Winterwahn

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Aus der Reihe: Weltengrau #3
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Am meisten aber fesselte seinen Blick die Geschwulst an der Grenze zwischen Stirn und Ansatz der Schnauze. Sie war klein, rund und an den Rändern blutverkrustet. Je länger er darauf starrte, desto mehr zwang sich ihm der Eindruck auf, dass es sich dabei um ein überwachsenes Auge handelte, das sich durch die Haut gefressen hatte. Als er seinen Blick endlich davon lösen konnte und zu den anderen ging, war ihm übel und kalt. Aber er war ein Greis, der lange über seine Zeit gelebt hatte, und dieser Tage war ihm ständig übel und kalt.

Trotzdem brauchte er lange, um das Bild des schwärenden Auges aus seinem Kopf zu verbannen.

6. Kapitel 5

Umbrahope

Obwohl sie jetzt zum dritten Mal in ihrem neuen Leben hier war, hatte die Szenerie nichts von ihrer Faszination verloren. Das geschäftige Treiben an den unzähligen Verladestationen der Kais von Umbrahope glich dem eines Ameisenhaufens. Wenn man weiter in das Innere der Stadt vordrang, verstärkte sich dieser Eindruck noch. Das bunte Gemisch aus Menschen, Straßen und Marktständen aller Art war jedoch durch die nördliche Wachmauer vom Hafenviertel getrennt. Shaya stand am Bug der Windpeitsche, einem mittelgroßen Zweimaster aus der Flotte der Südseepiraten. Es war eines der drei Schiffe, die sie dazu verwendeten, um Beute zu verkaufen und sich mit den Dingen zu versorgen, an denen es ihnen auf See mangelte.

Sowohl was das Äußere des Schiffes anging, wie auch bei der Auswahl der Besatzung achtete man hier darauf, den Eindruck eines Händlers zu erwecken. Besonders gut funktionierte das nach Shayas Einschätzung bei Letzterem nicht. Sie selbst trug mit ihrem von Narben schrecklich entstellten Gesicht ebenfalls dazu bei. Aber auch die Matrosen auf der Windpeitsche waren kaum besser als der restliche Abschaum aus Mördern und Menschenfressern, welche die Flotte bevölkerten. Die meisten von denen hier hatten allerdings wenigstens noch alle Gliedmaßen. Außerdem waren sie aus den Reihen der Minderheit ausgewählt worden, die aus den Königreichen der Umbrahato stammten. Der Großteil der Piraten waren Namenlose, oder Mischlinge, die kaum besser waren. Das Schiff wenigstens machte auch auf den zweiten Blick einen guten Eindruck. Es war gepflegt, für die Verhältnisse der Piraten außergewöhnlich sauber und zeigte keine Kampfspuren.

Shaya war skeptisch gewesen, was ihre Rolle als Ersatz für Belandros anging. Sie war nicht davon überzeugt gewesen, dass diese Tarnung funktionierte, und hatte fest damit gerechnet, erneut in Schwierigkeiten zu geraten. Doch sie hatte sich geirrt. Weder ihr Narbengesicht noch ihre merkwürdige Mannschaft fiel in dem heillosen Durcheinander auf, das täglich im Hafenviertel von Umbrahope herrschte. Auch, dass ein so junges Mädchen offenbar ein eigenes Handelsschiff besaß, wurde, wenn es überhaupt jemand zur Kenntnis nahm, mit einem Schulterzucken abgetan. Vielleicht schätzte man sie durch ihr zerstörtes Gesicht auch älter ein, als sie war. Ihre beiden bisherigen Besuche in der Stadt waren jedenfalls problemlos und erfolgreich verlaufen.

Sie hatte sich strikt an die Anweisungen von Belandros gehalten. Der Eunuch, der seit über einem Jahrzehnt auf diese Weise im Dienst der Piratenkönigin stand, hatte sie ausführlich instruiert. Er hatte sie mit den Namen von Kontaktleuten ebenso versorgt, wie er ihr genaue Vorgaben zu den Preisen gegeben hatte. Sie wusste nichts über die Gepflogenheiten des Hafens, die Verteilung der Autoritäten oder die Preise für den An- und Verkauf von Waren.

Doch sie lernte rasch und war, wie sich herausstellte, in der Lage sich Zahlen und Namen schnell und sicher zu merken. Was die eigentliche Abwicklung des Einlaufens und Verladens anging, brauchte sie sich um nichts zu kümmern. Die Crew versah diesen Dienst seit Jahren und kannte jeden Handgriff im Schlaf. Die Mannschaften der drei Handelsschiffe der Flotte unterlagen einer untypisch geringen Fluktuation, was darin resultierte, dass sie zuverlässig und reibungslos arbeiteten und leidlich miteinander auskamen. Man hielt sie aus den Kampfhandlungen auf See heraus und versorgte sie mit Priorität, damit sie einigermaßen wie menschliche Wesen aussahen, und sich vielleicht auch so benahmen. Die Männer waren sich ihrer Sonderstellung bewusst und hatten sie schätzen gelernt, und so war auch die Disziplin und Moral unter ihnen ungleich höher als beim Rest der Flotte.

Sie hatten Shaya mit routinierter Gleichgültigkeit als zweiten Kapitän neben Belandros akzeptiert. Sie machten ihr keine Schwierigkeiten und gingen wie gewohnt ihrer Arbeit nach, ohne erkennen zu lassen, was sie von der Angelegenheit hielten. Vermutlich war es ihnen völlig egal, wer sich um die Verkäufe und Einkäufe kümmerte. Für sie änderte sich nichts, sie schleppten die Beute vom Schiff und beluden es anschließend mit Vorräten, wie sie es all die Jahre unter Belandros getan hatten.

Shaya erinnerte sich noch gut an ihren ersten Einsatz vor einigen Wochen und wunderte sich, wie schnell sie sich eingewöhnt hatte. Als sie das erste Mal mit der Windpeitsche in den Hafen von Umbrahope einlief, schnürten ihr bittere Erinnerungen die Kehle zu. Sie sah die Docks, die zahllosen Schiffe aller Größen und Formen, und war unweigerlich an den Tag zurückversetzt, als sie am Kai gehockt und sich das Treiben von der anderen Seite aus angeschaut hatte. Sie dachte zum ersten Mal seit langem wieder an ihren toten Onkel. Dachte an das Gasthaus zum toten Vogel, wo man sie so freundlich aufnahm, nachdem sie zum ersten Mal in ihrem Leben allein nach Umbrahope gekommen war. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Belandros und an die sorglose Naivität, mit der sie sich in der Stadt bewegt hatte.

Wie bittere Galle kamen die Bilder in ihr hoch, wie die Hurenfänger ihr aufgelauert und sie gejagt hatten. Der Anblick des Hafens brachte ihr unweigerlich den Ausgang dieser kurzen Hatz zu Bewusstsein. Die Szenen, die sie wochenlang in ihren Alpträumen verfolgt hatten und es manchmal noch immer taten. Die Männer, die sie packten und verstümmelten.

Sie war kurz davor gewesen die Fassung zu verlieren und der Besatzung die Umkehr zu befehlen, doch schließlich hatte ihr Zorn gesiegt, und sie hatte sich durch diese ersten, schrecklichen Stunden durchgebissen. Sie war nicht mehr das kleine Steppenmädchen, war nicht mehr die Nichte ihres Onkels. Sie war jetzt ein Geschöpf von Schanga, der Königin der Südsee, wie all die anderen Piraten. In ihrer neuen Welt gab es keinen Raum für Schwäche, Moral oder Gnade, weder sich selbst noch anderen gegenüber.

Shaya hatte ihren ersten Besuch dieser Art schließlich mit einer beinahe unheimlichen Leichtigkeit hinter sich gebracht. Das lag in erster Linie daran, dass im Grunde alles wie von selbst ablief. Sie ließ die Windpeitsche festmachen, und zahlte einem Hafenvorsteher eine geringe Liegegebühr für drei Tage. Anschließend begleiteten sie zwei ihrer Besatzungsmitglieder stumm zu einem Gebäude am Hafen. Der zweistöckige Bau schien eine Mischung aus Gasthaus und Schreibstube zu sein. Sie traf einen fetten, verlebt wirkenden Umbrahato, der auf den Namen Pultiko hörte. Der Mann war zunächst verschlossen und abweisend. Das änderte sich jedoch, nachdem er die Windpeitsche in Augenschein genommen hatte. Sein anfängliches Misstrauen gegenüber dem weiblichen, blutjungen und dazu entstellten Kapitän schwand im Angesicht der anstehenden Gewinne.

Belandros hatte darauf geachtet, dass die Qualität der Ladung dazu geeignet war, Shaya einen guten Einstand in die Handelswelt von Umbrahope zu verschaffen. Nach Möglichkeit unauffällig, und ohne Aufsehen durch gar zu exotische Waren zu erregen. Der Ruf eines Händlers war hier alles. Im Grunde herrschte an nichts Mangel und daher war jeder austauschbar. Er stellte für Shayas ersten Auftritt in der Stadt eine Auswahl an ausgesuchten Dingen zusammen. Dabei achtete er darauf, keine ungewöhnlichen Waren wie Waffen, Rüstungen oder Schmuck zu wählen. An Bord der Windpeitsche befanden sich erstklassig gewobene Stoffe, gut abgelagertes, gerades Bauholz aus Eiseneiche und mehrere Amphoren Rotwein. Allesamt Prisen, welche die Piraten in den letzten Wochen von drei Schiffen der Menschen vom nördlichen Kontinent erbeutet hatten. Belandros hatte Shaya genau darüber instruiert, wie sie mit dem ansässigen Abnehmer zu verhandeln hatte. Es war wichtig, auf der einen Seite so günstig zu verkaufen, dass man ein gern gesehener Geschäftspartner wurde, und auf der anderen Seite nicht so billig zu sein, dass man verdächtig wirkte.

Wie es schien, war Shaya dieses Kunststück gelungen, denn heute würde sie den dicken Pultiko zum dritten Mal treffen. Er war ein widerlicher Kerl, wenn sie je einen gesehen hatte, aber er war recht umgänglich und genoss im Hafen einiges an Ansehen. Nicht umsonst hatte Belandros sie als Erstes mit ihm zusammengebracht. Der findige Eunuch hatte sich in den letzten Wochen im Hafen rargemacht und würde die Stadt erst im nächsten Jahr wieder besuchen. Die Flotte war ohnehin gut versorgt, und wenn Shaya jetzt diese Ladung gelöscht hatte, waren sie alles losgeworden, was sie an leicht versetzbarer Beute übrig hatten. Ausnahmen bildeten brisantere Handelsgüter wie Waffen, Rüstungsteile und von den Gefallenen erbeuteter Schmuck. Diese Dinge würde Belandros im nächsten Jahr verkaufen. Nach all den Jahren kannte er genug Leute in Umbrahope, um derartige Ware gefahrlos loszuwerden.

Shaya sprang vom Deck der Windpeitsche und hob lässig einen Arm, um den unförmigen Mann zu begrüßen, der sie am Kai bereits erwartete. Sie trug dünne, kurze Leinenschuhe, ebensolche Hosen und ein ärmelloses Oberteil. Die Luft war feucht, grau und schwer. Der Geruch der Stadt, der tausenden von Menschen, die hier lebten und arbeiteten, drang an ihre Nase und sie musste für einen Moment gegen aufkommenden Ekel ankämpfen. Noch vor einigen Monaten hätte sie das als exotisch und würzig wahrgenommen, jetzt empfand sie es einfach nur als penetranten Gestank. Genau wie ihr die Luft schwer und schlecht vorkam, nachdem sie sich daran gewöhnt hatte, ihr Leben auf dem Meer zu verbringen. Es hatte eine Zeit gegeben, da war ihr die Stadt für sie aufregend und geheimnisvoll gewesen. Jetzt erschien ihr Umbrahope als widerlich und erdrückend.

 

Pultiko kam in dem für ihn üblichen, leicht watschelnden Gang einer hochschwangeren Frau auf sie zu. Er hob die Hand zum Gruß und lächelte über sein speckiges Gesicht, was seine ohnehin schon kleinen Augen beinahe völlig verschwinden ließ. Er mochte ein hässlicher und ungeschlachter Kerl sein, aber unsensibel war er nicht. Vermutlich musste man in seinem Geschäft eine gewisse Empathiefähigkeit entwickeln, wenn man erfolgreich sein wollte. Oder überleben. Besonders, wenn man so wenig respekteinflößend aussah wie er. Er hatte nie auch nur den Versuch unternommen ihr die Hand zu reichen und achtete auch sonst peinlich darauf, sie in keiner Weise zu berühren. Er schwitze so stark, dass es aussah, als habe man ihn mit einem Eimer Öl übergossen. Sein unförmiger Körper steckte in einem sackartigen, knielangen Gewand aus blauer Seide, seine ungeschlachten Füße in Ledersandalen.

Er schien allein zu sein, doch Shaya erkannte inzwischen seine Leibwächter, die sich unauffällig in der Nähe herumdrückten. Er befand sich stets in Begleitung von drei oder vier Männern, die sich dezent im Hintergrund hielten. Es handelte sich ausnahmslos um Umbrahato von so dunkler Hautfarbe, dass sie beinahe wie aus Ebenholz geschnitzt wirkten. Shaya merkte sofort, dass Pultiko aufgeregt war und spürte, wie sich ihr Rücken verspannte. Sie misstraute dem Mann nicht sonderlich, nicht mehr als jedem anderen, aber die kleinste Änderung der Routine machte sie angesichts dieser hektischen, unberechenbaren Umgebung nervös. Ihr Körper hatte sich von dem Schrecken der Vergangenheit erholt, ihre Nerven hingegen würden es nie ganz tun. Eine Entwicklung, die sie durchaus begrüßte. Bedeutete sie doch, dass sie nicht noch einmal so leichtfertig und naiv in eine Gefahr hineinlaufen würde wie in jene, die sie das Gesicht gekostet hatte. Sie zog die rechte Augenbraue hoch, diejenige, die nur noch ein Stück vernarbtes, haarloses Fleisch war.

»Du wirkst aufgekratzt. Bist du so neugierig auf meine Waren oder ist etwas passiert?«, wollte sie wissen. Sie benutzte nicht das Kauderwelsch aus Dialekten, das in der Stadt üblich war, sondern die Sprache der einfachen Stämme, mit der sie aufgewachsen war. Sie wusste, dass der Mann sie fließend beherrschte und es ihm irgendwie zu schmeicheln schien, wenn sie sich auf diese Weise unterhielten.

»Das kann man wohl sagen«, antwortete der Händler mit seiner melodiösen Altstimme. Sie war das Einzige an ihm, das schön war. Wenn man die Augen schloss, konnte man sich einen hübschen Jüngling von vielleicht fünfundzwanzig Sommern mit dieser Stimme vorstellen. »Die Sache mit den Namenlosen, über die wir gesprochen haben. Sie sind tatsächlich aufgetaucht. Ein letztes Mal, sozusagen.«

Shaya hielt inne und fixierte den Blick des Mannes. Sie hatte ihm erzählt, dass sie damals kurz nach dem Überfall der wilden Horde von Namenlosen auf Umbrahope in der Stadt angekommen war. Auch von dem zerstörten Dorf, in dem ihr Onkel aufgewachsen war, hatte sie ihm berichtet. Die Umstände, die sie auf die See getrieben hatten, verschwieg sie freilich. Zuerst hatte sie sich einreden wollen, dass ihr altes Leben endgültig hinter ihr lag und sie kein Interesse mehr an den Belangen des Festlandes hatte. Doch auch wenn sie jetzt tatsächlich ein Geschöpf des Meeres und der Piratenflotte war, gingen ihr die Bilder des zerstörten Dorfes und des blindwütigen Ansturms der Namenlosen nicht aus dem Kopf. Sie konnte den gehäuteten Häuptling und das Mädchen ohne Arme ebenso wenig aus ihren Alpträumen verjagen, wie die Frauen und Kinder der wilden Menschen aus dem Süden, die sich an den Wällen von Umbrahato in den Tod stürzten.

So hatte sie vorsichtig ihr Interesse an diesen Dingen bekundet und den fetten Händler gebeten, seine Ohren offenzuhalten und ihr zu berichten, wenn er etwas über den Verbleib der Namenlosen erfuhr. Damals war die Horde zwar blutig zurückgeschlagen worden, doch Hunderte, wenn nicht Tausende, waren geflohen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihnen zu folgen. Eine Entscheidung, die, wie sie inzwischen wusste, beinahe einem Dutzend weiterer Dörfer die Vernichtung gebracht hatte. Das letzte Mal, als sie in Umbrahope gewesen war, hatte Pultiko ihr berichtet, dass die Fremden offenbar ein Dorf nach dem anderen überfielen. Sie nahmen die Bewohner gefangen, raubten das Vieh und die Vorräte und brannten alles nieder. Dann zogen sie zur nächsten Siedlung weiter, immer auf der Suche nach neuen Tieren und Menschen, die ihnen als Proviant dienten. Welches Ziel sie hatten, oder ob es überhaupt eines gab, wusste niemand.

»Erzähl mir davon«, sagte sie einfach und ging rasch einige Schritte von der Anlegestelle in Richtung Hafen. An einem Poller am Rand des Kais hielt sie inne, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und verschränkte die Arme vor dem Körper. Der schwerfällige Händler folgte ihr und kam schnaufend vor ihr zum Stehen. Sie befanden sich hier ein kleines Stück abseits der Laufwege der Seeleute, weit genug, um in dem Geräuschpegel, der hier herrschte, ungestört zu sein. Inmitten des Treibens der Schauerleute, Matrosen und Händler waren sie hier mehr unter sich, als es in einer Taverne oder beengten Händlerstube der Fall gewesen wäre.

Shaya wusste nicht so recht, warum der dicke Mann Interesse an ihr hatte. Sie vermutete, dass sie durch ihre Jugend und ihr schreckliches Gesicht eine Mischung aus Neugier und Mitleid in ihm hervorrief. Sorgen machte sie sich wegen seiner merkwürdigen Zuneigung jedenfalls nicht, laut Belandros beschränkte sich das einzige sexuelle Interesse, über das Pultiko verfügte, auf Männer jenseits der Vierzig.

»Es gibt seit drei Wochen einen neuen Kommandanten im nördlichen Hafenviertel«, begann der Händler, wobei er sich mit einem Seidentuch den Schweiß von der Stirn wischte. Ein sinnloses Unterfangen, denn es bildete sich sofort frischer und floss in Bächen über seine Schläfen. »Irgendein Baron oder Sohn eines Barons, so etwas in der Art aus dem Kontinent über dem Meer. Gerade dreißig Jahre alt, ein ziemlich finsterer Geselle, so sagt man. Hat von Anfang an Druck auf die Gilden gemacht und innerhalb von zehn Tagen genug Ausrüstung und Leute zusammenbekommen, um eine Strafexpedition zusammenzustellen. Also das zu tun, was dieses faule, gleichgültige Pack von Anfang an hätte tun sollen. Anstatt auf ihren Ärschen zu sitzen, den Wall auszubessern und zuzuschauen, wie das Ungeziefer aus dem Süden die umliegenden Dörfer verheert.«

Er hielt einen Moment lang schnaufend inne, um wieder zu Atem zu kommen. Shaya beobachtete ihn aufmerksam. Es war das erste Mal, dass sie ihn so erregt erlebte. Für gewöhnlich bedachte er seine Umgebung mit lethargischem Sarkasmus. Sie argwöhnte, dass er den örtlichen Dialekt der Dörfer möglicherweise deswegen so gut sprach, weil er aus der Gegend stammte. Er sprach ihn zwar nicht akzentfrei, aber er hatte auch die letzten zwanzig Jahre in der Stadt zugebracht. Vielleicht war eine der Siedlungen, welche von den Namenlosen vernichtet worden war, sein Heimatdorf gewesen oder er hatte Menschen gekannt, die dort gelebt hatten. Der Hass, der in seinen Worten mitklang, war völlig untypisch für ihn.

»Jedenfalls«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort, nachdem er sich mit seinem Tuch den Mund abgewischt hatte, »hat der Kommandant die Expedition dann selbst angeführt. Hatte eine Kompanie oder ein Bataillon oder wie sie das dort, wo sie herkommen nennen, eigene Soldaten dabei. Schwer gerüstet und mit riesigen Pferden, die sie wohl über das Meer mitgebracht haben. Mit den Männern, die sie in der Stadt zusammengetrommelt haben, waren sie fast vierhundert Mann. Knapp die Hälfte Söldner und übles Schlägerpack aus den Straßen der Stadt, aber immerhin. Sie haben die Umgebung im Westen durchkämmt und sind zehn Tage später auf die Reste der Namenlosen getroffen. Waren nicht sonderlich schwer zu finden, weil sie nur in der groben Richtung der zerstörten Dörfer suchen mussten.

Und dann sind sie auf eine Spur aus Leichen gestoßen. Überall lagen vereinzelte Tote in der Steppe herum, einfach zum Verrotten liegengelassen. Sahen ziemlich schlimm aus, heißt es, und nicht nur wegen der Verwesung. Offenbar hatte sich eine Krankheit in den Reihen dieser miesen Mörderbande ausgebreitet. Ob sie eine Seuche aus den südlichen Dschungeln eingeschleppt haben oder es von ihrem eigenen Dreck und der Menschenfresserei stammt weiß niemand. Tatsache ist jedenfalls, dass die Expedition nach einer Weile auf ein Lager gestoßen ist. Was sie da gefunden haben, habe ich aus erster Hand gehört, und zwar von mehr als einem Mann. Deswegen weiß ich, dass es wahr ist, auch wenn es klingt wie blutrünstiges Seemannsgarn. Ich habe mehr als einen der Söldner, die dabei gewesen sind, unabhängig voneinander abgefüllt und ausgefragt.«

Er machte erneut eine schnaufende Pause. Shaya wusste nicht, ob er die Dramatik seiner Geschichte erhöhen wollte oder einfach nur an der Kurzatmigkeit der übermäßigen Fettleibigkeit litt. In jedem Fall hatte er ihre volle Aufmerksamkeit, und dabei musste sie sich nicht einmal zur Geduld zwingen. Zu hören, wie diese Horde von Namenlosen langsam von innen heraus verreckt war, erfüllte sie mit einer stumpfen Genugtuung. Wenn diejenigen tot waren, die ihr Dorf vernichtet hatten, konnte sie mit einem weiteren Kapitel ihres alten Lebens endgültig abschließen. Vielleicht würden sogar die Träume irgendwann verschwinden, wenn sie wusste, dass die Mörder nicht mehr lebten. Was die Männer anging, die sie missbraucht und verstümmelt hatten, funktionierte die Sache freilich nicht auf diese Weise. Und das, obwohl sie selbst ihr Schicksal besiegelt, sie mit eigener Hand getötet hatte.

»Der Kommandant hat den Rauch ihrer Feuer gesehen«, fuhr Pultiko schließlich fort. »Hat seine Männer schon auf einen Angriff vorbereitet. Aber dann kam einer der Spähtrupps wieder, und es stellte sich heraus, dass kaum noch etwas da war, das sich anzugreifen lohnte. Der Trupp bestand aus einer Handvoll Söldner aus dem Hafen und ich habe einen von ihnen später in einer Taverne aufgegabelt. Laut ihm war es ein Bild wie aus den Gruben des Schaitans.

Es müssen noch etwas über zweitausend Menschen, wenn man sie so nennen will, gewesen sein. Ganz genau ließ sich nicht sagen, wer zu den Wilden gehörte und wie viele Körper von Gefangenen stammten. Aber das Lager, das im Grunde nur aus verstreuten Feuerstellen bestand, war ein einziger Seuchenherd. Die Körper, die sie unterwegs gefunden haben, sahen schon merkwürdig aus. Verformt und verwachsen, als ob irgendwelche Geschwüre unter der Haut wuchern. Die meisten sind wohl erschlagen worden oder man hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Aber im Lager waren viele noch am Leben, obwohl auch schon völlig entstellt. Aber anders als bei der Faulseuche oder ähnlich widerlichen Krankheiten. Die Körper waren nicht verfault, jedenfalls nicht so. Sie waren verkrümmt und geschwollen, so wie die Beulenkrankheit die Leute manchmal zurichtet, wenn sie das Pech haben, so lange zu überleben.

Wer nicht tot war, hat sich in seinem Dreck gewunden, zwischen den Toten und Verwesenden. Der Kommandant ist gerade so weit herangeritten, um sich das aus der Ferne mit eigenen Augen anzuschauen. Dann hat er das Lager eine Stunde lang von Weitem mit Bögen beschießen lassen, bis ihnen die Pfeile ausgegangen sind. Danach waren wohl alle tot, hat sich ja keiner mehr wehren können. Anschließen hat er so viel Öl aus der Stadt holen lassen, wie er bekommen konnte. Sie haben ein paar primitive Schleudern aufgebaut und das Zeug in das Lager geworfen, bevor sie es mit Brandpfeilen entzündet haben. Ich habe mich später erkundigt, das waren mehrere tausend Schläuche Öl, die sie da rausgebracht haben. Die Steppe muss tagelang gebrannt haben.«

»Und das soll geholfen haben?«, murmelte Shaya skeptisch. Der Gedanke an eine Seuche ließ sie erschaudern. »Wenn die Leute so entstellt waren, wie du gesagt hast, kommt das bestimmt nicht vom Leichenfressen. Und das ist auch nichts, was sie sich in den Dörfern bei uns holen konnten. Wenn man schlechtes Fleisch isst, kann man davon sterben, aber man bekommt keine Geschwüre.«

Der dicke Mann zuckte mit den Schultern. »Ich glaube auch nicht, dass sie alle deswegen krank geworden sind. Diese Viecher sind es doch gewohnt, in ihrer eigenen Scheiße zu liegen und ihre Toten zu fressen. Wenn du mich fragst, haben die irgendeine götterverdammte Seuche aus ihren unheiligen Dschungeln tief im Süden hier eingeschleppt. Aus dem Land, wo sie mit Schaitan und seinen Dämonen hausen, weit hinter Sholah’aris. Wie dem auch sei, jedenfalls hat der Kommandant der Horde ihnen ihr letztes, flammendes Grab beschert. Insgesamt haben diese dreckigen Tiere siebzehn Dörfer zerstört. Verbrannt und entvölkert. Es wird nie jemand wissen, wie viele Menschen sie dabei ermordet und verschleppt haben. Zum Teil werden sie aufgefressen worden sein, der Rest hat sich mit der Krankheit angesteckt und war am Ende wohl nicht mehr von den Namenlosen zu unterscheiden.«

 

Er senkte die Stimme und trat einen halben Schritt näher an sie heran, wobei er immer noch auf einen gewissen Abstand achtete, damit sie nicht zurückwich. »Das Schlimmste daran ist, dass niemand weiß, was für eine Seuche oder Krankheit das ist. Man hat sich zwar vom Lager ferngehalten, weil der Kommandant sofort richtig reagiert hat und offenbar ein vorsichtiger Mann ist, aber das ist auch schon alles. Davor waren sie tagelang auf der Spur der Horde. Sie haben tagelang Leichen gefunden und was sie mit denen gemacht haben.« Er zuckte mit den Schultern. »Da hört man von einem das, von dem anderen jenes. Mal hat man sie angeblich begraben, mal verbrannt. Wieder einer erzählt, und das scheint mir am wahrscheinlichsten, man habe sie einfach liegengelassen. Und Schaitan soll mich holen, wenn niemand den einen oder anderen Körper von denen angefasst hat. Zumindest, bevor sie anfingen von irgendetwas entstellt auszusehen. Vor einem verwesenden Körper allein hat von den hartgesottenen Kerlen keiner Angst. Wenn das, was die Namenlosen hatten, ansteckend ist, dann Gnade uns Sholah 'aris.«

»Ich nehme an, die Gerüchteküche brodelt. Wundert mich, dass noch keine Panik ausgebrochen ist«, meinte Shaya und ließ den Blick über die Hafenanlage schweifen. Ein hektisches, geschäftiges Treiben, das sich in nichts von dem unterschied, dass sie inzwischen von diesem Ort gewohnt war.

»Sie brodelt wild, aber das ist vermutlich auch der Grund, warum bislang nichts passiert ist. Sie brodelt nämlich so wild, dass selbst den zahllosen Idioten klar ist, dass das meiste davon dummes Gewäsch ist.«

»Dann muss es sehr wild sein«, sagte Shaya und verzog das Gesicht. Sie musste daran denken, wie ihr Onkel die Geschichten über verderbte Tiere, die Jagd auf Menschen machten, ebenfalls als Ammenmärchen von Betrunkenen abgetan hatte. Ihn und beinahe auch sie selbst hatte diese Fehleinschätzung das Leben gekostet. Manchmal waren die Schauergeschichten wahr, so unglaubwürdig sie einem auch erscheinen mochten. Manchmal war die Welt so wahnsinnig wie ein Schreckgespenst.

»Ich habe schon gehört, dass die Kranken in dem Lager mit Schuppen bewachsen waren und ihnen Raubtierzähne aus den Mündern standen«, gab der Händler mit einem schiefen Lächeln zurück. »Und das sie einige der unaufmerksamen Späher geschnappt und aufgefressen hätten, bevor sie erledigt wurden. Vermutlich kursieren auch Gerüchte, dass ihnen dritte Augen aus der Stirn und Tentakel aus dem Arsch gewachsen sind. Tatsächlich sind diese Geschichten allesamt frei erfundener Schwachsinn. Es ist niemand der Expedition so nahe an dem Lager gewesen. Nachdem die erste Spähertruppe, mit dessen Mitglied ich gesprochen habe, dem Kommandant den Bericht geliefert hat, ist keine halbe Stunde vergangen, bis er sich selbst ein Bild von der Lage gemacht hat. Danach ist niemand näher als auf Bogenreichweite an den Platz herangekommen.

Als sie angefangen haben, auf die Überlebenden zu schießen, wollten natürlich ein paar abhauen. Viele waren es wohl nicht mehr, die noch gehen oder auch nur kriechen konnten. Sie sind wie alle anderen unter den Pfeilen gefallen, die gut eine Stunde lang zwischen die Lagerfeuer geregnet sind. Außerdem hat der Kommandant ein paar Dutzend berittene Bogenschützen weiträumig um das Lager herumreiten lassen. Die haben jeden erledigt, der in eine andere Richtung wegwollte. Es war helllichter Tag und die Kranken konnten kaum noch laufen. Da ist keiner rausgekommen. Und niemand war so dumm, zu nahe ranzugehen. Wenn sich wirklich jemand von der Expedition mit etwas angesteckt haben sollte, dann muss es unterwegs passiert sein. Als sie die ersten Leichen auf dem Weg gefunden haben. Aber da war die Krankheit vielleicht noch nicht so weit fortgeschritten. Die sind ja offenbar alle getötet worden, und nicht langsam an was auch immer verrottet.

Aber wer mag das schon wissen? Für eine echte Panik ist das alles zu vage, aber in Aufregung sind viele Leute hier, das kann ich dir sagen. Vor allem, weil niemand weiß, was diese Horde von Irren hierher getrieben hat. Vielleicht ja genau die Seuche, die sie letztendlich alle hat verrecken lassen. Was, wenn in ihren Dschungeln gerade überall so eine Krankheit wütet? Das kann nur ein großer Stamm gewesen sein. Wo die sind, sind vielleicht noch mehr. Jeden Moment kann die nächste Welle von denen heranspülen, und das macht mir persönlich viel mehr Sorgen als irgendeine Seuche.«

Er zuckte mit den feisten Schultern, was seinen speckigen Oberkörper hüpfen ließ. »Aber was soll es, das Geschäft muss weitergehen. Was bringst du mir Schönes?«

»Das Übliche«, erwiderte Shaya geistesabwesend.

»Zumeist Stoffe, aber auch Eisenwerkzeuge und ein paar andere Dinge. Warum schaust du dich nicht einfach an Bord um? Ich möchte einen Moment am Kai entlanggehen und mir die Beine vertreten. Treffen wir uns in einer Stunde bei dir in der Handelsstube?«

Pultiko nickte und grinste, dann machte er sich in seinem Watschelgang auf den Weg zur Windpeitsche. Er schien hocherfreut darüber zu sein, dass sie ihm so viel Vertrauen entgegenbrachte, ihn zum ersten Mal auf das Schiff zu lassen. Und dazu noch, ohne darauf zu bestehen, ihn zu begleiten. Sie suchte mit den Augen das Deck ab, bis sie den Mann gefunden hatte, der so etwas wie der erste Maat war. Er schaute in die Richtung, aus welcher der fette Händler auf das Schiff zukam, und erwiderte dann ihren Blick. Sie machte mit der Hand ein Zeichen und nickte, dann wandte sie sich ab und schritt langsam den Kai entlang.

Die Namenlosen waren tot. Alle vergangen, wie Okatoh, Kanao und die anderen Dorfbewohner. Wie die Männer, die sie verstümmelt und geschändet hatten. Jetzt war das letzte imaginäre Band, das sie noch mit ihrem alten Leben und dem Festland verbunden hatte, durchtrennt.

Die Erleichterung, die sie zu spüren gehofft hatte, blieb jedoch aus. Sie fühlte nicht mehr als eine schale Genugtuung. Die Bedrohung für Umbrahope und ganz Umbrakali, die aus dem Süden drohte, berührte sie kaum. Die Stadt war für die Flotte wichtig um Beute umzuschlagen und zu handeln, aber auch das war ihr gleichgültig. Schanga, die in der ersten Zeit nach ihrem Erwachen aus ihrem komaartigen Heilschlaf ihre engste Bezugsperson gewesen war, entfremdete sich mit jeder Woche mehr von ihr. Aber nicht nur von ihr, und das war es, was ihr wirklich Sorgen machte.

Die Königin der Piraten schlief schlecht und träumte offenbar grauenvolle Dinge, die sie auch im wachen Zustand heimsuchten. Irgendetwas schien ihren Geist mehr und mehr zu verwirren, und mehr als einmal hatte Shaya sie dabei ertappt, wie sie Dinge vor sich hinmurmelte. Als spräche wie mit unsichtbaren Stimmen, wobei sie allerdings eine Sprache verwendete, die Shaya noch nie gehört hatte. Diese Vorgänge empfand sie als beängstigender, als jede Seuche oder Horde aus dem Süden es sein konnte. Sie hatte behutsam mit Belandros darüber gesprochen und er teilte ihre Sorge. Dem Eunuchen begann Shaya in gleichem Maße mehr Vertrauen zu schenken, wie Schanga ihr entglitt. Sie fragte sich gelegentlich, ob diese Entwicklungen zusammenhingen. Traute sie ihm nur, weil sie Angst hatte, mit Schanga ihre einzige Bezugsperson zu verlieren? Brauchte sie nach allem, was sie erlebt hatte, immer noch einen Ersatz für ihren Onkel? Aber was, zum Schaitan, spielte das schon für eine Rolle. Ihr Leben bestand ohnehin nur noch aus dem Überleben von Tag zu Tag.

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