Angemessenheit betrachtet. Dadurch entstand eine Ungleichbehandlung der Asylwerber: Bekannten Persönlichkeiten mit großem Namen wurden Asyl- und Gastrecht großzügig gewährt, ja die offizielle Schweiz schmückte sich mit ihnen zu gegebenen Anlässen. Dazu gehörten Schriftsteller vom Rang eines Thomas Mann, dem wohl berühmtesten deutschen Schriftsteller der Weimarer Republik, sowie prominente bürgerliche oder sozialdemokratische Politiker wie der kurzzeitige Reichskanzler Joseph Wirth (1921/​22), ein entschiedener Gegner der Nationalsozialisten, der in Luzern eine Villa erwarb und von dort Kontakte nach Frankreich, Großbritannien und den USA unterhielt. Auch der langjährige preußische Ministerpräsident Otto Braun und der Jurist, sozialistische Landtags- und Reichstagsabgeordnete und zeitweilige bayrische Ministerpräsident nach dem Zweiten Weltkrieg Wilhelm Hoegner gingen ins Schweizer Exil.

Das waren Ausnahmen, die Regel war, so Werner Mittenzwei, deutscher Literaturwissenschaftler und Mitherausgeber der mehrbändigen Darstellung des deutschen Exils im antifaschistischen Exil zwischen 1933 und 1945, jene große Masse, „bei denen die Regierungsstellen sehr genau darauf achteten, daß die Anzahl der tolerierten politischen Flüchtlinge eine bestimmte Zahl nicht überstieg. Formell gewährte die Schweiz nur politischen Flüchtlingen, nicht aber rassisch Verfolgten Asyl und sah sich als Transitland. Nach Angaben Schweizer Historiker lebten in der Schweiz nie mehr als zweihundert anerkannte politische Flüchtlinge“.1 Viele mehr waren illegal in der Schweiz und lebten in der ständigen Bedrohung, ausgewiesen zu werden. Dies wurde als „Ausschaffung“ bezeichnet: Die Verfolgten wurden von den Schweizer Behörden an die Grenze gestellt. „Obwohl gerade im Sommer 1942 offiziellen Schweizer Stellen Nachrichten über die Massentötung von Juden [nach der Wannseekonferenz vom Jänner 1942 mit dem Beschluss, die gesamte jüdische Bevölkerung Europas der Vernichtung zuzuführen] und politischen Gefangenen übermittelt wurden, kam es am 13. August 1942 zur vollständigen Schließung der Grenzen.“2 Ohne all jene zu berücksichtigen, die aufgrund dieser auch in Deutschland bekannten Praxis erst gar nicht versuchten, die Schweiz zu erreichen, und ohne die Zahl der Abgeschobenen vor August 1942, die nicht exakt feststellbar ist, ist zwischen August 1942 und 1945 die „Ausschaffung“ von 9.751 Personen, die meist Inhaftierung, KZ und der Tod erwartete, belegt.3 Erst 1944, als sich der Niedergang des Nationalsozialismus sehr deutlich abzeichnete, wurde die Schweizer Asylpraxis etwas gelockert. Der Exekutor der offiziellen Schweizer Asylpolitik war der Leiter des Eidgenössischen Justiz-Polizeidepartements und Dulder der Nationalsozialisten, der die Abstempelung der Pässe von Juden mit einem „J“ verlangte und erreichte.

 

Die Stimmung in der Schweiz war zwischen Anpassung und Widerstand gespalten. Nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich und in die Tschechoslowakei bildete sich, so Mittenzwei, „in der Schweizer Bevölkerung eine immer stärkere Bewegung des nationalen Widerstands gegen die faschistische Bedrohung“.4 Die Schweizer befürchteten im Frühjahr 1940 etwa, dass Hitler bei seinem Frankreichfeldzug die Maginotlinie umgehen und über die Schweiz in Frankreich einfallen könnte. Trotzdem gab es unzählige Beispiele von Schweizern, die mit Zivilcourage und persönlichem Engagement gegen die Regierungslinie opponierten, sich über diese hinwegsetzten und Asylanten selbstlos und mit auch persönlichen Opfern halfen. Oft war die Hilfe spontan, vor allem aber waren es einzelne Verbände, die eine umfangreiche und überparteiliche Hilfe organisierten. „Auch muss die Solidarität und die Hilfsbereitschaft hervorgehoben werden, die schweizerische Künstler und humanistisch gesinnte bürgerliche Kreise den verfolgten Künstlern und Schriftstellern aus Deutschland [und später dann auch aus Österreich] zuteil werden ließen. Hier gestaltete sich oftmals die persönliche Hilfe zur geistigen Solidarität.“5

Groß war die Zahl der österreichischen und deutschen Schriftsteller, die die Schweiz entweder als Durchgangsland oder während des Dritten Reichs auch längerfristig aufnahm: Bertolt Brecht, Alfred Döblin, der Ungar Julius Hay, die deutsche Expressionistin Else Lasker-Schüler, Alexander Roda Roda, Friedrich Torberg, Carl Zuckmayer, um nur einige der bekanntesten zu nennen. Zu ihnen gehörte auch Fritz Hochwälder, der im August 1938, den Rhein durchschwimmend, dort Rettung und kurz darauf in Hans Weigel einen Freund fand.

Auch Hans Weigel hatte sich vorgenommen, in die Schweiz zu fliehen. Noch einige Tage vor dem Einmarsch im März 1938 glaubte er wie viele andere an ein „österreichisches Wunder, an unsterbliche Schlamperei, an Fortwursteln […, da die Österreicher] die Wirklichkeit nicht wahrhaben“6 wollten, sowie an den positiven Ausgang der für den 13. März festgesetzten Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs, die Bundeskanzler Kurt Schuschnigg unter dem Druck Adolf Hitlers am 10. März absagen musste. Die letzten Tage vor der Emigration schilderte Weigel sehr bewegend auf den letzten Seiten seiner Autobiografie: „Am Freitag, dem elften März, gegen Mittag spürte man plötzlich das Unheil. Es lag in der Luft wie vor einem Erdbeben.“7

Es war am Abend dieses 11. März 1938, dass Schuschnigg seine Rundfunkrede mit den berühmten Worten „Gott schütze Österreich“ schloss. Hans Weigel verbrachte ihn bei seinen Eltern: „Ich blieb am Apparat und hörte das tragischste Radioprogramm der Welt. Immer wieder eine kurze, höchst aufgeregt und inkompetent gestammelte Erklärung des Interims-Kanzler Seyß-Inquart: Einrückenden deutschen Truppen sei kein Widerstand zu leisten. Dazwischen Musik. Erst Mozart. Dann Schubert. Dann Bruckner. Dann Wagner. Nicht echter Wagner, sondern der für Salonorchester und Blasmusikkapellen zusammengestellte ‚Nibelungenmarsch‘: Nibelungen aus zweiter Hand. Dann das Horst-Wessel-Lied. So war musikalisch der Anschluss vollzogen worden. […] Ich übernachtete bei meinen Eltern in der Margaretenstrasse. Mir war klar, dass es keine Alternative gab und dass ich, dass jeder, der nicht ‚arisch‘ war, fort musste.“8

Nicht nur wegen seiner Abstammung musste er so bald wie möglich ins Ausland, sondern auch als Autor von linksgerichteten Texten in all den Kleinkunstprogrammen vor 1938. Aber Weigel wollte nicht nach Amerika, wo er Verwandte gehabt hätte. „Ich konnte recht gut französisch und einigermassen englisch sprechen, aber ich wollte in der deutschen Sprache bleiben und versuchen, in deutscher Sprache zu schreiben“, denn er hatte seine Beziehung zu der deutschen Sprache als „absolut“9 gesetzt, wofür er Jahre später von dem einen oder anderen Emigranten, der sich in der englischen Sprache gelegentlich recht mühsam hatte zurechtfinden müssen, geschätzt wurde. So etwa von Lizzi Pisk, die ihm am 9. März 1945, also knapp vor Kriegsende, aus London schrieb: „Ich möchte Ihnen noch sagen, dass ich es sehr schätze, dass Sie Ihrem Beruf und Ihrer Sprache treu geblieben sind; ich bin sicher, die Zukunft hält irgendeine Belohnung dafür bereit […]“ Der deutschen Sprache wegen wollte Weigel also unbedingt in die Schweiz und auch dort bleiben, weshalb er zwar für die Behörden Schritte zur Weiterreise nach England und Amerika setzte, diese aber gleich danach unbemerkt „sabotierte“10.

Am frühen Morgen des 12. März begann das Dröhnen von Flugzeugen über Wien, und da war Weigel auf einmal – zum ersten Mal – für Österreich und gegen Deutschland, wie er noch 1978 in Das Land der Deutschen mit der Seele suchend stipulierte: „Wer Österreich vor dem 11. März 1938 verlassen hat, der hat das Österreich der neunzehneinhalb Jahre verlassen, wie irgend ein Auswanderer, der sich von seiner Heimat distanziert, um eine neue Heimat zu suchen. Wer aber nach dem 11. März vor Hitler floh, hat nach Hitlers Ende kein Motiv mehr, Österreich weiterhin fern zu bleiben. Tut er es dennoch, bestätigt er Hitler. Nur Hitler hat bestimmt, dass ich, Hans Weigel, geboren 1908 in Wien, Schriftsteller, Inhaber eines österreichischen Reisepasses, kein Österreicher, sondern artfremd bin. Bleibe ich, sobald ich heimkehren kann, im Ausland, sanktioniere ich die Nürnberger Gesetze.“11

Aufgrund dieser Einstellung sollte Weigel auch im Juli 1945 als einer der Ersten in seine Heimat zurückkehren. Sein Bekenntnis zu Österreich und gegen das bekennende Judentum stieß später bei vielen auf Unverständnis, wie noch an seiner Einstellung zum Judentum aufgezeigt werden wird.

Weigels Flucht aus Österreich gingen genaue Überlegungen voraus. Noch am 12. März kaufte er seiner Frau Gertrud eine Fahrkarte über Deutschland nach Zürich, am Abend brachte er sie zum Westbahnhof. Danach traf er Christian Broda, der sich als Linker verstecken musste und daher die erste Nacht bei Hans Weigel in dessen Untermietwohnung in der Zeltgasse verbrachte. Noch 48 Jahre später, ein knappes Jahr vor seinem Tod am 1. Februar 1987, erwähnte Broda in einem Schreiben vom 29. März 1986 an seinen Freund Hans diese rettende Tat. Derartige Aktionen waren für Weigel ganz typisch: Freundschaften, ja selbst Bekanntschaften, die seinen politischen Einstellungen entsprachen und ihn nicht enttäuschten, hielten bei ihm Jahre, Jahrzehnte, manchmal sogar über den Tod hinaus, wie auch das Beispiel Marlen Haushofer noch zeigen wird. Durch derartige Freundschaften baute Weigel sich ein weitverzweigtes Netzwerk auf, das er durch stetes Kontakthalten und verlässliches und rasches Antworten auf Briefe aktiv am Leben hielt. Dabei war er nicht der Nur-Nehmende, sondern er setzte sich für die Mitglieder seines Kreises ein, wo immer es ging, oder zog anderen gegenüber seine Konsequenzen, wie sich etwa später bei seiner Freundschaft zu Viktor Frankl in Zusammenhang mit seinem Austritt aus dem P.E.N.-Club 1948 zeigen sollte.

Weigel wollte nach dem Einmarsch so schnell wie möglich seiner Frau nachreisen, vorher jedoch seine Wohnung in der Zeltgasse auflassen, nur sehr wenige Sachen in ein kleines, unscheinbares Köfferchen zusammenpacken und Abschied von Wien, seiner Familie, den Freunden und Bekannten nehmen. Da er 1937 die Anmerkung in seinem Pass erhalten hatte, sich frei in Deutschland bewegen zu dürfen, wollte er über das deutsche Konstanz zu Fuß wie ein harmloser Spaziergänger die Schweizer Grenze nach Kreuzlingen überqueren, die mitten in den vorstädtisch besiedelten Straßen kaum auffällig verlief. „Mit der Hartnäckigkeit einer fixen Idee sah ich ständig die Grenzstrasse zwischen Konstanz und Kreuzlingen, zwischen Deutschland und der Schweiz, zwischen Todesgefahr und Freiheit als Vision vor mir.“12

Schon eine Woche nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich verließ Hans Weigel Wien mit der Bahn: „Und Tränen kamen mir, zum ersten Mal in diesen Tagen und auch nur fast, als der Zug aus Salzburg hinaus fuhr – […] die Bahn fuhr über die Salzach, und von der Brücke aus sah ich ein letztesmal die geliebte Silhouette der Salzburger Festung. Nein, nicht zum letzten Mal, dachte ich, als die Bewegtheit mich überkam, nein, nicht zum letzten Mal! Wieder hier sein oder nicht sein. Mein Bund mit Österreich war besiegelt und beschworen, als ich auf dieser Brücke das nicht mehr existierende Österreich zu verlassen mich anschickte. Meine Rückkehr hat an diesem Mittag begonnen und sieben Jahre und vier Monate gedauert.“13

In Konstanz schlenderte Weigel wie geplant – einen Sonntagsspaziergang vortäuschend – zur Grenze. Seinen Koffer hatte er in der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs deponiert. Er wies dem deutschen Grenzbeamten seinen Pass vor, der diesen nur oberflächlich ansah und ihn nicht stempeln wollte. „Um später die Legalität und den Termin meiner Einreise nachweisen zu können, bat ich um einen Stempel.“14 Den Koffer mit Anzug, Wäsche, Schuhen und Theaterglas ließ er sich vom Lohndiener eines Schweizer Hotels bringen, in dem er früher einmal übernachtet hatte. Während schon vom ersten Tag an beim frequentierten Grenzübergang Feldkirch-Buchs zwischen Österreich und der Schweiz die Hölle los gewesen war, kam Hans Weigel am 20. März 1938 also ohne Schwierigkeiten und ganz legal mithilfe dieses Stempels in seinem Pass in die Schweiz. Seit er Österreich verlassen hatte, fühlte er sich auf der Rückreise, auf ungewissen Stationen von Wien nach Wien, wobei er die Deutschen nicht anders als die Österreicher als Opfer der Nationalsozialisten sah.

Bevor einige Schlaglichter auf Hans Weigels mehr als siebenjährige Exilzeit geworfen werden, in der häufig Heimweh und „Rückkehrphantasien“15 dominierten, sei seine eigene Zusammenfassung dieser Zeit vorangestellt, deren Grundtenor diese Jahre stets überschattete. Schon im Mai 1945, als er noch in der Schweiz weilte, wurde Weigel von der „Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe“ aufgefordert, kurz „das Wichtigste aus meinem Flüchtlingsleben“ mitzuteilen. Eine Kopie dieses aufschlussreichen Berichtes fand sich im Wiener Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes.

Darin räumte er zu Beginn ein: „Zu meinem grossen Glück sind mir materielle Sorgen und materielle Not erspart geblieben. Ich wurde von meinen Eltern [die nach Amerika fliehen konnten] unterstützt, ich konnte gelegentlich selbst Geld verdienen und ich fand Beruhigung in dem Bewusstsein, gute Freunde in der Schweiz zu haben, die sich, wenn nötig, meiner annehmen würden. Ich weiß dieses Privileg gebührend zu schätzen und vergesse keinen Augenblick, dass ich vielen Flüchtlingen in der Schweiz, dass ich den meisten Menschen in Europa gegenüber bevorzugt bin. […], trotzdem muss ich von Flüchtlingsnot schreiben.“

 

Als geistige und seelische Not führte er an, dass ihm vom ersten Augenblick an deutlich gemacht wurde, dass er in der Schweiz unerwünscht sei, weshalb er jede Möglichkeit, das Land zu verlassen, wahrnehmen hätte müssen. „Im Herbst 1939 habe ich mich der Schweizer Armee zur Verfügung gestellt, doch wurde mein Anerbieten dankend abgelehnt. Wir alle wären zu jeder Dienstleistung für unser Gastland bereit gewesen; wir wollten keinem inländischen Kollegen sein Brot nehmen; aber man hat uns an der freien Entfaltung unserer Kräfte in freier Konkurrenz behindert, hat viele von uns in Lagern von jedem geistigen Leben abgeschnitten und hat die Möglichkeit der Arbeit an einen schikanösen Instanzenweg gebunden, bei dem böser Konkurrenzneid und übles Denunziantentum eine entscheidende Rolle spielen.“ Selbst jene Theater, die Stücke spielten, an denen er in Wien mitgearbeitet hatte, nahmen seine Anwesenheit in der Schweiz nicht wahr. Jede Erwerbstätigkeit wurde ihm untersagt, „selbst die Mitarbeit an ausländischen Zeitungen, Zeitschriften und die Veröffentlichung von Büchern im Ausland“.

Dies liest sich in einem Schreiben der Eidgenössischen Fremdenpolizei vom 2. Juli 1940 an das Ehepaar Weigel wie folgt: „Für Emigranten kommt die Schweiz nur als Durchgangsland in Betracht. […] Die Emigranten sind verpflichtet, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Möglichkeiten des Weiterkommens zu suchen und, wo sie bestehen, sie unverzüglich zu benützen. Die Emigranten haben sich jeder politischen Tätigkeit und jedes neutralitätswidrigen Verhaltens zu enthalten. Ohne ausdrückliche Bewilligung der eidgenössischen Fremdenpolizei dürfen sie in keiner Weise erwerbstätig sein, auch keine bezahlte oder unbezahlte Stelle antreten. Emigranten, die eine dieser ihnen durch den Bundesratsbeschluss vom 17. Oktober 1939 über Änderungen der fremdenpolizeilichen Regelung auferlegten Pflichten missachten, haben Internierung in eine Strafanstalt oder Ausschaffung in das Land, aus dem sie gekommen sind oder dem sie angehören, zu gewärtigen.“

Nur für „künstlerisch minderwertige Tätigkeiten“ wurde Weigel nach umständlichen Bewilligungsverfahren gelegentlich die Arbeitserlaubnis erteilt, wobei sein Name stets unerwähnt bleiben musste. Daher blieb ihm wie vielen anderen nichts übrig, als unter Pseudonymen zu schreiben, um so an Geld zum Leben zu kommen. Auf die Bewilligung des Arbeitsamtes, dass sein Roman Der grüne Stern in der Basler Arbeiter-Zeitung im Herbst 1943 in Folgen gedruckt erscheinen durfte, musste die ansuchende Zeitung fünf Monate warten. Ein Wunder, dass sie es überhaupt tat! Weigels künstlerischer Lebens- und Selbstbehauptungswille wurde mit allen Mitteln unterdrückt. Noch im April 1945 lehnte das Basler Arbeitsamt seine Mitarbeit an einem Singspiel mit Text und Musik von den beiden Schweizern Fridolin Tschudi und Paul Burkhard ab, die ihn als Texter für die Lieder wünschten.

Während Deutsche sich frei in der Schweiz bewegen und reisen durften, benötigte der „staatenlose“ Emigrant Weigel eine kostenpflichtige Bewilligung der Fremdenpolizei für einen Spaziergang nach Arlesheim, einem Nachbarort im Kanton Basel-Landschaft, der nur über einen komplizierten, zeitraubenden Amtsweg zu erreichen war. All das und seine Liebe zu Österreich sollten für Hans Weigel Grund genug sein, 1945 so schnell wie möglich, nämlich bereits im Juli 1945, in die befreite Heimat zurückzukehren.

Doch diese Rückkehr lag bei der Ankunft in der Schweiz im März 1938 noch in unabsehbar weiter Ferne. Nach kurzem Aufenthalt in Zürich nahm Hans Weigel mit seiner Frau Gertrud Quartier in der Stadt Basel, da sie am dortigen Stadttheater für die Spielzeit 1938/​39 ein Engagement erhalten hatte, welches jedoch danach nicht mehr verlängert werden sollte. Bis Mitte 1940 lautete seine Adresse Byfangweg 12 bei Markees, danach Birsingstraße 122 bei Schill in der Nähe der Paulskirche und zehn Minuten vom Bahnhof entfernt, wie aus den regelmäßigen Ansuchen um Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigungen an die Kantonale Fremdenpolizei Basel-Stadt unter der Nummer „AK 30566“ hervorgeht.

Während Weigel durch seine wohldurchdachte Überlegung relativ problemlos in die Schweiz gelangte, hatten einige seiner Freunde Schlimmstes durch die Nationalsozialisten zu erleiden: Herbert Zipper, der Komponist und Mitstreiter in der Wiener Kleinkunstszene vor 1938, und Jura Soyfer kamen ins Konzentrationslager. Von Zippers Angehörigen hatte Weigel erfahren, dass sein Freund im Mai 1938 seiner jüdischen Abstammung wegen verhaftet und nach Dachau deportiert worden war, wo er Soyfer traf. Beide wurden nach Buchenwald verlegt. Zippers Verwandte konnten Weigels Freund Herbert befreien, auf der Durchreise nach Paris besuchte er Weigel in der Schweiz. Noch in Dachau hatte Zipper im September 1938, wenige Tage vor seiner Verlegung, das Dachaulied komponiert, zu dem Soyfer den vierstrophigen Text verfasste. Die Refrainstrophe lautet:

Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt

Und wurden stahlhart dabei:

Sei ein Mann, Kamerad,

bleib ein Mensch, Kamerad,

mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad,

denn Arbeit, Arbeit macht frei.

In dem bereits zitierten Interview mit Thomas Trenkler, 2013 in dessen Buch Das Zeitalter der Verluste veröffentlicht, schilderte Herbert Zipper ausführlich, wie dieses inzwischen bekannte Lied zustande kam: „Da war ein großes gusseisernes Tor. Und über dem Tor ist in großen Buchstaben gestanden: ‚Arbeit macht frei.‘ […] Wir sind sehr oft durch dieses Tor gegangen, es war gegen Abend, sagte ich zu Jura: ‚Bevor wir hier wegkommen, müssen wir ein Kampflied für Dachau schreiben!‘“16 Darin sollte der Hohn von der Arbeit, die in dieser Hölle „frei machte“, vorkommen. Aufschreiben konnten sie Text und Noten nicht, ein gutgesinnter Kapo lernte das Lied auswendig und verbreitete es im Lager. Aufgeschrieben hatte es Zipper erst Monate später.

Über die Gründe, warum Zipper dem KZ Buchenwald entkommen konnte, berichtete Weigel: „Man konnte anfangs, wenn man ‚nur‘ einfach als ‚Nichtarier‘ in ein Konzentrationslager kam, entlassen werden, sobald man nachwies, dass man die Papiere für die Ausreise hatte [Visum ins nichteuropäische Ausland – in Zippers Fall Uruguay – und Zahlung von Lösegeld]. Herbert Zippers Verwandte und Freunde bemühten sich für ihn, und im Frühjahr oder Sommer 1939 wurde er entlassen [laut Zippers eigener Aussage im Interview mit Trenkler am 20. Februar 1939]. Auf dem Weg nach Paris, wo seine Verwandten lebten, kam er zu uns nach Basel. Schon auf dem Bahnhof fragten wir nach Jura [Soyfer]. Jura war mit einem Freund als Tourist über die Berge an die Schweizer Grenze gegangen. Eine Patrouille griff sie auf, befand die beiden als harmlos, visitierte aber ihr Hab und Gut. Eine Konservenbüchse war in ein Zeitungsblatt gewickelt, und dieses Zeitungsblatt erwies sich als verdächtig, obwohl nur ein Zeitungsblatt, das der ‚Greisler‘ zum Einpacken verwendete. So kam Jura ins Konzentrationslager. Auch seine Ausreise war ermöglicht worden, ehe man ihn aber entließ, erkrankte er an Typhus und starb im Februar 1939.“17

Kaum war Hans Weigel in der Schweiz ein wenig zur Ruhe gekommen, schrieb er den ganz und gar autobiografischen Roman Abschied von Österreich, der nie veröffentlicht wurde. In seiner Autobiografie erwähnt er, dass er ihn schlecht fand, dennoch schickte er ihn Ende 1938/​Anfang 1939 unter dem Pseudonym Paul Munk für einen literarischen Wettbewerb des American Guild for German Cultural Freedom nach New York, von dem er aber mit Schreiben vom 7. März 1939 als nicht preiswürdig abgelehnt wurde. In diese Zeit dürfte wohl auch ein undatiertes Gedicht fallen, das in Weigels Nachlass gefunden wurde:

Emigration

Sie haben uns über die Grenze getrieben

Und dazu höhnisch gelacht.

Sie haben die Heimat, die glühend wir liebten,

zu einem Kerker gemacht.

Sie können uns ausser Landes jagen,

uns Bürgerrechte entziehen:

doch was wir mit uns im Herzen tragen,

ist Österreich, ist Wien.

Und wenn sie sich hemmungslos selber loben

Und alles, was menschlich ist, schmähn,

und wenn sie in Rundfunk und Zeitungen toben

und täglich die Wahrheit verdrehn,

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