Letzter Sommerabend am Meer

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Kapitel 4

Es kam nicht oft vor, dass Marie Janssen von allein aufwachte. Wenn der Wecker sie nicht aus dem Schlaf riss, war es Nele, die an ihrem Bett stand und sie am Ärmel zupfte. Es war ihr nicht gelungen, ihrer Tochter beizubringen, sich zuerst bei ihrem Vater bemerkbar zu machen. Felix schlief gewöhnlich tief und fest, wenn es für sie Zeit wurde, aufzustehen. Sie gönnte ihm den Schlaf, denn er hatte oft am Abend Termine. Wenn er über Sitzungen kommunaler Gremien oder Parteien berichten musste, konnte es Mitternacht werden.

Doch heute war das Bett neben Marie leer. Das Fenster des Schlafzimmers stand offen, draußen zwitscherten die Vögel und der blaue Himmel versprach einen schönen Tag. Aus dem Erdgeschoss drangen vertraute Geräusche. Offenbar bereitete Felix das Frühstück vor und Nele erzählte dazu Geschichten. Sie warf einen Blick auf den Radiowecker und erschrak. Die Ziffern zeigten späten Vormittag an. Doch dann wurde ihr bewusst, dass sie heute frei hatte, endlich ein paar Überstunden ausgleichen konnte. Ihre Tochter musste nicht in den Kindergarten, Felix hatte seinen freien Tag, er musste nicht in die Redaktion und sie nicht zum Dienst ins Kommissariat. Voller Vorfreude auf einen entspannten Tag schwang sie sich aus dem Bett.

Der erste Blick in den Spiegel war nicht sonderlich erhebend. Noch ließ sich mit Pflege und Kosmetik ein akzeptables Ergebnis erzielen, aber die Anzeichen alternden Bindegewebes waren nicht zu übersehen. Kritisch beäugte sie die Fältchen an Augen und Mund. Manchmal tauchten über Nacht neue Linien auf. Zum Glück war das heute nicht der Fall. Aber aufzuhalten waren sie nicht. Während sie mit Routine ihre Morgentoilette erledigte, dachte sie daran, dass sie nur noch zwei Jahre bis zu ihrem vierzigsten Geburtstag hatte. Dann würde sie unweigerlich in den Bereich der Lebensmitte vorrücken.

Unwillig schüttelte sie den Kopf, verbannte die unerfreulichen Gedanken und konzentrierte sich auf die Frage, wie sie den Tag mit Mann und Tochter verbringen würde. Nele würde wahrscheinlich zum Strand wollen. Und Felix? Was wäre ihm lieber? Meer oder Garten? Sie selbst war hin- und hergerissen. Heiße Sommertage waren selten, die Gelegenheit, einen ganzen Tag am Sandstrand in Altenbruch oder Döse, Duhnen oder Sahlenburg zu verbringen, ebenfalls. Also sollten sie die Chance nutzen. Andererseits war Hochsaison. Zu den Urlaubern kamen Tagesgäste, deren Autos die Straßen und Parkplätze verstopften und die alle Strände bevölkerten. Ruhiger und entspannter wäre es, zu Hause in der Freiherr-vom-Stein-Straße zu bleiben. Nele hätte ihr Planschbecken im Garten, sie und Felix könnten das Frühstück zu einem Brunch ausdehnen, später im Schatten der Bäume einen kühlen Wein genießen. Eine verlockende Vorstellung.

Inzwischen zeigte der Spiegel ein zufriedenstellendes Ergebnis ihrer kosmetischen Bemühungen, sodass sie gut gelaunt das Bad verließ. Auf der Treppe wehte ihr der Duft von Kaffee und frischen Brötchen entgegen, und als sie auf die Terrasse trat, fand sie neben dem gedeckten Tisch zwei strahlende Gesichter vor, die ihr erwartungsvoll entgegenblickten.

»Was für eine schöne Überraschung!«, rief sie, umarmte Mann und Tochter und ließ sich auf ihrem Platz nieder.

»Alles fertig«, krähte Nele. »Du musst gar nichts machen, Mama.«

»Das habt ihr aber toll hingekriegt«, lobte Marie. »Kaffee gibt’s auch schon?«

»Selbstverständlich.« Felix schenkte ihr ein und deutete zum Himmel. »Heute bleibt es sonnig und warm. Bis dreißig Grad werden erwartet. Wir können den ganzen Tag draußen verbringen.«

Marie lehnte sich zurück, schloss die Augen und schnupperte an ihrem Kaffee. Ich glaube, dachte sie, ich möchte heute hierbleiben. Ich muss nur Felix davon überzeugen, dass er das auch möchte. Dann kann ich die Entscheidung ihm überlassen. »Du hast Recht«, murmelte sie. »Ich habe richtig guten Appetit.«

Eine halbe Stunde später warf sie den ersten Köder aus. »Was für ein herrlicher Tag! Ich könnte hier noch stundenlang sitzen und die Ruhe genießen. Vielleicht gönnen wir uns später ein Glas Wein. Oder ein Eis. Oder beides?«

»Ich will Stracciatella«, rief Nele.

»Hier will keiner was«, korrigierte Felix. »Wer etwas möchte, sagt außerdem bitte.«

»Ich möchte bitte Stracciatella-Eis«, erklärte seine Tochter rasch, strahlte ihren Vater aus großen blauen Augen an und fügte hinzu. »Bitte, bitte, Papa.«

Felix lachte. »Das klingt viel schöner. Also gut. Machen wir uns einen faulen Tag!« Er wandte sich an Nele. »Und für dich stellen wir das Planschbecken auf.«

In das zustimmende Jauchzen seiner Tochter mischte sich die Titelmelodie einer alten Krimiserie. Dazu vibrierte Maries Smartphone auf der Tischplatte. »Ist das nicht aus Derrick?«, fragte Felix verblüfft.

Marie nickte griff nach dem Telefon. »Mein Kollege Jan Feddersen. Warum der heute anruft …« Sie zuckte mit den Schultern und nahm das Gespräch an. »Hallo, Jan, hast du an diesem schönen Sommertag nichts Besseres zu tun, als deine Kollegin zu behelligen?«

»Es tut mir wirklich leid, Marie«, antwortete Jan. »Ich weiß, dass du heute einen freien Tag hast. Will dich nur kurz über einen Todesfall mit unklarer Ursache informieren. Du musst nicht kommen. Ich mache das heute auch gern mit den Kollegen von der Tatortgruppe. Aber es ist unser Fall. Und wie mir einer von ihnen geflüstert hat, könnte darin eine gewisse Brisanz stecken. Wieso, hat er nicht gesagt. Das Opfer ist ein gewisser … Ralf Börnsen, Inhaber des Hotels Alte Liebe.«

»Ach du Scheiße«, entfuhr es Marie. Entschuldigend sah sie Felix an.

»Scheiße sagt man nicht«, trompetete Nele.

Marie nickte ihr zu und stand auf. Während sie ins Haus eilte, erklärte sie Jan den Hintergrund. »Die Frau unseres Staatsanwalts ist eine geborene Börnsen. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, der Hotelier ist … war der Schwager von Krebsfänger. Da wird Kriminalrat Lütjen ordentlich Druck machen. Was ist denn überhaupt passiert?«

»Der Mann ist vom Dach seines Hotels auf die Straße gestürzt. War sofort tot. Wenn er nicht von sich aus gesprungen ist, muss jemand nachgeholfen haben. Die Kollegen von der Spurensicherung sind schon bei der Arbeit.«

»Okay.« Marie atmete tief durch. »Ich komme.«

»Musst du wirklich nicht«, wiederholte Jan. »Aber ich würde mich natürlich freuen. Der Tatort ist …«

»Ich weiß«, unterbrach Marie ihren Kollegen. »In dem Hotel hatten wir schon zu tun. In zwanzig Minuten bin ich da.«

»Super! Bis gleich!« Jan Feddersen klang erleichtert. Marie lächelte unwillkürlich. Ihr Kollege war der typische Kerl wie ein Baum und trat manchmal wie ein Macho auf. Als er vor drei Jahren die Nachfolge von Maries langjährigem Kollegen Konrad Röverkamp angetreten hatte, war sie dem Neuen gegenüber skeptisch gewesen. Inzwischen hatte sie ihn schätzen gelernt, denn im Grunde war er ein warmherziger Mensch, der anfängliche Unsicherheiten hinter großspurigem Auftreten zu verbergen gesucht hatte.

»Es tut mir leid«, sagte sie, als sie auf die Terrasse zurückkehrte. »Wir haben einen Fall, um den ich mich kümmern muss.«

Mit großen Augen sah Felix sie an. »An deinem freien Tag?«

»Ich will nur sehen, was passiert ist.«

»Du willst ins Kommissariat?«

Marie schüttelte den Kopf. »Zum Hotel Alte Liebe. Da ist …« Sie brach ab und wandte sich an ihre Tochter. »Um dein Eis kümmert sich Papa. Ich muss leider weg.«

»Das macht nichts«, verkündete Nele gutmütig. »Hauptsache Stracciatella.«

»Also gut.« Marie wandte sich zum Gehen. »Macht es euch nett! Ich ziehe mich um und nehme den Roller. In zwei bis drei Stunden bin ich wieder zurück.«

Ihr Mann folgte ihr ins Haus. »Was ist passiert?«, flüsterte er, als sie außer Hörweite ihrer Tochter waren.

»Der Chef des Hotels ist anscheinend vom Dach des Hauses gestürzt. Wir müssen klären, ob Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden kann.«

Felix war elektrisiert. »Ralf Börnsen? Umgebracht? Krass!« Er warf einen Blick zur Terrasse. »Was für eine Geschichte! Da muss ich hin.«

»An deinem freien Tag?«, fragte Marie ironisch. »Mit deiner Tochter auf dem Rücksitz zum Tatort? Wobei wir ja noch gar nicht wissen, ob es sich um einen handelt. Ich glaube, es geht los. Du bleibst schön hier. Morgen kannst du dich mit Anne Lüken in Verbindung setzen. Dann wissen wir auch schon mehr.«

»Wenn eure Pressesprecherin von den Ermittlungen berichtet, erfahren alle Medien gleichzeitig davon. Ich möchte aber die Geschichte morgen schon im Blatt haben.«

»Meinetwegen kannst du eine Kollegin oder einen Kollegen anrufen und zum Hotel schicken. Aber bitte frühestens in drei Stunden. Ich möchte nicht, dass uns Zeitungsreporter vor den Füßen rumlaufen.«

»Ich würde aber lieber selber … Vielleicht kann ich Nele zu deinen Eltern nach Otterndorf …«

Marie seufzte. »Dann musst du sie aber vorher anrufen.«

»Das mache ich natürlich.« Felix küsste Marie auf die Wange. »Und du – pass bitte gut auf dich auf! In den Kurgebieten ist zurzeit viel Verkehr.« Er eilte zurück auf die Terrasse. »Nele«, rief er, »was hältst du davon, wenn wir Oma und Opa besuchen?«

*

Marie war froh, mit dem Motorroller fahren zu können. Sie genoss den Fahrtwind, fuhr an den Fahrzeugen vorbei, die im Stau standen, und kam ohne Verzögerung bis zur Konrad-Adenauer-Allee. Hier gab es, wie so oft, Chaos vor der Ampel zur Deichstraße, weil ortsunkundige Autofahrer sich falsch eingeordnet hatten, in letzter Sekunde die Spur wechseln wollten und damit den Verkehrsfluss blockierten. Sie wich kurzerhand über den leeren Fußweg aus und erreichte rasch die Poststraße. Hier ließ der Verkehr etwas nach.

 

Als sie die Lettow-Vorbeck-Straße passierte, ging ihr der Streit um die Straßennamen in Cuxhavens Afrikaviertel durch den Kopf. Die Namensgeber Lettow-Vorbeck, Leutwein, Wißmann und Lüderitz erinnerten an ein dunkles Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte während der Kaiserzeit. In anderen Städten waren Straßen deswegen bereits umbenannt worden. Einige Cuxhavener hatten dies ebenfalls gefordert, andere sich für die Beibehaltung ausgesprochen.

Vor dem Hotel Alte Liebe hatten die Kollegen der Tatortgruppe eine Absperrung errichtet und ein Zelt aufgebaut. Als Marie darauf zuhielt, bedeutete ihr ein uniformierter Kollege mit heftigen Armbewegungen, den Bereich zu umfahren. Sie nickte ihm freundlich zu, ließ ihr Zweirad direkt vor ihm ausrollen, stellte es ab und nahm den Motorradhelm vom Kopf. Die verärgerte Miene des Uniformierten wandelte sich zu einem freundlichen Ausdruck mit einer Spur Anerkennung. »Moin, Frau Kommissarin. Ich habe Sie gar nicht erkannt.«

»Oberkommissarin«, korrigierte eine Stimme hinter ihm. »So viel Zeit muss sein.« Jan Feddersen wandte sich an Marie. »Schön, dass du da bist.« Er deutete zu dem provisorischen Zelt. »Komm! Die Kollegen von der Kriminaltechnik sind hier unten fast fertig, der Notarzt ist schon wieder weg.«

Sie folgte Feddersen hinter die Zeltplane. »Und? Gibt es schon nennenswerte Erkenntnisse?«

»Na ja, nicht viel. Fest steht nur die Todesursache. Sturz aus der Höhe. Wenn er nicht selbst gesprungen ist, muss Börnsen direkt am Geländer gestanden und der Täter ihm einen kräftigen Stoß gegeben haben.«

»Oder die Täterin«, wandte Marie ein und wappnete sich innerlich für den unvermeidlichen Anblick, der sich ihr gleich bieten würde. Noch lag der Tote unter einer Plane.

»Täterin? Da bin ich eher skeptisch. Jemand muss viel Kraft oder viel Schwung eingesetzt haben, um ihn über den Sims zu befördern. Es gibt keine Abwehrspuren.« Feddersen beugte sich hinunter. »Soll ich?«

Marie zog ein paar Einmalhandschuhe aus der Tasche, streifte sie über und nickte.

Vorsichtig zog Jan die Plane zur Seite. Der Blick auf die Leiche war weniger erschreckend, als sie angenommen hatte. Börnsen trug einen hellen Anzug ohne Krawatte und lag auf dem Rücken, die Arme waren ausgebreitet. Sein Gesicht war kaum verletzt, die Augen geschlossen. Unter seinem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet. Sie war so klein, dass ein unbedarfter Betrachter sie leicht hätte übersehen können. Im ersten Moment wirkte der Tote, als schliefe er. Als Feddersen die Plane vollständig zur Seite zog, wurden Börnsens grotesk verzerrte und offensichtlich mehrfach gebrochene Beine sichtbar.

»Okay.« Marie atmete tief durch, beugte sich hinab, griff nach den Händen des Toten und betrachtete sie. »Ich sehe auch keine offensichtlichen Hinweise auf Abwehrverhalten. Die Fingernägel sind sauber.« Sie richtete sich auf. »Auf das Ergebnis der Obduktion bin ich schon jetzt gespannt. Krebsfänger wird nicht begeistert sein, aber an der rechtsmedizinischen Untersuchung der Leiche seines Schwagers kommt er nicht vorbei. – War der Fotograf schon hier?«

Ihr Kollege breitete die Plane über den Toten und deutete nach oben. »Er ist jetzt auf dem Dach. Da oben arbeitet auch die Spusi noch. Wir schauen uns das gleich zusammen an.«

Der Weg zum Fahrstuhl führte sie durch die Hotelhalle. Marie sah sich aufmerksam um. »Völlig normaler Betrieb«, stellte sie fest. »Das Management ist zu bewundern. Die scheinen es geschafft zu haben, die Gäste von dem Ereignis abzuschirmen.«

Eine Angestellte in den Farben des Hotelpersonals kam ihnen entgegen. Südländischer Typ in Maries Alter, mit dunklen Augen und schwarzem Haar, das streng nach hinten gebunden war, aber auffallend heller Haut. Sie lächelte verbindlich, wurde aber gleich wieder ernst. »Guten Tag. Mein Name ist Joana Santos. Direktionsassistentin. Was kann ich für Sie tun?«

»Feddersen, Kriminalhauptkommissar«, antwortete Jan. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Marie. »Das ist meine Kollegin, Kriminaloberkommissarin Janssen. Wir müssen uns später noch mit Ihnen unterhalten. Es gibt eine Reihe von Fragen, die sich auf die letzten Stunden von Herrn Börnsen beziehen. Tagesablauf, Telefonate, sonstige Kontakte, Besucher.«

»Und natürlich auf das familiäre und geschäftliche Umfeld«, ergänzte Marie.

»Selbstverständlich stehe ich Ihnen zur Verfügung. Wir alle sind entsetzt und erschüttert und werden alles tun, um Sie zu unterstützen. Uns liegt natürlich sehr daran, dass unsere Gäste in ihrem Wohlbefinden nicht durch polizeiliche Ermittlungen beeinträchtigt werden. Ihre Kollegen waren so freundlich, sich diskret zu verhalten. Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie nach oben. Sie wollen doch sicher aufs Dach?«

»Allerdings.« Jan Feddersen nickte nachdrücklich.

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Es gibt einen Lift mit direktem Zugang zum Penthouse.«

Der Anblick der sonnendurchfluteten Wohnung der Börnsens nötigte Marie einen anerkennenden Blick ab. »Was für ein Luxus. Und keiner hat etwas davon.«

»Wieso? Gibt es keine Angehörigen?«

»Doch. Eine Frau und einen Sohn. Die Frau lebt nicht in Cuxhaven, der Sohn ist 2002 unter mysteriösen Umständen verschwunden. Das war vor meiner Zeit. Unser früherer Chef Christiansen hat uns davon berichtet. Damals ist ein junger Mann ums Leben gekommen. Börnsen junior und seine Freundin sind mit ihm auf einem Segelboot unterwegs gewesen. Die Staatsanwaltschaft ist von einem Unfall ausgegangen, bei dem das Boot gesunken und die beiden anderen ebenfalls ertrunken sind. Sie hat das Verfahren eingestellt. Christiansen war damit nicht zufrieden, hat aber keinen Beweis für eine andere Version gefunden.«

»Sind Christiansen und dein ehemaliger Kollege Röverkamp nicht als Berater bei der neuen Ermittlungsgruppe, die sich um Cold Cases kümmert?«

»Stimmt. Wir können ja mal fragen, ob sie den alten Fall noch mal aufrollen möchten. So wie ich Konrad kenne, macht er das bestimmt gerne. Vor allem, wenn er von dieser Geschichte hört.«

Sie umrundeten die Penthouse-Wohnung und erreichten die kleine Gruppe der Kriminaltechniker, die in ihren weißen Schutzanzügen auf der Seeseite hantierten. Der Fotograf packte gerade seine Kamera ein.

»Moin«, begrüßte sie ein Kollege aus der Kriminaltechnik, Hauptkommissar Damme. »Ihr habt wohl an einem warmen Sommertag auch nichts Besseres zu tun, als auf Hoteldächern herumzusteigen.«

»Moin«, erwiderten die Ankömmlinge wie aus einem Mund. »Wenn ihr was für uns habt«, ergänzte Marie, »hat es sich gelohnt.«

»Na ja.« Der Kriminaltechniker schob die Kapuze seines Anzugs zurück und kratzte sich am Hinterkopf. »Die Spurenlage ist bescheiden. Fingerabdrücke – ja, an der Brüstung. Hauptsächlich vom Verstorbenen. Und einige andere, die wir natürlich noch nicht zuordnen können. Ein paar Fasern am Geländer, wahrscheinlich von Börnsens Anzug. Kaum Fußabdrücke auf den Fliesen davor. Die wenigen sind nicht verwertbar, weil der Untergrund aus poliertem Marmor besteht und auf der trockenen Oberfläche nicht viel haften bleibt.« Er deutete auf das Geländer. »Die Brüstung entspricht nicht den Vorschriften. Sie müsste mindestens eins-zehn haben, hat aber nur neunzig. Bei einem Meter zehn hast du die Oberkante am Bauchnabel. Da kriegt dich so schnell keiner drüber. Bei neunzig Zentimetern sieht das anders aus. Börnsen dürfte über eins achtzig gewesen sein, der hatte das Ding auf Hüfthöhe oder sogar noch darunter. Bei den Proportionen verlierst du sofort das Gleichgewicht, wenn dich einer gegen das Geländer schubst.«

»Wie ist das möglich?«, fragte Marie. »Ich meine, dass die Brüstung so niedrig war. Dafür gab’s doch sicher keine Baugenehmigung.«

»Seht ihr die Abdeckung da hinten?« Der Kriminaltechniker deutete auf eine mehrfach verzurrte graue Plane in einer Nische der Hauswand. »Wahrscheinlich sollten die fehlenden zwanzig Zentimeter schon längst ergänzt werden. Da liegen die Teile dafür. Offenbar schon länger.« Er wandte sich der gläsernen Front des Penthouses zu. »Ich vermute, die Herrschaften wollten sich den Blick auf die Nordsee nicht durch ein höheres Geländer verderben.«

»Tödliche Aussicht«, kommentierte Jan Feddersen. »Aber für den baulichen Mangel kann man wahrscheinlich niemanden mehr zur Rechenschaft ziehen. Der Verantwortliche liegt unten auf dem Pflaster.«

»Ein Unfall war es jedenfalls nicht«, ergänzte Damme. »Ein Mann, der alle Sinne beisammenhat, fällt nicht über eine ihm vertraute Brüstung. Selbstmord halte ich auch für ausgeschlossen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Penthouse-Wohnung. »Drinnen haben wir eine Kaffeemaschine gefunden. So ein Vollautomat mit allem Chichi. Tolles Ding. Zwei Mahlwerke. Monitor, Milchaufschäumer. Für Espresso, Cappuccino, Latte macchiato und was auch immer. Der war eingeschaltet. Wer sich umbringen will, bereitet keinen Kaffee vor. Außerdem stand die Klappe vom Müllschlucker offen. Tolles Ding, der Abfall rauscht durch einen Schacht nach unten direkt in einen Container. Wir schauen da noch rein, dann seid ihr dran.« Grinsend breitete er die Arme aus. »Schätze, das wird eine schöne Aufgabe für euch. Womöglich müsst ihr in der Duhner Hotelmafia ermitteln. Da wünsche ich euch schon mal viel Spaß.«

»Danke«, brummte Jan Feddersen. »Gute Wünsche sind immer außerordentlich hilfreich. Noch besser wäre es, wenn wir bald eine Spurenakte bekämen, die konkrete Informationen enthält.«

Marie unterdrückte ein Schmunzeln. Zwischen Jan und dem Kriminaltechniker gab es immer wieder kleine Reibereien, für die jeder sachliche Grund fehlte. In Wahrheit ging es um Maries Freundin Anne, die Pressesprecherin der Cuxhavener Polizei. Jan hatte sich, als er im Fachkommissariat für Tötungsdelikte die Nachfolge von Konrad Röverkamp angetreten hatte, in Anne verguckt und sie angebaggert, obwohl sie mit Damme zusammen war. Zum Glück hatte sich alles rasch geklärt, aber Jan konnte seine Schwäche für die Pressesprecherin nicht verbergen, und wenn er und der Kriminaltechniker zusammentrafen, blitzte manchmal männliches Rivalitätsgehabe auf.

Damme unterbrach Maries Gedankenfluss. »Wir tun, was wir können. Und manchmal sogar ein bisschen mehr. Also fasst euch in Geduld!«

»Machen wir«, versicherte Marie. »Ohne euch wären wir ja aufgeschmissen.« Sie wandte sich an Jan. »Wir können hier ohnehin nichts mehr ausrichten. Lass uns nach unten gehen und mit der Direktionsassistentin sprechen.«

Joana Santos führte sie in einen modern eingerichteten klimatisierten Raum. »Das ist das Büro von Herrn Börnsen. Hier sind wir ungestört.« Sie deutete auf eine Sitzgruppe. »Lassen Sie uns dort Platz nehmen. Möchten Sie etwas trinken?« Hinter einer unsichtbaren Tür in der Wand, die sich plötzlich öffnete, kam eine Minibar zum Vorschein.

»Wasser wäre nicht schlecht«, antwortete Marie. Jan nickte. »Auf dem Dach war es ziemlich heiß.«

Marie beobachtete die Hotelangestellte, die mit geübten Griffen Gläser bereitstellte und kühles Mineralwasser einfüllte. Dem äußeren Anschein nach konnte sie aus Südeuropa oder Südamerika stammen. Große dunkle Augen, perfekt gezupfte Augenbrauen, volle, dezent geschminkte Lippen, hohe Wangenknochen. Ein Typ Frau, deren Äußeres sicher viele Männer ansprach.

»In welchem Verhältnis«, begann Marie, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, »stehen beziehungsweise standen Sie zu dem Verstorbenen?«

»Meine Arbeit«, führte Joana Santos aus, ohne eine direkte Antwort zu geben, »besteht hauptsächlich aus Leitungsaufgaben, die mir Direktor Börnsen aufträgt ... aufgetragen hat. Wobei ich weitgehend selbstständig entscheiden kann. Konkret geht es um Auslastung bei der Zimmerbelegung, zum Beispiel durch Akquisition neuer Gäste, um Beschwerdemanagement, innerbetriebliche Abläufe, Personaleinsatz und Budgetplanung.«

»Das scheint eine wichtige Position zu sein«, bemerkte Jan Feddersen. »Wie lange arbeiten Sie schon hier?«

Die Direktionsassistentin zögerte einen Moment. »Noch nicht so lange. Etwa drei Monate.«

»In der kurzen Zeit haben Sie sich offenbar das Vertrauen des Hotelchefs erarbeitet«, vermutete Marie.

»Ich hatte entsprechende Referenzen. Habe viele Jahre in großen Häusern in Lissabon und in Rio de Janeiro gearbeitet. Meine Eltern stammen aus Portugal. Aufgewachsen bin ich aber in Deutschland. Und ja, Herr Börnsen und ich haben gut harmoniert.«

»Auch privat?«, fragte Jan.

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